Année politique Suisse 2006 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Zu Beginn des Jahres musste die SP Schweiz ihr Vorhaben aufgeben, gerichtlich gegen das neue degressive Steuersystem in Obwalden vorzugehen, da sie nicht genügend lokale Kläger finden konnte. Die Mutterpartei war mit der Obwaldner SP in Konflikt geraten, die das System als Ergebnis eines Volksentscheids akzeptierte. Das Engagement gegen den Steuerwettbewerb unter den Kantonen und die Vorbereitung der seit langem geplanten Volksinitiative für eine materielle Harmonisierung der Steuern war einer der politischen Schwerpunkte der Partei in diesem Jahr. Im März ermächtigte die Delegiertenversammlung die Parteileitung präventiv, das Referendum gegen die Unternehmenssteuerreform, welche im Berichtsjahr vom Parlament beraten wurde, zu ergreifen [3].
Auf ihrer Versammlung in Näfels (GL) im März verabschiedeten die Delegierten einstimmig den zweiten Teil der Europaplattform, der sich auch als Beitrag der SP zum Bundesratsbericht zum selben Thema verstand. Nach dem institutionellen ersten Teil setzt sich die SP darin mit den Vor- und Nachteilen eines EU-Beitritts bezüglich konkreter sozialer, wirtschaftlicher und finanzieller Aspekte auseinander. Den Beitritt befürwortet die Partei weiterhin und sie hält ihn schon bis zum Jahr 2012 für durchführbar. Zu Gunsten baldiger Beitrittsverhandlungen führte Nationalrat Jean-Claude Rennwald (JU) die Grenzen der Bilateralen Verträge und die Notwendigkeit einer aktiven Mitbestimmung der Schweiz ins Feld. Auf diese Weise könne die Schweiz zusätzliches Wachstum und soziale Sicherheit gewinnen. Allerdings seien in verschiedenen Bereichen Übergangsperioden notwendig, so für die stufenweise Erhöhung der Mehrwertsteuer auf das europäische Niveau von mindestens 15%, in der Agrarpolitik und für die Beitragszahlungen. Ausserdem müsse es für die Schweiz dauerhafte Ausnahmen geben: Die Liberalisierung des Strommarkts dürfe nur mit Volksentscheid beschlossen werden, der öffentliche Dienst sei von einer Liberalisierung auszunehmen und es dürfe keinen Zwang zur Übernahme der europäischen Währung geben. Auch für die Senkung der Monopolgrenzen für Briefpost und Telekommunikation seien Ausnahmen auszuhandeln. Im Juli präsentierte die Arbeitsgruppe Europa der SP dann konkrete vorbereitende Schritte für eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz. Im einzelnen regte sie etwa die Schaffung einer parlamentarischen Delegation für europäische Angelegenheiten an, deren Aufgabe es wäre, die europäische Gesetzgebung mitzuverfolgen [4].
In einem Grundsatzpapier zur Zukunft der Energieversorgung unterstrich die SP die Machbarkeit des Ausstiegs aus der Kernkraft in naher Zukunft. Bei der Vorstellung der Studie betonten der federführende Autor, Nationalrat Rudolf Rechsteiner (BS), und SP-Vize-Präsidentin Ursula Wyss (BE), die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke bis zum Jahr 2024 sei machbar, wenn alternative Energien entsprechend gefördert und Massnahmen für einen effizienteren Energieverbrauch getroffen würden. Angesichts der bestehenden Risiken und des ungelösten Entsorgungsproblems sei der Ausstieg aus der Atomkraft notwendig. Das Papier sieht Investitionen insbesondere im Bereich der Energiegewinnung aus Wind, Biogas und Abfällen vor. Um die anfallenden Investitionen tragbar zu machen, wird die so genannte Einspeisevergütung propagiert, die Stromproduzenten einen bestimmten Tarif bei der Abschreibung ihrer Investitionen zusichert [5].
Die Delegiertenversammlung in Delsberg (JU) im Juni setzte sich mit dem „Neuen Wirtschaftskonzept der SP Schweiz“ auseinander. Es handelt sich dabei um eine Revision des Konzepts von 1994; diese ist von einem pragmatischeren Ansatz gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft und der Globalisierung geprägt. Die darin formulierten Wertvorstellungen und grundlegenden Ziele bleiben aber Verteilungsgerechtigkeit, Gleichheit der Geschlechter, Demokratie und Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer. Diese Ziele sollen jedoch stärker im Rahmen der bestehenden Wirtschaftsordnung erreicht werden und nicht wie im alten Konzept vorgesehen, mit einem neuen System von durch die Arbeitnehmer selbst verwalteten Betrieben. Es geht gemäss dem neuen Konzept auch nicht darum, den Prozess der Globalisierung aufzuhalten, die als unaufhaltsame Entwicklung anerkannt wird, sondern um eine möglichst soziale und umweltverträgliche Gestaltung desselben. Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer (BL), die für das Konzept warb, unterstrich daneben die Bedeutung eines nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen. Bereits rund 250 Änderungsvorschläge, darunter ein Rückweisungsantrag der Freiburger Sektion, machten deutlich, dass das Konzept einige problematische Aspekte für die Delegierten enthielt. Den Freiburgern fehlte vor allem die Kohärenz. Wie andere Westschweizer Delegierte und die Schweizerischen Jungsozialisten (Juso) kritisierten sie insbesondere die Annäherung der SP an liberale Positionen, wie sie sich in der Befürwortung des Wettbewerbs in den Gütermärkten (z.B. durch die Übernahme des Cassis-de-Dijon-Prinzips) ausdrückten. Auf Antrag der Juso wurde die grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, wie sie auch im bisherigen Parteiprogramm verankert ist, nachträglich in das Wirtschaftskonzept aufgenommen. Auch mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Preisregulierung konnten sich die Juso beinahe durchsetzen. Schliesslich wurde das modifizierte Konzept mit grosser Mehrheit verabschiedet [6].
