Année politique Suisse 2005 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Sprachen
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Berücksichtigung der Sprachminderheiten
Nach 24jähriger Amtstätigkeit trat der Tessiner Achille Casanova (cvp) auf Ende Juli als Bundesvizekanzler zurück [27]. Zu seinem Nachfolger wählte der Bundesrat den Sozialdemokraten Oswald Sigg. Vizekanzlerin Hanna Muralt (sp), die ihr Amt ebenfalls zur Verfügung gestellt hatte, wurde durch die der CVP nahe stehende romanischsprachige Corina Casanova ersetzt [28]. Dass ein Deutschsprachiger ohne Italienischkenntnisse den Platz des perfekt dreisprachigen Achille Casanova einnahm, sorgte im Tessin, aber auch in der französischsprachigen Schweiz für Proteste gegen eine Verdrängung des „lateinischen“ Elements aus den Spitzenpositionen der Verwaltung. Dass gleichzeitig mit Corina Casanova eine Vertreterin der kleinen, ebenfalls „lateinischen“, romanischsprachigen Minderheit Vizebundeskanzlerin wurde, nahm insbesondere Bundesrat Couchepin, der sich in den Medien über den Wahlausgang empört hatte, erst mit Verspätung zur Kenntnis; Casanova war im Staatskalender vermeintlich als Deutschsprachige ausgewiesen [29].
In der Folge überwiesen die Räte im Einverständnis mit dem Bundesrat eine Motion Berberat (sp, NE) und der Ständerat eine Motion Studer (sp, NE) für eine Erhöhung der Zahl der französisch- und italienischsprachigen Personen in den Führungspositionen der Bundesverwaltung. Konkret sollen Bewerberinnen und Bewerber aus diesen Sprachregionen bei gleicher Qualifikation solange den Vorzug gegenüber Kandidierenden aus der Deutschschweiz erhalten, bis ihr Anteil demjenigen der Landesbevölkerung entspricht [30]. Eine Motion Simoneschi (cvp, TI), welche verlangte, dass Stellenausschreibungen des Bundes Italienischsprachige nicht diskriminieren dürfen (z.B. durch das Erfordernis der deutschen oder französischen Muttersprache), nahm der Nationalrat ohne Gegenstimme an [31].
In seinen Antworten auf zwei Interpellationen und eine Anfrage Abate (fdp, TI) hielt der Bundesrat fest, dass alle wichtigen Publikationen des Bundes, d.h. alle Texte, die im Bundesblatt und in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht werden, auch auf Italienisch erscheinen, und zwar ausnahmslos und gleichzeitig mit den anderen beiden Amtssprachen. Die Geschäftsdatenbanken des Parlaments (Curia und Curia Vista) seien voraussichtlich Ende Jahr auf Italienisch verfügbar. Beim Bundesblatt prüfe die Bundeskanzlei, die italienische Fassung, welche erst ab 1971 vollständig erhalten ist, analog zur deutschen und zur französischen in digitalisierter Form zugänglich zu machen. In Bezug auf weitere amtliche Publikationen der Departemente entschieden die zuständigen Stellen im Einzelfall aufgrund der Art der Publikation, der Adressaten, der effektiven Verbreitung, der Auflage etc., ob ein Text ins Italienische übersetzt werden soll [32].
Die Bündner Regierung schickte ein neues Sprachengesetz in die Vernehmlassung, das die Dreisprachigkeit im Kanton stärken soll. Unter anderem sollen die Gemeinden ihre Amts- und Schulsprache nur wechseln können, wenn eine Zweidrittelsmehrheit die Änderung in einer kommunalen Volksabstimmung gutheisst [33].
Der Bündner Regierungsrat verabschiedete die Grundsätze zu einer schrittweisen Einführung von Rumantsch Grischun in der Schule ab 2007. Die gemeinsame romanische Schriftsprache soll dazu beitragen, die vierte Landessprache zu erhalten und zu fördern. Dazu kann der Kanton zwar die Lehrmittel vorschreiben, doch die Wahl einer der sechs romanischen Schriftsprachen liegt bei den Gemeinden, von denen sich viele ablehnend äusserten. Die sechs Gemeinden des Münstertals beschlossen, Rumantsch Grischun als Unterrichtssprache in der Volksschule zu benutzen [34].
 
[27] Presse vom 14.1.05.
[28] Presse vom 28.4.05; zu Corina Casanova siehe NZZ, 23.5.05.
[29] LT, 29.4.05; Le Matin dimache, 1.5.05; 24h, BaZ und TG, 2.5.05; NZZ, 3.5.05. Siehe dazu auch TA, 11.5. und 14.5.05 sowie die Voten der Ständeräte Maissen (cvp, GR), Brändli (svp, GR) und Marty (fdp, TI) in AB SR, 2005, S. 591 f.; vgl. auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung). In seiner Antwort auf eine Frage Cathomas (cvp, GR) erklärte der BR, dass mit der Schaffung des elektronischen Staatskalenders statt der Bezeichnung der Muttersprache (d, f, i, r) hinter dem Namen der aufgeführten Personen die vom Eidg. Personalamt registrierte und von der betroffenen Person gewünschte Korrespondenzsprache ins Verzeichnis aufgenommen wurde. Dieser Änderung fiel das Rätoromanische zum Opfer. Deshalb prüfe die Bundeskanzlei nun, ob es mit angemessenem Aufwand möglich sei, im nächsten Staatskalender wieder zur ursprünglichen Form, d.h. zur Angabe der sprachlichen Identität, zurückzukehren (AB NR, 2005, S. 630).
[30] AB NR, 2005, S. 950 und Beilagen II, S. 562 f.; AB SR, 2005, S. 591 f. Anlässlich der Beratung der vom BR unterstützten Motion Studer (sp, NE) erklärte BR Merz, dass diese Forderung bereits in einer Weisung des BR aus dem Jahre 2003 enthalten ist, aber leider ungenügend umgesetzt werde; siehe auch NZZ, 18.5.05; SGT, 21.5.05; vgl. auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung) und SPJ 2004, S. 238 f. Im Bundesamt für Umwelt trat der Tessiner Bruno Oberle die Nachfolge von Philippe Roch als Direktor an (Presse vom 23.6.05).
[31] AB NR, 2005, S. 1507 und Beilagen III, S. 239 ff. (Anfrage Abate, fdp, TI); siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation derselben Parlamentarierin in AB NR, Beilagen IV, S. 256 ff.
[32] AB NR, 2005, Beilagen I, S. 441 f., Beilagen II, S. 95 und Beilagen IV, S. 268 f.; vgl. SPJ 2002, S. 278.
[33] BüZ, 18.6.05.
[34] LT, 13.1. und 5.2.05; NZZ, 13.1.05; 24h, 10.6.05; vgl. SPJ 2003, S. 285.