Année politique Suisse 2006 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
Auf Ersuchen des Bundesrates publizierten die OECD und die WHO einen gemeinsamen
Bericht zum schweizerischen Gesundheitswesen. Die beiden Organisationen betonten die Qualität der hiesigen Gesundheitsversorgung im Vergleich mit anderen OECD-Ländern, empfahlen aber, die hohen Kosten zu senken. Eine der wichtigsten Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels besteht ihrer Meinung nach in der
Verbesserung der staatlichen Steuerung des Gesundheitssystems, und zwar sowohl im Bereich der Versorgung wie bei der Prävention und der Gesundheitsförderung. Die Empfehlungen gingen weitgehend in die Richtung, die mit den verschiedenen Paketen der 2. KVG-Revision (Übergang von einer Finanzierung der Einzelleistungen hin zu Fallpauschalen, Lockerung des Kontrahierungszwangs, Einführung von Managed-Care-Netzen) sowie mit anderen bereits initiierten Massnahmen (Förderung der Generika sowie des interkantonalen Dialogs) bereits eingeschlagen worden ist. Den meisten Reformbedarf orteten OECD und WHO bei der
Prävention: Diese sei nicht nur zu zersplittert, weshalb die Schaffung eines Rahmengesetzes zu begrüssen wäre, sie sei auch zu wenig auf die dominierenden Probleme der öffentlichen Gesundheit (etwa Tabak- und Alkoholmissbrauch) oder auf bisher noch nicht genügend beachtete Aspekte (wie psychische Gesundheit und Übergewicht) ausgerichtet. Zudem sollten nationale Programme zur Qualitätsverbesserung in einigen Schlüsselbereichen gefördert und die Bedingungen für den Bezug von Krankenkassenprämienverbilligungen vereinheitlicht werden
[1].
Wie eine vom BFS und vom BASPO gemeinsam veröffentlichte Studie zeigte, bewegen sich zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung aus gesundheitlicher Sicht zu wenig. Immerhin die Hälfte der Bevölkerung bewältigt aber zumindest einen Teil der täglichen Wegstrecken zu Fuss oder mit dem Fahrrad. Es sind auch nicht alle Bevölkerungsgruppen vom
Bewegungsmangel gleich betroffen. Mit dem
Alter nimmt der Bewegungsmangel zu. Ein deutlicher Rückgang der sportlichen Aktivitäten zeigt sich zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr sowie ab dem 74. Altersjahr. In jungen Jahren sind die Männer deutlich aktiver als die Frauen. Da danach aber das sportliche Niveau bei den Frauen weniger steil abfällt, zeigen Frauen und Männer im Alter zwischen 35 und 65 Jahren ein vergleichbares Bewegungsmuster. Mit dem
sozialen Status steigt auch das Aktivitätsverhalten: Personen mit einem mittleren oder hohen Bildungsniveau sowie einem überdurchschnittlichen Haushalteinkommen bewegen sich mehr als Personen aus tieferen sozialen Schichten. Unterdurchschnittlich ist das Bewegungsniveau der ausländischen Wohnbevölkerung, wobei die Bewegungsdefizite bei den 15- bis 34-jährigen Ausländerinnen besonders gross sind. In der Deutschschweiz ist der Bewegungsmangel weniger ausgeprägt als in der lateinischen Schweiz
[2].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat den Bundesrat mit einer Motion verpflichten wollen, für die
Qualitätssicherung und Patientensicherheit in der medizinischen Behandlung zu sorgen. Der Ständerat hatte den Auftrag aus Rücksicht auf die Kantonshoheit im Gesundheitswesen dahingehend abgeschwächt, dass der Bund nur für die Steuerung, die Regulierung und die Koordination dieser Fragen zuständig sein soll. Dieser Sicht schloss sich nun auch die grosse Kammer an
[3].
Der Ständerat überwies diskussionslos ein Postulat Sommaruga (sp, BE), das den Bundesrat um einen Bericht ersucht, der die Gründe für die enormen
regionalen Unterschiede in der Abgabe und Verschreibung von medizinischen Leistungen eruiert, sowie Massnahmen vorschlägt, mit welchen im Sinne von Artikel 56 KVG (Wirtschaftlichkeit) und Artikel 58 KVG (Qualitätssicherung) sowohl eine Unterversorgung der Bevölkerung als auch eine gesundheitlich wie ökonomisch schädliche Überversorgung verhindert werden können
[4].
Die Eidg. Kommission für Grundsatzfragen der Krankenversicherung (EGK) nahm von zwei von ihr in Auftrag gegebenen Studien zur impliziten
Rationierung im Gesundheitswesen Kenntnis. Diese kamen zum Schluss, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz hochstehend ist, zwischen einzelnen Kantonen und Regionen aber Unterschiede im Zugang zur Versorgung bestehen. Aus diesen Unterschieden allein lässt sich gemäss EGK nicht auf eine bewusste Rationierung schliessen, jedoch müsse ein Augenmerk auf besondere Risikogruppen (ältere Personen, geistig Behinderte, psychisch Kranke und sozial Benachteiligte) gelegt werden
[5].
Trotz sehr guter technischer und organisatorischer Voraussetzungen liegt die Schweiz bei den elektronischen Gesundheitsdiensten („E-Health“) im internationalen Vergleich im Rückstand. Die föderalistische Organisation der Gesundheitsversorgung fördert zwar praxisnahe Lösungen, erschwert aber ein einheitliches System. Der Bundesrat beauftragte deshalb das EDI im Januar, bis Ende 2006 ein Konzept für eine
nationale Strategie „E-Health“ mit Massnahmen vorzulegen. Der Mitte Dezember vorgestellte Entwurf setzte Schwerpunkte in den Bereichen elektronische Patientendossiers, Online-Informationen und Online-Dienste sowie Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen
[6].
