Année politique Suisse 2005 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Bildungspolitik
Im Sommer präsentierte die WBK des Nationalrats ihren Entwurf zu einem
Bildungsrahmenartikel, den sie zusammen mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) erarbeitet hatte. Die Vorlage geht über die ursprüngliche Zielsetzung der parlamentarischen Initiative Zbinden (sp, AG) aus dem Jahr 1997 hinaus und fasst die unmittelbar bildungsbezogenen Artikel der Bundesverfassung (Art. 62-67 BV) neu. Sie zielt darauf ab, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des schweizerischen Bildungswesens zu erhöhen, die interkantonale und internationale Mobilität zu erleichtern und die kantonalen Bildungssysteme in einzelnen Punkten gesamtschweizerisch zu harmonisieren. Die wichtigsten Neuerungen beinhalten: 1. die Verankerung von Qualität und Durchlässigkeit als wegleitende Ziele; 2. die ausdrückliche Pflicht zur Koordination und Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen; 3. die gesamtschweizerisch einheitliche Regelung von Eckwerten bezüglich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und deren Übergänge sowie der Anerkennung von Abschlüssen; 4. die gemeinsame Verantwortung von Bund und Kantonen für die Koordination und für die Gewährleistung der Qualitätssicherung im Hochschulwesen; 5. eine einheitliche Regelung der Studienstufen und deren Übergänge, der akademischen Weiterbildung, der Anerkennung von Institutionen sowie der Finanzierungsgrundsätze für die Hochschulen; 6. eine Rahmengesetzgebung des Bundes für die allgemeine Weiterbildung. – Kommt die angestrebte Regelung der Eckwerte im Schulwesen oder die Erreichung der Ziele auf der Hochschulstufe nicht auf dem Koordinationswege zustande, erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften; zudem kann er die Unterstützung der Hochschulen an einheitliche Finanzierungsgrundsätze binden und von der Aufgabenteilung zwischen den Hochschulen in besonders kostenintensiven Bereichen abhängig machen
[1].
Die Vorlage stiess im
Nationalrat auf ein mehrheitlich positives Echo. Für die CVP stellte sie einen wichtigen Schritt für die Wissensgesellschaft Schweiz des 21. Jahrhunderts dar, die FDP hielt die Reform für notwendig, damit die Schweiz im Bildungsbereich im europäischen Vergleich weiterhin konkurrenzfähig bleibe. Die Grünen und ein Teil der Ratslinken bedauerten jedoch, dass ein umfassendes Recht auf Bildung, das Mitbestimmungsrecht für Studierende und eine einheitliche Regelung im Stipendienwesen nicht Eingang in die neuen Bestimmungen gefunden hatten. Während die Rechtskonservativen den Bildungsrahmenartikel ablehnten, weil sie ihn als Gefahr für den Föderalismus und die kantonale Autonomie betrachteten, hielt die äusserste Linke die Vorlage für undemokratisch; ein Rückweisungsantrag Zisyadis (pda, VD), der die Einführung eines Volks- oder Kantonsreferendums gegen interkantonale Verträge verlangt hatte, blieb mit 158:4 Stimmen chancenlos. In der Detailberatung nahm der Nationalrat nur minime Änderungen am Vorschlag seiner WBK vor: So hiess er mit 106:62 Stimmen einen Einzelantrag Triponez (fdp, BE) gut, welcher Bund und Kantone verpflichtet, sich für die Gleichwertigkeit von rein schulischer und beruflicher Bildung einzusetzen. Abgelehnt wurden sowohl zwei Minderheitsanträge Rutschmann (svp, ZH), welche dem Bund mehr Zurückhaltung auferlegen wollten, wenn die Harmonisierung des Schulwesens nicht auf dem Koordinationsweg zustande kommen sollte resp. im Bereich der Weiterbildung, als auch ein Minderheitsantrag Stump (sp, AG) zur Ausweitung der Kompetenzen des Bundes; hier hatte die Linke die Bestimmung streichen wollen, wonach der Mitwirkung der Kantone besonderes Gewicht zukommt, falls der Bund Erlasse vorbereitet, die ihre Zuständigkeiten betreffen. Die Vorlage passierte die Gesamtabstimmung mit 152:8 Stimmen bei 7 Enthaltungen
[2].
Auch der
Ständerat begrüsste die Bildungsverfassung und beschloss ohne Gegenstimme Eintreten. Namens der für den Hochschulartikel zuständigen Subkommission erklärte Bieri (cvp, ZG), dass die kantonalen Universitäten, die ETH und die Fachhochschulen künftig auf der gleichen Verfassungsgrundlage basierten und unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen und Trägerschaften gleich behandelt würden. Ihre Steuerung erfolge primär über eine partnerschaftliche Kooperation unter den verschiedenen Hochschulträgern und über eine umfassende Koordination von Bund und Kantonen durch ein gemeinsames Lenkungsorgan. In der Detailberatung stimmte die kleine Kammer einer von ihrer WBK vorgeschlagenen Präzisierung der von Nationalrat Triponez (fdp, BE) eingebrachten Ergänzung zur Gleichwertigkeit der verschiedenen Bildungswege zu und billigte die Vorlage in der Gesamtabstimmung mit 32:0 Stimmen. In zweiter Lesung schloss sich die grosse Kammer dieser Umformulierung diskussionslos an. Die Räte verabschiedeten den Bildungsrahmenartikel in der Schlussabstimmung mit 176:3 Stimmen bei 7 Enthaltungen (Nationalrat) und 44:1 Stimmen (Ständerat)
[3].
