Année politique Suisse 2005 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Invalidenversicherung
Im September verabschiedete der Bundesrat Botschaft und Entwurf zur Ausführungsgesetzgebung über die
Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA). Auf dem Gebiet der heutigen kollektiven
IV-Leistungen wird ein neues Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) vorgelegt. Das IFEG bestimmt die Ziele, Grundsätze und Kriterien der Eingliederung. Demgegenüber kommt der Bund für individuelle IV-Leistungen einschliesslich der beruflichen Eingliederung auf
[12].
Der Ständerat überwies eine Motion seiner GPK, die den Bundesrat beauftragen will, eine
Gesamtstrategie zur fachlichen und administrativen Aufsicht über den Vollzug der IV zu formulieren und diese mit modernen Aufsichts-, Steuerungs- und Führungsinstrumenten umzusetzen. Die Strategie soll die zentralen Prozesse und Leistungen der IV definieren und Zielvorgaben festlegen; die einzelnen Instrumente der fachlichen und administrativen Aufsicht sollen verknüpft und auf die Gesamtstrategie ausgerichtet werden
[13].
Anfang Mai hatte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft für eine Änderung des IVG mit dem Ziel einer
Straffung des Verfahrens im Fall von Streitigkeiten zugeleitet. Im Vordergrund standen die Wiedereinführung des Vorbescheidverfahrens anstelle des im Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) für alle Sozialversicherungen postulierten Einspracheverfahrens, die Einführung einer Kostenpflicht für das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht sowie die Aufhebung des Fristenstillstandes für das Verwaltungsverfahren und das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht
[14].
Im
Nationalrat setzte sich eine linke Kommissionsminderheit für Nichteintreten ein, da diese Änderung das erst zwei Jahre zuvor in Kraft getretene einheitliche ATSG-Verfahren ausheble, was einen Rückschritt bedeute und kein einziges Problem der IV löse. Die Befürworterinnen und Befürworter betonten demgegenüber, dass das Verwaltungsverfahren im Interesse der Versicherten und der Anspruchsberechtigten schnell abgewickelt werden müsse, weil nur so eine allfällige rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess möglich werde. Die grosse Kammer trat mit 111 zu 63 Stimmen auf die Vorlage ein, die von den Fraktionen von CVP, FDP und SVP unterstützt wurde. Mit 107 zu 63 Stimmen (jene der SP und der Grünen) wurde das
Vorbescheidverfahren wieder eingeführt. Mit 88 zu 88 Stimmen und Stichentscheid der Präsidentin sprach sich der Nationalrat gegen die Aufhebung des Fristenstillstands während der Gerichtsferien aus. Erfolglos setzten sich die Fraktionen der SP und der Grünen gegen die Einführung einer in ihren Augen unsozialen
Kostenpflicht für die Parteien bei Beschwerdeverfahren ein. Die grosse Kammer folgte in dieser Frage mit 108 zu 70 Stimmen dem Antrag ihrer Kommission, die der Meinung war, dass mit der Einführung einer moderaten Kostenpflicht die Gründe, die für oder gegen eine Beschwerdeerhebung sprechen, sorgfältiger gegeneinander abgewogen werden dürften. Ausserdem hätten Personen, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügen, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Entgegen dem Bundesrat, der nach skeptischen Äusserungen im Vernehmlassungsverfahren darauf verzichten wollte, folgte der Nationalrat mit 93 zu 85 Stimmen einem Antrag der Kommissionsmehrheit und schränkte die
Kognition des Eidgenössischen Versicherungsgerichts bei IV-Leistungen ein. Er hielt diese Massnahme für ein effizientes und wirksames Mittel, um die Kosten einzudämmen. Eine Kommissionsminderheit war hingegen wie die Kommission für Rechtsfragen der Ansicht, dass dieser Beschluss im Widerspruch zu dem in der Sommersession vom Parlament verabschiedeten Bundesgesetz über das Bundesgericht stehe
[15]. In der Gesamtabstimmung wurden die Beschlüsse mit 92 zu 65 Stimmen gegen den Willen des rot-grünen Lagers angenommen.
