Année politique Suisse 2006 : Infrastruktur und Lebensraum / Erhaltung der Umwelt / Natur- und Heimatschutz
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Verbandsbeschwerderecht
Im Mai reichte die FDP Zürich ihre eidgenössische Volksinitiative „Verbandsbeschwerderecht: Schluss mit der Verhinderungspolitik – Mehr Wachstum für die Schweiz!“ ein. Das Begehren verlangt, dass Umweltverbände keine Beschwerde mehr erheben können gegen Projekte, die bei Volks- oder Parlamentsabstimmungen auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene gutgeheissen worden waren. 16 Umweltverbände wehrten sich gegen den Vorwurf des Missbrauchs des Beschwerderechts. So hätten 2005 in 78% von 244 Verfahren Korrekturen zugunsten der Natur vorgenommen werden müssen. Im September gab der Bundesrat bekannt, er lehne die Volksinitiative ab und setze auf die Revision des Verbandsbeschwerderechts im Parlament [39].
Im Herbst behandelte der Nationalrat die das Verbandsbeschwerderecht betreffenden Änderungen des Umweltschutz- und des Heimatschutzgesetzes. Er folgte fast durchgehend den Beschlüssen der kleinen Kammer. Bei der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) strich er mit 86:84 Stimmen jedoch die Bestimmung, wonach die Behörden parlamentarischen und Volksentscheiden explizit Rechnung zu tragen haben; mit diesem Passus hatte der Ständerat ein wichtiges Element der Initiative der FDP Zürich aufnehmen wollen. Bundesrat Leuenberger und die Kommissionsmehrheit bezeichneten es als selbstverständlich, dass das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit in die Beurteilung von Bauprojekten einfliessen. Ferner beschloss der Rat, ebenfalls abweichend von der Fassung der kleinen Kammer, dass die Behörden eine Vereinbarung zwischen Gesuchsteller und beschwerdeführender Organisation zu berücksichtigen haben, falls sie dem Verwaltungsverfahren entspricht. Eine Minderheit wollte solche Verfahren für ganz unzulässig, resp. unzulässig erklären, falls sie öffentliches Recht betreffen. Bei den Verfahrenskosten folgte der Nationalrat dem Ständerat, dass unterlegene Umweltorganisationen die Kosten für die Beschwerdeführung vor Bundesbehörden in jedem Fall zu tragen haben. Das Geschäft passierte die Gesamtabstimmung mit 146:7 Stimmen bei 24 Enthaltungen [40].
In der Differenzbereinigung verzichtete der Ständerat auf die Bestimmung, wonach die Behörden Parlaments- und Volksentscheide zu einem Bauvorhaben bei der UVP besonders berücksichtigen müssen. Somit bleiben Verfassung und Umweltrecht allein massgebend. Beim Artikel über die Vereinbarungen zwischen Baugesuchstellern und Organisationen setzte sich die kleine Kammer hingegen durch, wonach solche Absprachen als gemeinsame Anträge an die Behörde anzusehen sind. In der Schlussabstimmung billigte der Ständerat die Vorlage mit 33:1 Stimmen bei einer Enthaltung, der Nationalrat mit 176:13 Stimmen bei 2 Enthaltungen [41].
Die Vereinigung „Helvetia nostra“ des Umweltschützers Franz Weber lancierte eine Volksinitiative „gegen masslosen Bau umwelt- und landschaftsbelastender Anlagen“. Sie verlangt, dass umwelt- und landschaftsbelastende Anlagen wie Industrie- und Gewerbekomplexe, Steinbrüche, Flugplätze, Einkaufszentren, Anlagen zur Abfallverwertung und -beseitigung, Verbrennungs- und Kläranlagen, Sportstadien, Anlagen für Sport und Freizeit, Vergnügungsparks, Parkhäuser und Parkplätze nur erstellt und erweitert werden dürfen, wenn dafür aus bildungs- oder gesundheitspolitischer, natur- oder landschaftsschützerischer Sicht gesamtschweizerisch ein dringendes Bedürfnis besteht und die Nachhaltigkeit sichergestellt ist [42].
 
[39] BBl, 2006, S. 5887 f.; Presse vom 12.5., 31.5. und 14.9.06. Siehe auch oben, Teil I, 6c (Raumplanung). Zur Revision siehe unten.
[40] AB NR, 2006, S. 1497 ff.; Presse vom 5.10.06; vgl. SPJ 2005, S. 172 f.
[41] AB SR, 2006, S. 970 ff., 1133 und 1264; AB NR, 2006, S. 1821 ff. und 2044 f.; BBl, 2007, S. 9 ff.; Presse vom 15.12.06. Abgeschrieben wurden die Motionen der SVP-Fraktion, Offenlegungspflicht für Beiträge an Nichtregierungsorganisationen, Scherer (svp, ZG), Abschaffung der UVP-Pflicht in der Landwirtschaft, Rutschmann (svp, ZH), Vereinfachung der UVP, der SP-Fraktion, Genehmigungsbedürftigkeit von Vereinbarungen in Verwaltungsverfahren, und Giezendanner (svp, AG), Ausschluss des VCS vom Verbandsbeschwerderecht (AB NR, 2006, S. 1130, 1139, 1589 und 1593 sowie Beilagen IV, S. 114 f. und 128 f.).
[42] BBl, 2006, S. 5233 ff.; Presse vom 10.5.06. Zur zweiten Volksinitiative von Helvetia nostra, „Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen“, siehe oben, Teil I, 6c (Bodenrecht).