Année politique Suisse 2006 : Allgemeine Chronik
Überblick
Ein recht grosser Teil der politischen Diskussion in den Medien blieb auf den SVP-Bundesrat Christoph Blocher fokussiert. Es stand allerdings weniger als in seinen beiden ersten Amtsjahren die Funktionsfähigkeit des kollegialen Regierungssystems im Zentrum. Es ging vielmehr um einzelne kritische Äusserungen des Vorstehers des EJPD im Zusammenhang mit Gerichtsurteilen, die sich auf das Asylgesetz resp. das Anti-Rassismusgesetz abstützten. Gegner sahen in diesen Aussagen Blochers das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt oder zumindest zu wenig respektiert. Trotz der Polarisierung der politischen Kräfte in Regierung und Parlament und der in der laufenden Legislaturperiode vermehrt auftretenden Blockierung des Parlaments durch so genannte unheilige Allianzen der SP und der Grünen mit der SVP blieb das politische System produktiv. Wenn seine Entscheidungen mit Referenden in Frage gestellt wurden, setzte sich immer die Position des Bundesrates und der Parlamentsmehrheit durch. Dies galt sowohl für die von der Linken bekämpften Revisionen des Ausländer- und des Asylgesetzes, als auch für die von der SVP und der FDP abgelehnte Vereinheitlichung der Familienzulagen resp. für die von der SVP gemeinsam mit der äusseren Rechten bekämpfte Aufbauhilfe für die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder.
Noch stärker als im Vorjahr machten sich die nächsten eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2007 bemerkbar. Die Parteien stellten an ihren Delegiertenversammlungen nicht nur ihre Wahlplattformen vor, sondern liessen auch in ihre Entscheide zur Tagespolitik elektorale Überlegungen einfliessen. Sowohl die SVP als auch die SP sahen sich wie bereits 2005 zur Unterstützung von Referenden veranlasst, obwohl zumindest ihre Parteileitung lieber auf eine Abstimmungskampagne verzichtet hätte. Für die SP galt dies bei dem von den Grünen unterstützten Referendum gegen die Revision der Invalidenversicherung. Bei der SVP war es der Fall bei der Beteiligung an dem von den kleinen Rechtsaussenparteien SD und Lega dei Ticinesi lancierten Kampf gegen die Milliardenzahlung an die neuen EU-Staaten. Bei den kantonalen Wahlen befanden sich erneut die Grünen auf der Gewinnerseite; bei der SVP und der SP verlief die Entwicklung uneinheitlich und auf der Verliererseite standen weiterhin die FDP und die CVP.
Mit der Zustimmung zur finanziellen Hilfe für die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder bekräftigte das Volk ein weiteres Mal seine Unterstützung für den Weg der bilateralen Abkommen mit der EU. Auch der Bundesrat bekannte sich in seinem im Berichtsjahr veröffentlichten Europa-Bericht zu dieser Zielsetzung und stufte den Beitritt zur EU vom strategischen Ziel zu einer Handlungsoption unter anderen zurück. Noch weiter ging der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, Economiesuisse, als er sich dezidiert gegen einen EU-Beitritt der Schweiz aussprach.
Das mit der EU abgeschlossene Abkommen über die Personenfreizügigkeit führte zu einer gewissen Umorientierung der Immigration. Der Anteil von wenig qualifizierten und meist sprachunkundigen Einwanderern sank zugunsten von gut qualifizierten Arbeitskräften namentlich aus Deutschland. Die weltweiten Migrationsbewegungen und der Familiennachzug von Personen, die in den neunziger Jahren vor allem aus Südosteuropa eingewandert waren, sorgen aber dafür, dass die Immigration weiterhin kulturelle, sprachliche, soziale und auch bildungsmässige Probleme schafft. Die drei bürgerlichen Parteien legten in Arbeitspapieren dar, wie diese gelöst werden könnten. Während die SVP primär auf repressive Massnahmen wie die Ausschaffung von verurteilten Kriminellen setzte, betonten die FDP und CVP die Bedeutung der Bildung für das Gelingen der Integration. Gemeinsam engagierten sich die bürgerlichen Parteien für die vom Volk gutgeheissenen Verschärfungen im Asylrecht, die von der Linken als menschenrechtswidrig bekämpft worden waren.