Gegen den Willen des Bundesrates überwies der Ständerat eine Motion Bürgi (svp, TG), welche die Schaffung eines
Departements für Bildung, Forschung und Innovation verlangt. Die Konzentration der drei Politikbereiche, welche teils im EDI, teils im EVD angesiedelt sind, erleichtere die Zusammenarbeit mit den Kantonen, welche fast alle über eine entsprechende Direktion verfügten. Wenig Unterstützung fand hingegen Bürgis Idee, dafür das VBS aufzuheben und seine Ämter dem EJPD (Sicherheitsdepartement) und dem EDA zuzuordnen
[4]. Ende Oktober trat Eric Fumeaux als Direktor des Bundesamtes für Bildung und Technologie (BBT) zurück, behielt jedoch sein Amt als Präsident der Kommission für Technologie und Innovation (KTI). Der Bundesrat und insbesondere EDI-Vorsteher Couchepin beabsichtigten, anlässlich des Führungswechsels im BBT die Umsiedlung des FHS-Bereichs ins EDI neu zu diskutieren
[5]. Diskussionslos überwies der Nationalrat in der Herbstsession ein Postulat Bruderer (sp, AG), das vom Bundesrat einen Rechenschaftsbericht zu seinen bisherigen Aktivitäten im Bereich Bildung, Forschung und Technologie verlangte
[6].
Gemäss einer Untersuchung des BFS hält das
schweizerische Bildungssystem einem Vergleich mit der EU Stand. Gut schnitt die Schweiz bei der Ausbildung Jugendlicher (nur 8,1% vorzeitige Ausbildungsabbrüche), in der Erwachsenenbildung und beim lebenslangen Lernen ab. Obschon die Schweiz vergleichsweise sehr viel in ihr Bildungssystem investiert, sei die Lesekompetenz der Bürgerinnen und Bürger mangelhaft, und der Frauenanteil in Naturwissenschaft und Technik gehöre zu den tiefsten Europas
[7]. Bestätigt wurden diese Ergebnisse von der Studie „Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL)“, welche die Grundkompetenzen Erwachsener im Rechnen, Lesen und Problemlösen analysierte. Der Ländervergleich mit Norwegen, Italien, Kanada, den USA, den Bermudas und dem (nur beim Lesetest beteiligten) mexikanischen Gliedstaat Nuevo León stellte der Schweiz beim Rechnen im Alltag ein sehr gutes Zeugnis aus; sie lag in diesem Bereich an der Spitze noch vor Norwegen, das in allen übrigen Testbereichen das beste Ergebnis erzielte. Beim Problemlösen kam die Schweiz auf Platz zwei, beim Lesen und Textverständnis, wo das Verständnis für zusammenhängende Texte und schematische Darstellungen gefragt war, nur auf Platz vier. Im sprachregionalen Vergleich erreichte die Deutschschweiz in drei von vier Disziplinen das bessere Resultat als das Tessin und die Romandie. Letztere kam indes beim Problemlösen auf das beste Ergebnis. Gemäss der Erhebung verfügen Frauen und Ältere über schlechtere Grundkompetenzen als Männer und jüngere Personen
[8].
[1]
BBl, 2005, S. 5479 ff. (WBK-NR) und 5547 ff. (BR); siehe dazu auch die Beiträge von Lucien Criblez und Anna Bütikofer, „Wie Bund und Kantone die Bildung regeln. Die historische Dimension der ‚Volksschule Schweiz’“ von Hans Ambühl, Generalsekretär der EDK, sowie von Kathy Riklin (cvp, ZH) und Peter Bieri (cvp, ZG) in
NZZ, 22.3., 21.6. und 28.7.05 und das Interview mit EDK-Präsident Hans-Ulrich Stöckling (SG, fdp) in
SGT, 19.8.05. Vgl.
SPJ 2004, S. 220 und 225 f.
[2]
AB NR, 2005, S. 1387 ff. und 1408 f. (Abschreibung der Standesinitiativen BE, BL und SO zur Koordination der kantonalen Bildungssysteme sowie der parlamentarischen Initiative Gutzwiller (fdp, ZH) zum Schuleintrittsalter); Presse vom 6.10.05.
[3]
AB SR, 2005, S. 1023 ff., 1037 f. (Abschreibung der parlamentarischen Initiative Plattner (sp, BS) zur Hochschulreform und der Standesinitiativen BE, BL und SO zur Koordination der kantonalen Bildungssysteme) und 1217;
AB NR, 2005, S. 1827 ff. und 1994;
BBl, 2005, S. 7273 ff.; Presse vom 7.12.05; siehe auch das Interview mit dem „Vater“ des Bildungsrahmenartikels, Hans Zbinden (sp, AG), in
AZ, 5.12.05. Zum Hochschulartikel vgl.
SPJ 2004, S. 225 f.
[4]
AB SR, 2005, S. 726 ff.; Presse vom 7.6.05. Zur Zuteilung der Berufsbildung und der FHS auf unterschiedliche Departemente resp. Ämter siehe auch die Antworten des BR auf die Fragen Lustenberger (cvp, LU) und Müller-Hemmi (sp, ZH) sowie eine Interpellation Galladé (sp, ZH) in
AB NR, 2005, S. 758 f. und Beilagen III, S. 268 f.; siehe auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[6]
AB NR, 2005, S. 1509 und Beilagen III, S. 412 f.
[7] Presse vom 11.8.05;
Lit. Caballero Liardet / von Erlach.
[8] Presse vom 12.5.05;
Lit. BFS (Grundkompetenzen Erwachsener).
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