Année politique Suisse 2005 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Allgemeine Fragen
2005 konnte das Schweizerische Gesundheitswesen den Kostenanstieg gegenüber früheren Jahren etwas abschwächen. Der Anstieg der Spitalkosten lag seit 1998 erstmals unter 4%, dafür nahmen die ambulanten Behandlungskosten überdurchschnittlich zu. Die privaten Haushalte wendeten rund 5% mehr auf als im Vorjahr. Mit +9,4% fiel diese Zunahme hauptsächlich im Bereich der Krankengrundversicherung (KVG) an. Gemäss BFS ist dieser Anstieg durch die Änderungen in der Verordnung über die Krankenversicherung aus dem Jahr 2004 begründet. Den Versicherten werde mehr Verantwortung abverlangt, insbesondere durch die Erhöhungen der Franchise von 230 auf 300 Fr. und des jährlichen Selbstbehalts von 600 auf 700 Fr. [1].
Eine Studie der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich kam zum Schluss, dass der Anstieg der Gesundheitskosten nicht eine Folge der zunehmenden Ärztedichte sei. Andere Faktoren (höhere Löhne, Alterung der Gesellschaft, gestiegene Erwerbsquote der Frauen) seien weit wichtigere Faktoren. Wie frühere Untersuchungen stellte aber auch die KOF-Studie einen Zusammenhang zwischen Ärztedichte und Kostenniveau in den einzelnen Kantonen fest [2].
Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Lebenserwartung der Bevölkerung nicht primär von den Ausgaben im Gesundheitswesen abhängt, sondern dass andere Faktoren den Gesundheitszustand stärker beeinflussen, nämlich neben der genetischen Veranlagung in erster Linie die Umwelt, das Bildungsniveau, die Arbeitsbedingungen und die sozialen Lebensumstände. Als Schweizer Novum will deshalb der Kanton Tessin wichtige Projekte, Programme und Gesetze einer Gesundheitsverträglichkeitsprüfung unterziehen. Ein erster wichtiger Test wird die Verkehrsplanung des Mendrisiotto sein [3].
Der fünfte schweizerische Ernährungsbericht zeigte, dass die Fettleibigkeit zu einem immer ernsteren Problem des Gesundheitswesens wird. Zwischen 1992 und 2002 stieg der Anteil der übergewichtigen Personen von 30 auf 37%. Gemäss den neuesten Daten sind 45% der Männer, 29% der Frauen und 20% der Kinder zu schwer, Tendenz weiter steigend. 250 000 Menschen sind zuckerkrank; diese Zahl nimmt jährlich um 10% zu. Zwischen 6 und 10% der Gesundheitskosten, das sind 3 bis 5 Mia Fr., entstehen durch falsche Ernährung. Diese und der Bewegungsmangel sind für etwa einen Drittel der Krebserkrankungen mitverantwortlich und rangieren somit auf gleicher Ebene wie die Schäden durch das Rauchen [4].
Eine im Vorjahr vom Ständerat angenommene Motion Heberlein (fdp, ZH) für dringende Reformen im Gesundheitswesen, wurde, da durch die anstehenden KVG- Revisionen obsolet geworden, vom Nationalrat abgelehnt. Eine analoge Motion der FDP-Fraktion wurde zurückgezogen [5].
Mit einer Motion seiner SGK, welche das Anliegen einer parlamentarischen Initiative Heim (sp, SO) aufnahm, beauftragte der Nationalrat den Bundesrat, für die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen zu sorgen. Eine erste wichtige Massnahme könnte die Schaffung eines zentralen Meldesystems für medizinische Fehler sein, wie sie insbesondere bei der Abgabe von Medikamenten immer wieder vorkommen. Der Bundesrat, der die Auffassung vertrat, die Qualitätssicherung sei in erster Linie eine Angelegenheit der Kantone und der Krankenversicherer, hatte die Motion nicht entgegen nehmen wollen. Der Ständerat formulierte die Motion um, so dass schliesslich auch der Bundesrat zustimmen konnte. Statt dem Bund die Verantwortung für die Qualitätssicherung zu überbinden, soll dieser sich lediglich in Zusammenarbeit mit den betroffenen Kreisen für die Umsetzung des Anliegens einsetzen [6].
