Année politique Suisse 2005 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Die Delegiertenversammlung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (
SGB) beschloss einstimmig die Lancierung einer
Volksinitiative
„Für ein flexibles AHV-Alter“, welche eine Pensionierung ab 62 Altersjahren ohne Rentenkürzung ermöglichen will, wenn eine Erwerbstätigkeit aufgegeben wird. Möglich soll auch ein schrittweiser Altersrücktritt sein. Die Delegierten sprachen sich weiter dafür aus, dass bei hohen Einkommen die Frührente gekürzt werden kann. Grenzwert soll ein Lohn von mehr als dem Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden AHV-Einkommens sein (dieses beträgt zur Zeit 116 100 Fr.). Die vorgezogene Rente könnten auch in Teilzeit berufstätige Personen und aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuerte beanspruchen. Ein Antrag der SGB-Frauenkommission, die Frührente nicht an eine Erwerbstätigkeit zu knüpfen, wurde abgelehnt. Die Mehrkosten sollen durch eine Erhöhung der Lohnabgaben gedeckt werden. Im Initiativkomitee nahm auch alt Bundesrätin Dreifuss Einsitz
[5].
Oppositionslos schloss sich der Nationalrat einer Ständeratsmotion an, die mehr
Transparenz in die AHV-Finanzierung bringen will. Künftig sollen die für die AHV erhobenen Mehrwertsteuerprozente vollumfänglich in den AHV-Fonds fliessen. Heute behält der Bund 17% zurück, um seinen gesetzlichen Anteil an den Ausgaben der AHV zu decken. Im Gegenzug sollen die Bundesbeiträge entsprechend reduziert werden. Hingegen wurde eine weitere Motion der kleinen Kammer, welche Massnahmen zur langfristigen Sicherung des AHV-Fonds vorschlägt, da noch nicht ganz ausgegoren, lediglich als Postulat überwiesen
[6].
Obgleich sich das Parlament bei der gescheiterten 11. AHV-Revision (siehe unten) gegen eine sozial abgefederte Ausgestaltung der
vorzeitigen Pensionierung ausgesprochen hatte, ist das Anliegen in den Räten trotzdem nicht vom Tisch. Mit 86 zu 57 Stimmen lehnte der Nationalrat zwar wegen offener Finanzierungsfragen eine parlamentarische Initiative Rossini (sp, VS) ab, welche die Frühpensionierung an 40 Beitragsjahre koppeln wollte, nahm aber eine Motion seiner SGK an, die den Bundesrat beauftragt, bei der nächsten AHV-Revision eine Bestimmung zur Flexibilisierung des Rentenalters vorzulegen, die insbesondere die Beitragsjahre aufgrund von Erwerbstätigkeit (einschliesslich Erziehungs- und Betreuungsgutschriften) berücksichtigt. Der Ständerat stimmte ebenfalls zu, modifizierte aber den Auftrag an den Bundesrat zu einer blossen Prüfung
[7].
Nach dem Scheitern der 11. AHV-Revision in der Volksabstimmung vom 16. Mai 2004 beschloss der Bundesrat, den Umbau der 1. Säule der Alterssicherung in kleinen Schritten anzugehen. Ende Februar stellte er die wichtigsten Reformideen zur Diskussion. So soll das
Rentenalter der Frauen dem Niveau der Männer (65 Jahre) angeglichen werden. Zudem schlug er vor, die Renten nicht mehr im Zweijahresrhythmus der Teuerung anzupassen, sondern nur noch dann, wenn diese vier Prozent erreicht. Auch regte er an, nach einer Übergangsfrist die Witwenrenten für kinderlose Frauen abzuschaffen. Da die Erstauflage der 11. AHV-Revision unter anderem deshalb von der Linken erfolgreich bekämpft worden war, weil das Parlament auf die Einführung einer sozial abgefederten Frührente verzichtet hatte, präsentierte der Bundesrat nun ein neues Modell für eine
Überbrückungsrente für bestimmte Personenkategorien (beispielsweise Teilinvalide und ältere Arbeitslose). Damit erteilte er den Forderungen nach einem allgemein zugänglichen flexiblen Pensionierungsalter ohne Rentenkürzung eine klare Absage. Die neue Überbrückungsrente soll wie die Ergänzungsleistungen (aber grosszügiger ausgestaltet) aus allgemeinen staatlichen Mitteln und nicht über die AHV (d.h. durch Lohnabgaben) finanziert werden, um die Notwendigkeit eines Exports ins Ausland zu vermeiden. In einem zweiten Reformpaket sollten technische Verbesserungen bei der AHV, die in der 11. AHV-Revision nicht bestritten gewesen waren (beispielsweise die Aufhebung des Freibetrags für erwerbstätige Rentnerinnen und Rentner sowie die Erweiterung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften), wieder aufgenommen werden
[8].
In seiner gewohnt ungestümen Art wollte Bundesrat Couchepin diese 11. AHV-Revision „light“ im Schnellzugstempo durchziehen und lud deshalb Mitte April Kantone, Parteien und Verbände für Ende Mai zu einer konferenziellen
Vernehmlassung ein, welche die reguläre dreimonatige Vernehmlassung ersetzen sollte. Die Kantone reagierten mit Empörung auf dieses Ansinnen: Eine AHV-Revision sei ein zu gewichtiges Reformvorhaben, als dass auf eine umfassende Vorbereitung verzichtet werden könne. Die Grünen als erste, dann auch die CVP und die SP erklärten, die Konferenz boykottieren zu wollen, da wirklich keine Dringlichkeit bestehe; die SVP zeigte ebenfalls wenig Verständnis für das forsche Vorgehen Couchepins, einzig die FDP stellte sich hinter ihren Bundesrat. Angesichts dieser Widerstände verlängerte Couchepin die Vernehmlassungsfrist bis Ende Juli
[9].