Unterschiedliche Positionen bezogen Parteileitung und Basis zu einer Volksinitiative gegen Kriegsmaterialexporte, die Grüne und die „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSoA) lanciert hatten. Die Geschäftsleitung hatte die Initiative bereits im Vorfeld der Delegiertenversammlung abgelehnt, da ein Grossteil derartiger schweizerischer Exporte in die europäischen Nachbarstaaten gehe und somit ein Beitrag zur kollektiven Sicherheit darstelle. Ausserdem verwies die Parteiführung darauf, dass eine weitere Initiativbeteiligung die Kapazitäten der SP überstrapazieren würde. Mit einem engagierten Plädoyer gelang es Nationalrat Remo Gysin (BS) jedoch, die Anwesenden zur beinahe einstimmigen Unterstützung der Volksinitiative gegen Kriegsmaterialexporte zu bringen. Schliesslich lehnten die Delegierten ohne Gegenstimmen die Asyl- und Ausländergesetze ab, während sie ebenso einmütig die Ja-Parole zur Kosa-Initiative fassten [7].
Der Parteitag in Sursee (LU) im September stand im Zeichen der Verabschiedung der Wahlplattform „Für eine offene und ökologische Schweiz“. Neben der Forderung nach raschen Beitrittsverhandlungen mit der EU liegt der Schwerpunkt des Programms auf der Fiskalpolitik, mit dem Engagement gegen den Steuerwettbewerb und degressive Steuern als zentralem Punkt. In diesem Sinn befürworteten die Delegierten einstimmig die Lancierung der Volksinitiative „Für faire Steuern“. Diese verlangt zwar keine vollständige materielle Steuerharmonisierung, aber einen Grenzsteuersatz der Gemeinde- und Kantonssteuern von mindestens 22% für individuelle Einkommen ab 250 000 Fr. Bei Vermögen von über 2 Mio Fr. soll der Steuersatz zumindest 0,5% betragen müssen, während die Kantone ihre Sätze unterhalb der 250 000-Franken-Marke frei festlegen dürften. Insgesamt bot die Wahlplattform, die in vielen Punkten dem letzten Wahlprogramm glich, wenig Anlass zur Diskussion. Lediglich bezüglich der Europa-Politik kam es erneut zu einer Debatte über die bilateralen Verträge und die Wahrung des Service public. Zum Wahlziel setzte man sich, stärkste Fraktion zu werden und als solche aktiv die Regierungspolitik mitzugestalten. Fraktionschefin Ursula Wyss forderte eine neue Mitte-Links-Mehrheit in der Regierung, wobei sie ausdrücklich das Mandat des Freisinnigen Hans-Rudolf Merz in Frage stellte. Auch Parteipräsident Hans-Jürg Fehr übte scharfe Kritik an der politischen Rechten und machte sich für einen dritten linken Regierungssitz stark. Ausserdem gaben die Delegierten zwei klare Ja-Parolen heraus: Das Osthilfe-Gesetz wurde mit 314:1 Stimmen, die Familienzulagen mit 272:0 Stimmen befürwortet [8].
Die Delegiertenversammlung im Dezember in Muttenz (BL) stand im Zeichen der Verabschiedung eines Integrationspapiers, dessen Ausrichtung ähnlich wie bei den Freisinnigen (siehe unten) dem Basler Prinzip des „Fördern und Fordern“ folgt. Der Kern des Papiers ist die Chancengleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Beschäftigung sowie bei Straffälligkeit und sozialen Hilfsleistungen. Das Papier fordert aber auch einen Integrationsvertrag zwischen Immigranten und Behörden. Die staatlichen Behörden verpflichten sich demnach zu einem Engagement für Berufsbildung, vorschulische Betreuung sowie für Kredite für Integrationsprojekte. Umgekehrt gibt es für Einwanderer die Auflage, fehlende Kenntnisse durch den Besuch von Kursen auszugleichen. Diese Verknüpfung von Integrationsmassnahmen und Aufenthaltsrecht war besonders starker parteiinterner Kritik ausgesetzt und ein Grund für die Rückweisungsanträge der Waadtländer und Genfer Sektionen. Zum einen wurde bemängelt, diese Integrationsverträge würden rechtlich auf dem neuen Ausländergesetz basieren, das die SP bekämpft hatte. Zum anderen wurde die grundsätzliche Berechtigung von Zwangsmassnahmen gegenüber Immigranten in Frage gestellt. Trotz dieser Kritik wurde das Papier mit grosser Mehrheit verabschiedet.