Mit dem Inkrafttreten des neuen KVG 1996 wurde die Stiftung „Gesundheitsförderung Schweiz“ ins Leben gerufen. Deren Aktivitäten werden seither durch einen Zwangszuschlag auf den Krankenkassenprämien finanziert (jährlich rund 17,4 Mio Fr.). Die Tätigkeit der Stiftung war in den letzten Jahren immer wieder in die Kritik geraten, insbesondere auch von Seiten des Parlaments. Bundesrat Couchepin hatte deshalb eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben die nun zum Schluss kam, die Arbeit der Stiftung sei nach wie vor in fast allen Bereichen unzureichend. Sie verzettle sich in zu vielen kleinen Projekten, die ebenso gut von Kantonen oder Gemeinden unterstützt werden könnten. Der Nationalrat nahm dazu ein Postulat Humbel (cvp, AG) an, welches eine vermehrte Transparenz und Koordination bei Prävention und Gesundheitsförderung anregt; die SGK-NR reichte ebenfalls ein entsprechendes Postulat ein [7].
Auf den 1. Juli setzte der Bundesrat das im Dezember 2004 verabschiedete neue Sterilisationsgesetz in Kraft. Eingriffe, wie sie bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorkamen, und die nach heutiger Auffassung teilweise missbräuchlich erscheinen, sollen sich nicht wiederholen. Dauernd urteilsunfähige Personen dürfen künftig nur noch in Ausnahmesituationen und mit Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde sterilisiert werden [8].
Mit einer im Einvernehmen mit dem Bundesrat angenommenen Motion der FDP-Fraktion forderte der Nationalrat die Regierung auf, die im EJPD ursprünglich einmal begonnenen Expertenarbeiten für einen Bericht bezüglich der Regelung der Sterbehilfe in der Schweiz wieder aufzunehmen, und dem Parlament die entsprechenden Grundlagen zur Schliessung von Lücken im schweizerischen Recht zur Verfügung zu stellen [9].
Ab Spätsommer, als mit den ersten Fällen in der Türkei die aus Asien kommende Vogelgrippe Europa erreichte, begannen auch in der Schweiz die Diskussionen über eine mögliche Übertragung des Erregers auf den Menschen und die daraus resultierenden Gefahren einer Pandemie. Obgleich die Bundesbehörden, vorab BAG und BVET, die Risiken relativierten, wurde doch damit begonnen, ein „worst-case“-Szenario auszuarbeiten. Die Behörden gaben bekannt, dass für einen Viertel der Bevölkerung bereits ein einigermassen wirksames Gegenmittel zur Verfügung stehe; zudem werde der Bund im Ausland mittelfristig rund 200 000 Impfdosen einkaufen, um die besonders exponierte Bevölkerung (Landwirte, Medizinalpersonen) schützen zu können [10].
 
[1] Presse vom 4.3.06.
[2] Bund, 16.3.05.
[3] TA, 18.1.05.
[4] Presse vom 6.12.05. Ein Postulat Humbel (cvp, AG), welches eine strengere Deklarationspflicht für übermässig kalorienreiche Nahrungsmittel beantragte, wurde, obgleich der BR bereit war, den Vorstoss entgegen zu nehmen, von Egerszegi (fdp, AG) und Stahl (svp, ZH) bekämpft und deshalb im Berichtsjahr nicht behandelt (AB NR, 2005, S. 951).
[5] AB NR, 2005, S. 144 f.
[6] AB NR, 2005, S. 146 ff.; AB SR, 2005, S. 601 f. Dieser Auftrag könnte auch der 2004 ins Leben gerufenen und seither mit finanziellen Problemen kämpfenden „Stiftung für Patientensicherheit“ neuen Auftrieb geben (NZZ, 23.2.05; BaZ, 17.12.05).
[7] AB NR, 2005, S. 951. Po. SGK-N: 05.3474. Siehe zur Gesundheitsprävention auch unten, Teil I, 7d (Alterspolitik).
[8] NZZ, 20.6.05. Siehe SPJ 2004, S. 173.
[9] AB NR, 2005, S. 1506. In seiner Stellungnahme zur Motion verwies der BR auf den seit dem Sommer vorliegenden Bericht der nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Dieser verlangte eine staatliche Aufsicht für Sterbehilfeorganisationen, sprach sich gegen die Suizidbeihilfe für psychisch Kranke aus und forderte Heime und Spitäler zu klareren Regeln auf (NZZ, 12.7.05). Das Universitätsspital des Kantons Waadt ist das erste öffentliche Spital in der Schweiz, welches Freitodbegleitungen durch die Organisation „Exit“ zulässt (TG, 17.12.05).
[10] Presse vom 1.10., 12.10., 20.10., 22.10., 26.10., 9.12. und 10.12.05. Für die Massnahmen in der Landwirtschaft siehe oben, Teil I, 4c (Production animale).