In der schriftlichen Vernehmlassung stiessen die Vorschläge des Bundesrates auf allgemeine Kritik. SP, Grüne und Gewerkschaften lehnten die Revision als Leistungsabbau ab. Als inakzeptabel bezeichnete die Linke die Verlangsamung des Teuerungsausgleichs durch eine Inflationsschwelle: Leistungen, die bereits heute kein existenzsicherndes Ausmass hätten, dürften nicht derart weiter reduziert werden. Bei der Erhöhung des AHV-Alters der Frauen und der Neuregelung bei den Witwenrenten war die Ablehnung nicht ganz so kategorisch; als Voraussetzung dafür wurden jedoch die tatsächliche Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt sowie die Einführung eines flexiblen Rentenalters ohne Rentekürzung genannt.
Als eigentliche Knacknuss der Revision erwies sich die
Überbrückungsrente. SP und Grüne kritisierten, mit dieser werde eine Abkehr vom Sozialversicherungsprinzip in der AHV eingeleitet. Gemeinsam mit dem SGB warf die SP den Vorschlägen vor, sie würden nur zu einer Entlastung der Arbeitslosenversicherung, der IV und der Sozialhilfe führen und hätten nichts mit einer sozial ausgestalteten Flexibilisierung des Rentenalters zu tun. Auch bei den bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft stiess die Überbrückungsrente auf Widerstand, allerdings aus entgegengesetzten Gründen. Für die SVP war sie gar der Anlass, trotz der begrüssten Sparvorschläge die ganze Revision abzulehnen, da diese Rente einen unverantwortbaren Leistungsausbau darstelle. Nicht so weit gehen wollten FDP, CVP und die Wirtschaftsverbände. FDP und Economiesuisse kritisierten den vage formulierten Bezügerkreis, weshalb es fraglich sei, ob der angegebene Kreditrahmen von 400 Mio Fr. ausreichen könne. Die CVP hatte bereits bei früherer Gelegenheit erklärt, die Übergangsrente könnte „Gerechtigkeit schaffen“, doch dürfe sie nicht auf IV-Rentner und ausgesteuerte Arbeitslose beschränkt werden
[10].
Trotz dem geballten Widerstand hielt der Bundesrat an seinem Modell der Überbrückungsrente für über 62-jährige Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen fest. Bei der Aufhebung der Witwenrente für kinderlose Frauen krebste er zurück, was umso erstaunlicher war, als der Vorschlag in der Vernehmlassung mehrheitlich auf Zustimmung gestossen war. Ebenso verzichtete er teilweise auf die Teuerungsschwelle bei der Anpassung der Renten. Das Limit von vier Prozent soll nur gelten, falls der AHV-Ausgleichsfonds von heute 88% auf unter 70% einer Jahresausgabe fällt. Um unheilige Allianzen zwischen der Linken und der SVP zu verhindern, die allenfalls schon im Parlament zu einem Absturz der Neuauflage der 11. AHV-Revision führen könnten, beschloss der Bundesrat Ende Jahr, die beiden
Revisionspakete anders zu bündeln: Anstatt die Vorlage in eine Leistungs- und eine „technische“ Seite aufzuteilen, fasste er mit Ausnahme der Überbrückungsrente alle Neuerungspunkte (inkl. Erhöhung des Rentenalters der Frauen) in einer ersten Botschaft zusammen, während die zweite, ebenfalls im Dezember veröffentlichte Botschaft (Revision des Ergänzungsleistungsgesetzes) allein die Vorruhestandsleistung betrifft. Der Bundesrat schätzte die mit seinen Vorschlägen erzielbaren jährlichen Einsparungen auf 532 Mio Fr. und die Mindereinnahmen auf 191 Mio Fr., was per saldo einer Entlastung um 341 Mio Fr. entspricht
[11].
[5]
BBl, 2005, S.
3951 f.; Presse vom 10.5. und 22.6.05.
[6]
AB NR, 2005, S. 136 ff. Vgl.
SPJ 2003, S. 226 f. Zur Einführung neuer AHV-Nummern, die gewissermassen als „Bürgernummer“ dienen sollen, siehe oben, Teil I, 1b (Datenschutz). Für das Ansinnen, Nationalbankgewinne für die AHV zu verwenden, vgl. oben, Teil I, 4b (Geld- und Währungspolitik).
[7]
AB NR, 2005, S. 138 ff. und 1584;
AB SR, 2005, S. 702 f.
[8] Presse vom 21.1. und 24.2.05. Eine tiefgreifendere Revision (12. AHV-Revision) ist für 2008/2009 vorgesehen. Siehe
SPJ 2004, S. 186 f.
[9] Presse vom 30.4., 11.5. und 13.5.05. Die Konferenz fand dennoch statt, wenn auch in reduziertem Rahmen; sie führte zu keinen konkreten Ergebnissen (Presse vom 24.5. und 25.5.05).
[11]
BBl, 2006, S. 1957 ff. und 2061 ff.; Presse vom 3.11., 9.11. und 22.12.05.
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