Der
Ständerat lehnte einen Nichteintretensantrag von Ory (sp, NE) mit 35 zu 4 Stimmen ab. Auch die Minderheitsanträge zu den Artikeln betreffend das Vorbescheidverfahren und die Kognition des EVG fanden keine Mehrheit: Die Ständerätinnen und Ständeräte folgten jeweils dem Beschluss des Nationalrates und nahmen die Gesetzesänderung mit 26 zu 9 Stimmen an. In der Schlussabstimmung wurde die Revision vom Nationalrat mit 114 zu 63 und vom Ständerat mit 35 zu 9 Stimmen gutgeheissen
[16].
Weil bekannt wurde, dass die IV wegen mangelndem Wettbewerb
Geräte und Hilfsmittel für Behinderte zu gegenüber dem Ausland völlig überteuerten Preisen einkaufen muss, überwiesen beide Kammern sowohl eine Motion Müller (fdp, SG) als auch eine Motion Meier-Schatz (cvp, SG), die den Bundesrat aufforderten, hier rasch Abhilfe zu schaffen und für Wettbewerb zu sorgen
[17].
Ende Juni verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zur 5. IV-Revision und zur Zusatzfinanzierung der stark defizitären IV. Er beschloss dabei, die Massnahmen zur frühzeitigen
Wiedereingliederung in den Erwerbsprozess weiter zu intensivieren. Komplementär zu diesem Ausbau des Hilfsangebots der IV, und um die Wirksamkeit dieser präventiven Instrumente zu optimieren, soll der Zugang zur IV-Rente an strengere Bedingungen geknüpft werden. Statt der in der Vernehmlassungsvorlage angestrebten Reduktion der jährlichen Neurenten um 10% visiert der Bundesrat nun eine Verringerung um 20% an. Nach seiner Auffassung ist für eine rasche Sanierung der IV eine
Zusatzfinanzierung unabdingbar, wofür er die MWSt um 0,8 Prozentpunkte anzuheben gedenkt; in der Vernehmlassung war der Erhöhung der MWSt klar der Vorzug gegenüber einer Erhöhung der Lohnbeiträge gegeben worden; allerdings hatten etliche Stellungnahmen insbesondere aus Wirtschaftskreisen und von den bürgerlichen Parteien betont, dass über die Zusatzfinanzierung nur in Kenntnis der effektiv zu erwartenden Entlastungswirkung der 5. IV-Revision befunden werden soll
[18].
[12]
BBl, 2005, S.
6029 ff. Allgemein zur NFA siehe oben, Teil I, 5 (Finanzausgleich).
[13]
BBl, 2005, S.
2245 ff. (Bericht GPK);
AB SR, 2005, S. 1021 ff.
[14]
BBl, 2005, S.
3079 ff.
[15] Siehe dazu oben, Teil I, 1c (Gerichte).
[16]
AB NR, 2005, S. 1368 ff. und 2001;
AB SR, 2005, S. 1011 ff. und 1221;
BBl, 2005, S.
7285 ff. Da es bei der Ermittlung eines eventuellen Anspruches auf Invaliditätsleistungen (IV- und UVG-Rente) immer wieder zu Streitigkeiten über das Erwerbseinkommen kommt, das die versicherte Person nach dem Gesundheitsschaden durch eine weniger anforderungsreiche Tätigkeit erzielen könnte, ersuchte Robbiani (cvp, TI) den BR in einem überwiesenen Postulat, zur Ermittlung dieses Einkommens verbindliche Kriterien festzulegen (
AB NR, 2005, S. 951).
[17]
AB NR, 2005, S. 949 und 1506;
AB SR, 2005, S. 1022 f.
[18]
BBl, 2005, S.
4459 ff. und 4623 ff.; Presse vom 1.4. und 23.6.05. Siehe
SPJ 2004, S. 187 f. Gegenüber der Referenzbasis 2003 (Beginn des IV-Monitorings) gingen die Neurenten bis Ende 2005 um rund 18% zurück; für die Finanzen der IV wird sich das allerdings erst mittelfristig auswirken (Presse vom 21.2.06). Diskussionslos nahm auch der NR eine Motion des SR an, welche eine frühzeitige Invaliditätsvorbeugung verlangt (
AB NR, 2005, S. 143. Siehe
SPJ 2004, S. 187, FN 13).
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