Im Einvernehmen mit dem Bundesrat nahm der Nationalrat eine Motion Noser (fdp, ZH) an, die einen Ausbau der 2004 in der laufenden KVG-Revision beschlossenen Versichertenkarte zu einem eigentlichen
Gesundheitspass verlangt, der die Patientenerkennung vereinfacht, medizinische Notfalldaten beinhaltet und einen sicheren Zugang zu persönlichen Gesundheitsinformationen ermöglicht. Es seien darüber hinaus Gesundheitsinformationsnetze zwischen den Versorgungsstationen (Krankenhäuser, Praxen, Laboratorien usw.) zu entwickeln, um den Informationsstand aller im schweizerischen Gesundheitswesen Beteiligten zu verbessern, aktuelle Daten zum Stand der Volksgesundheit zu eruieren und eine rasche Reaktion auf erkannte Gefahren bzw. Gefahrenquellen im Bereich der Gesundheit sicherzustellen. Teuscher (gp, BE), welche die Motion 2004 bekämpft hatte, plädierte erneut mit dem Argument des Datenschutzes gegen eine Annahme, unterlag jedoch mit 99 zu 46 Stimmen
[7].
Wegen der Ausbreitung der Vogelgrippe seit Herbst 2005 und der damit einhergehenden Risiken auch für die Menschen wurden die seit einiger Zeit in der Bundesverwaltung laufenden Arbeiten zur
Pandemievorsorge stark beschleunigt. Dabei zeigte sich, dass mit Blick auf die hinreichende Versorgung der Bevölkerung mit Heilmitteln, insbesondere mit Impfstoffen, im Fall einer Pandemie der Bund nicht über die nötigen gesetzlichen Kompetenzen verfügt. Der Bundesrat unterbreitete deshalb dem Parlament eine Änderung des Epidemiengesetzes, die ihm erlaubt, noch vor Ausbruch einer Pandemie die Versorgung der Bevölkerung auch mit anderen Heilmitteln als immunbiologischen Erzeugnissen sicherzustellen. Im Blickfeld stehen neben Impfstoffen vor allem antivirale Medikamente und Medizinprodukte (z.B. Schutzmasken). Beide Kammern stimmten der Änderung diskussionslos zu
[8].
Trotz Kritik am Vorgehen des Bundesrats bewilligte der Nationalrat einen Kredit von knapp 75 Mio Fr. für den Kauf von Impfstoffen gegen eine
mögliche Grippepandemie. Der Betrag ist Teil eines umfassenden Schutzkonzepts im Umfang von 186,2 Mio Fr. Kritik am Vorgehen des Bundesrats, der den Rahmenkredit erst nachträglich auf Antrag des EDI in den Voranschlag 2007 einfügte hatte, wurde vor allem von den Fraktionen der CVP und der SVP geübt. Die beiden Parteien zeigten sich über die plötzliche Eile der Landesregierung irritiert und sprachen von einem Konzept, das im internationalen Vergleich sehr teuer sei. Finanzminister Hans-Rudolf Merz verteidigte hingegen das Vorgehen des Bundesrats. Gemäss dem Schutzkonzept soll die Schweiz im Fall einer Grippeseuche schon im Jahr 2007 über Impfstoff für die gesamte Bevölkerung verfügen. Dafür sollen rund acht Millionen Dosen eines Präpandemie-Impfstoffs beschafft werden. Der Ständerat stimmte, wenn auch ebenfalls etwas murrend, zu
[9].
[1]
Lit. OECD;
CHSS, 2007, S. 38-43 (ausführliche Zusammenfassung); Presse vom 20.10.06. Zur KVG-Revision siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[2] Presse vom 12.4.06. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu einer Ip. Darbellay (cvp, VS):
AB NR, 2006, S. 495.
[3]
AB NR, 2006, S. 211; siehe
SPJ 2005, S. 182. Der NR nahm im Einverständnis mit dem BR ein Postulat Heim (sp, SO) an, das ihn auffordert, Modelle positiver Anreize zur Förderung der Qualitätssicherung in der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung sowie die dafür notwendigen rechtlichen Grundlagen zu prüfen (
AB NR, 2006, S. 490).
[6] Presse vom 16.12.06. Siehe auch die Beantwortung einer Frage bezüglich E-Health im NR (
AB NR, 2006, S. 1745). Ebenfalls mit Zustimmung des BR wurde ein Postulat Stump (sp, AG) überwiesen, das die Regierung ersucht, die Grundlagen für einen optimalen Einsatz von Telemedizin zu schaffen und die entsprechenden Berichte erarbeiten zu lassen (
AB NR, 2006, S. 490).
[7]
AB NR, 2006, S. 767 f. Für die Versichertenkarte vgl.
SPJ 2004, S. 194 f. Für Datenschutzprobleme im Gesundheitsbereich siehe die Antwort des BR auf eine noch nicht behandelte Ip. aus dem NR (Geschäft 06.3040);
TA, 2.2.06.
[8]
BBl, 2006, S. 5605 ff.;
AB NR, 2006, S. 1185 f. und 1606;
AB SR, 2006, S. 674 f. und 926;
AS, 2006, S. 4137 f.
[9]
AB NR, 2006, S. 1663 ff.;
AB SR, 2006, S. 1090 ff. Siehe dazu auch die Stellungnahmen des BR zu einer Ip. im SR (
AB SR, 2006, S. 479), zu einer Ip. im NR (
AB NR, 2006, S. 2037) sowie zu zwei Fragen im NR (
AB NR, 2006, S. 158 und 310).
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