Année politique Suisse 2005 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kirchen
Gemäss einer repräsentativen Umfrage, die nach 1989 zum zweiten Mal den religiösen Bewusstseinsstand in der Schweiz untersuchte, steht Religion in der spätmodernen Gesellschaft in einem Spannungsfeld, das durch zwei Pole charakterisiert ist: zum einen durch die von den herkömmlichen Agenturen und neuen religiösen Institutionen und Netzwerken vertretene „institutionelle Religion“, zum andern durch die „universale Religion“. Deren „Angehörige“ gehörten keinem bestimmten Bekenntnis an. Sie glaubten zum Beispiel an die Existenz einer höheren Macht, ordneten den Tod in den Kreislauf von Werden und Vergehen ein, beteten in verschiedensten Lebenslagen und verfügten über beträchtliche ethische Ressourcen (Bekenntnis zu Menschenrechten). Diese Überzeugungen trügen wesentlich zu ihrem emotionalen Gleichgewicht und zu ihrer weltanschaulichen Orientierung bei, würden jedoch als Privatsache betrachtet [35].
Vertreter von zehn schweizerischen Kirchen (des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, der römisch-katholischen Bischofskonferenz, der Christkatholiken, der Methodisten, der Baptisten, der Heilsarmee, der Lutheraner, der Griechisch- und der Serbisch-Orthodoxen sowie der Anglikaner) unterzeichneten in einem Gottesdienst in St-Ursanne (JU) die Charta Oecumenica. Das auf europäischer Ebene entstandene Dokument beinhaltet die Selbstverpflichtung, an der Gemeinschaft der Kirchen weiterzuarbeiten und gemeinsam Verantwortung für Versöhnung, die Bewahrung der Schöpfung und das Zusammenleben der Religionen wahrzunehmen und insbesondere dem nationalistischen Gebrauch von Religion entgegenzutreten. Besondere Bedeutung komme dem Dialog mit dem Judentum, der Wertschätzung der Muslime und dem Engagement für die individuelle und kollektive Religionsfreiheit zu [36].
Gemäss einer Studie der Eidg. Ausländerkommission versteht sich die Mehrheit der Muslime in der Schweiz (fast 90% stammen aus dem Balkan und der Türkei) als Mitglieder der schweizerischen Gesellschaft. Sie teilten die westliche Sicht von Religion als Privatsache und verhielten sich möglichst unauffällig. Unterschiede in der Wertordnung ergäben sich am ehesten beim Verständnis der Geschlechterrollen, wobei bei ihnen weiterhin die traditionelle Rollenteilung dominiert. Praktiken wie die Mädchenbeschneidung, Kinderheirat und körperliche Züchtigung von Frauen lehnten sie durchwegs ab, einzig bei der Kopftuchfrage gingen die Meinungen auseinander. In Zürich gründeten in der Schweiz aufgewachsene Muslime das Institut für interkulturelle Zusammenarbeit und Dialog [37].
Im August stattete der Dalai Lama, das weltliche und spirituelle Oberhaupt der Tibeter, der Schweiz einen von der Öffentlichkeit viel beachteten Besuch ab [38].
In Genf öffnete das Internationale Reformationsmuseum, das mit privater Unterstützung gegründet worden war, seine Tore. Da die Reformation in Genf den Grundstein zur Trennung von Kirche und Staat gelegt hatte, konnten die Initianten nicht mit öffentlichen Geldern rechnen [39].
 
[35] NZZ, 24.1.05; Lit. Campiche e.a.
[36] TA, 21.1.05; LT, 22.1.05; NZZ, 22.1. und 24.1.05; 24h, 24.1.05.
[37] Presse vom 28.10.05; NZZ, 27.6.05.
[38] Presse vom 2.-13.8.05.
[39] Bund, 23.4.05; SGT, 12.5.05.