Die Wirtschaft entwickelte sich im Berichtsjahr weiterhin sehr positiv, einen grossen Anteil daran hatte erneut die Exportwirtschaft. Die Inflationsrate blieb trotz der boomenden Konjunktur gering und die Arbeitslosigkeit nahm weiter ab. Diese weitgehend problemfreie Situation mag dafür verantwortlich sein, dass die als exorbitant empfundenen Löhne und Entschädigungen von einigen Spitzenmanagern der Finanz- und Pharmabranche zum wohl meistdebattierten Thema der Wirtschaftspolitik werden konnten, zu dem auch eine Volksinitiative lanciert wurde. Die Liberalisierung im Bereich der Infrastrukturen kam nur harzig voran. Zwar stand der zweite, gemässigtere Versuch für eine Liberalisierung des Elektrizitätsmarkts zu Jahresende im Parlament knapp vor dem Abschluss. Eine aus der CVP und der Linken gebildete Mehrheit sorgte aber dafür, dass der Nationalrat den Vorschlag des Bundesrates ablehnte, die Swisscom zu privatisieren. Der Bundesrat bekräftigte im Bericht „Agrarpolitik 2011“ seine Absicht, die Liberalisierung der Landwirtschaftspolitik in kleinen Schritten fortzusetzen. Die Bauernverbände und ihre Alliierten von der SVP und der CVP im Parlament akzeptierten diese Strategie, setzten sich aber für ein noch langsameres Reformtempo und mehr finanzielle Mittel zur Abfederung von Einkommensverlusten ein.
Die öffentlichen Finanzen entwickelten sich vor allem dank stark angewachsener Steuereinnahmen sehr positiv. Die Staatsrechnung des Bundes schloss mit einem Überschuss von 2,5 Mia Fr. ab und übertraf damit die budgetierten Erwartungen bei weitem. Auch die grosse Mehrheit der Kantone verzeichnete im Berichtsjahr positive Rechnungsabschlüsse. Dadurch entstand Spielraum für Steuersenkungen namentlich für Familien und Unternehmen. In vielen Kantonen wurden entsprechende Beschlüsse von den Parlamenten oder in Volksabstimmungen gefasst. Auf Bundesebene akzeptierte das Parlament die vom Bundesrat beantragten Sofortmassnahmen zur steuerlichen Entlastung von Familien, und es nahm die Beratungen über die Senkung der Unternehmenssteuern auf. Parallel dazu mühte sich der Bundesrat ohne grossen Erfolg mit der Überprüfung der Bundesausgaben auf weitere Sparpotentiale ab. Die Entflechtung der Zuständigkeiten im föderalistischen Bundesstaat kam einen grossen Schritt voran: Das Parlament hiess die Ausführungsgesetzgebung zur neuen Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen gut und der Bundesrat legte die dazu gehörenden Finanzierungsbeschlüsse vor.
Der wichtigste Entscheid im Bereich der Sozialversicherungen fiel bei der chronisch hoch defizitären Invalidenversicherung. Die Frage der zukünftige Finanzierung und dabei vor allem die Entkoppelung von der AHV-Kasse wurde zwar zurückgestellt. Die vom Parlament beschlossene 5. IV-Revision schuf aber die Voraussetzungen, um den weiteren Kostenanstieg einzudämmen. Der Leitsatz „Eingliederung vor Rente“ und die diesem Zweck dienenden Mittel wie z.B. die Früherkennung von Krankheitsfällen waren unbestritten. Einzelne Massnahmen, wie etwa die Aufhebung der Zusatzrenten für Ehepartner, stiessen jedoch bei einigen Behindertenorganisationen und bei den linken Parteien auf derart starken Widerstand, dass diese gegen die gesamte Reform das Referendum ergriffen. Die 2. Revision des Krankenversicherungsgesetzes wurde vom Ständerat beraten und kam nur schleppend voran. Einig war sich die Parlamentsmehrheit aber darin, dass es sich weder bei der von linker Seite eingereichten Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse, noch bei der SVP-Initiative für eine massive Leistungskürzung in der Grundversicherung um sinnvolle Reformkonzepte handelt.
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H.H.