Die Beteiligung an dem von einem Teil der Behindertenorganisationen lancierten Referendum gegen die 5. Revision der Invalidenversicherung wurde knapp mit 82:69 Stimmen gutgeheissen.Die Parteileitung hatte sich dagegen ausgesprochen, auch in Hinblick darauf, dass das Referendum der SVP eine Steilvorlage für ihre Themen Finanzierung und Missbrauch der IV geben könnte. Nationalrätin Christiane Goll (ZH) hingegen vertrat mit der Mehrheit der Delegierten die Meinung, die SP müsse mitmachen, da sie das Gesetz auch im Parlament bekämpft habe [9].
Im Mai kündigte die Fraktionspräsidentin der SP, Nationalrätin Hildegard Fässler (SG), überraschend ihren Rücktritt zum Ende der Sommersession an. Nach dem Verzicht verschiedener Anwärter auf ihre Nachfolge verblieb Vize-Präsidentin Ursula Wyss (BE) als einzige Kandidatin und wurde am 20. Juni mit 42 von 49 Stimmen klar zur neuen Fraktionspräsidentin gewählt. Zu ihrer Nachfolgerin als SP-Vize-Präsidentin wählte der Parteitag im September Nationalrätin Silvia Schenker (BS). In ihren bisherigen Ämtern bestätigte man den Präsidenten Hans-Jürg Fehr (SH) und den Vize-Präsidenten Pierre-Yves Maillard (VD) für weitere zwei Jahre [10].
In den kantonalen Parlamentswahlen verlor die SP insgesamt 23 Sitze, davon allein 16 in Bern, wo allerdings der Grosse Rat verkleinert worden war. Im Jura und in Obwalden gaben die Sozialdemokraten jeweils 2 Sitze ab, in Freiburg, Nidwalden und Zug je einen. In Glarus blieb die Fraktion der SP gleich gross, und in Graubünden gelang es ihr, sich um einen Abgeordneten zu verstärken. Einen überraschenden Erfolg erzielte die SP mit der Wahl von drei Regierungsräten in Bern, wo sie zusammen mit einem auf ihrer gemeinsamen Liste gewählten Grünen neu über die Mehrheit verfügen. In Glarus, Jura und Zug jedoch verloren die Sozialdemokraten je einen Regierungssitz. Während in Zug und Glarus, wo der Regierungsrat auf fünf Mitglieder verkleinert worden war, das Verhältnis zwischen linker und bürgerlicher Regierungsbeteiligung unberührt blieb, bedeutete der Mandatsverlust im Jura das Ende der erst 2002 errungenen linken Regierungsmehrheit.
 
[3] Zum Scheitern der SP-Klage siehe QJ, 21.1.06 und TA, 21.1., 23.1. und 2.2.06. Referendum: Presse vom 6.3.06. Zur SP-Arbeitsgruppe bzw. der Initiative für die Steuerharmonisierung, siehe LT, 28.1.06 und Lib, 1.2.06, zur noch nicht zu Ende beratenen Unternehmenssteuerreform siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern).
[4] Presse vom 6.3.06; 24h, 5.7.06 (konkrete Schritte). Zum ersten Teil der Europa-Plattform siehe SPJ 2005, S. 282 f. Zum Europa-Bericht des BR siehe oben, Teil I, 2 (Principes directeurs).
[5] QJ und TA, 25.4.06; WoZ, 27.4.06.
[6] Presse vom 26.6.06. Zum neuen Wirtschaftskonzept siehe auch Presse vom 11.4.06 sowie NZZ, 21.6.06; TA und WoZ, 22.6.06.Zum 100jährigen Jubiläum und der Geschichte der Juso siehe WoZ, 24.8.06; TA, 26.8.06; NZZ, 4.9.06.
[7] Presse vom 26.6.06. Zur Initiative gegen Kriegsmaterialexporte siehe auch BaZ, 22.6.06.
[8] Presse vom 18.9.06.
[9] Presse vom 4.12.06. Zum Integrationspapier, siehe auch SoZ, 26.11.06.
[10] Zu Rückritt und Würdigung von Fässler siehe Presse vom 20.5.06. Zur Nachfolge siehe Presse vom 13.6.06. Zur Präsentation und Wahl von Wyss siehe BaZ, 17.6.06; LT, 20.6.06; NZZ, 19.6. und 21.6.06; TA, 14.6.06. Schenker: Presse vom 18.9.06.