Année politique Suisse 2005 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Gerichte
print
Justizreform
Nach der Bereinigung der letzten Differenzen verabschiedete das Parlament in der Sommersession das revidierte Gesetz über das Bundesgericht und das neue Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht einstimmig. In der Frühjahrssession befasste sich der Ständerat mit der im Vorjahr vom Nationalrat beschlossenen neuen Fassung, welche sich auf den Zusatzbericht einer Arbeitsgruppe stützte [38]. Die kleine Kammer schloss sich weitgehend diesen Entscheidungen an. Dazu gehörte namentlich auch die lange umstritten gewesene Festlegung der Streitwertgrenzen für Zivilsachen. In der zweiten Runde der Differenzbereinigung ging es insbesondere noch um die Rekursmöglichkeiten bei der internationalen Rechtshilfe. Durchgesetzt hat sich die von Bundesrat und Ständerat vertretene Ansicht, dass in besonderen Fällen (z.B. wenn bei einer Auslieferung im Ausland die Todesstrafe droht) der Entscheid des Bundesstrafgerichts an das Bundesgericht weitergezogen werden kann [39].
Unmittelbar nach dem Abschluss der Parlamentsberatungen forderte Bundesrat Blocher das Bundesgericht auf, angesichts der beschlossenen Entlastungsmassnahmen Vorschläge für Kosteneinsparungen im Umfang von rund 20% zu machen. Formeller Anlass für diese Aufforderung war die Bestimmung der Zahl der Richter an dem organisatorisch um das Eidgenössische Versicherungsgericht erweiterten Bundesgericht. Darüber entscheidet zwar das Parlament, der Bundesrat muss dem Parlament aber einen Vorschlag unterbreiten. Gemäss dem neuen Gesetz kann die Zahl zwischen 35 und 45 variieren, aktuell sind es 41 Richter (30 beim Bundes- und 11 beim Versicherungsgericht). Bei den zwei Gerichten kam diese Aufforderung Blochers nicht gut an: Angesichts der Arbeitsüberlastung sei eine Reduktion der Richterzahl nicht möglich, und zudem sei es auch noch nicht klar, ob die vom Parlament beschlossenen Massnahmen Kosteneinsparungen zur Folge hätten. In einer gemeinsamen Erklärung gaben die Gerichte bekannt, dass sie in dieser Sache eine Zusammenarbeit mit dem Vorsteher des EJPD ablehnten; über allfällige Budgetkürzungen wolle man nur mit dem dafür allein zuständigen Parlament sprechen [40].
Das befristete Gesetz über den Aufbau des Bundesverwaltungsgerichts stiess auch im Nationalrat auf Zustimmung und wurde vom Parlament in der Frühjahrssession gutgeheissen [41]. In der Herbstsession wählte die Vereinigte Bundesversammlung die neuen 72 Richterinnen und Richter dieser Institution; zum Präsidenten wurde Hans Urech erkoren. Das Gericht, das weitgehend die bestehenden Verwaltungsrekurskommissionen ersetzt, wird seine Arbeit im Jahr 2007 aufnehmen. Standort wird vorerst Bern sein; der Umzug nach St. Gallen, wo zuerst ein neues Gebäude erstellt werden muss, ist für 2011 vorgesehen [42].
Im Juli gab der Bundesrat seinen Vorschlag für die Reorganisation der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft in die Vernehmlassung. Die bisherige Zweispurigkeit (administrative Aufsicht durch das EJPD, fachliche durch das Bundesstrafgericht) soll aufgehoben und die Kontrolle zur Gänze dem EJPD übertragen werden. Die mit den Vorarbeiten beauftragte Expertengruppe hatte im Vorentwurf zusätzliche Bestimmungen aufgenommen, um die Gefahr einer Einflussnahme der Regierung oder des Justizministers auf die Verfahren der Bundesanwaltschaft zu minimieren [43].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament eine Teilrevision des Anwaltgesetzes. Diese soll insbesondere dem Umstand Rechnung tragen, dass mit der Umsetzung der so genannten Bologna-Reform an den europäischen Hochschulen der Master-Abschluss das bisher geforderte Lizentiat ersetzt. Dieser Master ist neu die Voraussetzung für den Eintrag in ein kantonales Anwaltsregister. Für die Zulassung zu einem in der Schweiz zu absolvierenden Anwaltspraktikum, welches für den Registereintrag ebenfalls verlangt wird, soll ein juristischer Bachelor-Abschluss genügen [44].
 
[38] Siehe dazu SPJ 2004, S. 34.
[39] AB SR, 2005, S. 117 ff., 391, 552 f. und 664; AB NR, 2005, S. 640 ff. und 968; BBl, 2005, S. 4045 ff. und 4093 ff. Vgl. SPJ 2004, S. 34.
[40] NZZ, 27.6., 14.7., 15.7. und 22.7.05; SGT, 30.6.05; TA, 16.7.05. Zur Richterzahl und zur Unabhängigkeit des Bundesgerichts von BR und EJPD siehe auch Ulrich Zimmerli, „Direkter Zugang zum Parlament: Bundesrat Blocher ist nicht der Vormund des Bundesgerichts“, in NZZ, 12.8.05.
[41] AB NR, 2005, S. 57 ff. und 470; AB SR, 2005, S. 664; BBl, 2005, S. 2277 f. Vgl. SPJ 2004, S. 34.
[42] AB NR, 2005, S. 1541 ff.; Presse vom 6.10.05. Zum Neubau in St. Gallen siehe auch SGT, 8.10.05.
[43] Bund und TA, 30.6.05. Der SR überwies die vom NR im Vorjahr gutgeheissene Motion Hofmann (sp, AG) für eine Überprüfung der Aufsichtsstruktur der Bundesanwaltschaft ebenfalls (AB SR, 2005, S. 150 f.). Vgl. SPJ 2004, S. 36.
[44] BBl, 2005, S. 6621 ff.