Année politique Suisse 2006 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Suchtmittel
Die 11- bis 15-jährigen
Jugendlichen in der Schweiz trinken und rauchen heute weniger als noch vor vier Jahren. Auch der Aufwärtstrend beim Kiffen wurde gestoppt. Dies ergab die 2006 durchgeführte Schülerstudie der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA). Die Befragung von 9800 Jugendlichen zeigte, dass rund ein Viertel der 15-jährigen Knaben und 17% der Mädchen mindestens einmal wöchentlich Alkohol konsumieren. Dies bedeutet einen
massiven Rückgang im Vergleich zur Umfrage vor vier Jahren, als noch ein Drittel der Knaben und 21% der Mädchen dieser Altersgruppe wöchentlich Alkohol zu sich nahmen. Auch beim „blauen Dunst“ ist die Entwicklung laut SFA erfreulich. So rauchten im Berichtsjahr rund 15% der 15-jährigen Knaben mindestens wöchentlich und 10% täglich. Vier Jahre zuvor hatten noch über 23% wöchentlich und über 16% täglich zur Zigarette gegriffen. Bei den Mädchen sank das wöchentliche Rauchen von gut 23% auf knapp 15%, das tägliche von knapp 16% auf noch 10%. Beim Cannabis-Konsum konnte laut SFA der Aufwärtstrend gestoppt werden: Im Jahr 2006 gaben 34% der 15-jährigen Knaben und 27% der gleichaltrigen Mädchen an, schon einmal Cannabis ausprobiert zu haben. 2002 waren es 46% der Knaben und 37% der Mädchen gewesen. Laut SFA liegen die aktuellen Cannabis-Konsumraten wieder etwa auf der Höhe von 1998, womit der seit 1986 stetig steigende Konsumtrend gestoppt sei. Die Gründe für den Konsumrückgang sind laut SFA vielfältig und je nach Substanz unterschiedlich. Beim Rauchen wirke die verstärkte Sensibilisierung durch Präventionskampagnen und die breite Debatte zum Passivrauchen. Auch das Rauschtrinken der Jugendlichen sei in Öffentlichkeit, Medien und Politik stark thematisiert worden. Beim Cannabis schliesslich habe nach jahrelanger Banalisierung die Diskussion über die Gefahren wieder eingesetzt
[24].
Den Raucherinnen und Raucher in der Schweiz weht zusehends ein rauerer Wind entgegen. Im März stimmten die Stimmberechtigten des Kantons
Tessin mit einer Mehrheit von fast 80% einer Änderung des Gastgewerbegesetzes zu, die ein generelles Rauchverbot in öffentlich zugänglichen geschlossenen Räumen verfügt, also auch in allen Gastrobetrieben, es sei denn, diese verfügten über ein abgeschlossenes und belüftetes so genanntes Fumoir; die Lega hatte gegen die Gesetzesänderung das Referendum ergriffen
[25]. Im November befürwortete auch eine Mehrheit der Stimmberechtigten des Kantons
Solothurn in einer Variantenabstimmung (Rauchverbot in Räumen, die der Kantonsverwaltung unterstellt sind, vs. generelles Rauchverbot in allen öffentlich zugänglichen Räumen, also auch in der Gastronomie) mit einer Mehrheit von rund 60% die schärfere Variante, wobei auch hier abgetrennte Räume für Raucher weiterhin zugelassen werden
[26].
In mehreren weiteren Kantonen sind Volksinitiativen, parlamentarische Vorstösse usw. zum Thema Passivrauchschutz hängig. Um dem kantonalen Wildwuchs Einhalt zu gebieten, befasst sich eine Subkommission des Nationalrates seit 2005 mit der Umsetzung einer parlamentarischen Initiative, die eine
gesamtschweizerische Regelung über das Arbeitsgesetzt anstrebt. Sukkurs erhielten diese Arbeiten durch einen Bericht des Bundesrates in Umsetzung eines 2002 überwiesenen Postulats der WAK des Nationalrates, das die Regierung ersucht hatte, verbindliche Richtlinien zum Schutz der Bevölkerung vor dem Passivrauchen zu erlassen. In seinem Bericht kam der Bundesrat zum Schluss, dass vieles dafür spricht, das Rauchen vom Arbeitsplatz und aus öffentlich zugänglichen Räumen zu verbannen; durch ein Rauchverbot an bestimmten Orten würden weder die persönliche noch die Wirtschaftsfreiheit in massgeblicher Art und Weise tangiert. Anlass zum Handeln sah der Bundesrat allerdings nicht, sondern wollte vorerst die konkreten Vorschläge des Parlaments abwarten. Im September schickte die zuständige Kommission einen Revisionsentwurf in die Vernehmlassung, der im Arbeitsgesetz die generelle Rauchfreiheit jedes Arbeitsplatzes stipuliert
[27].
SP, EVP und (mit gewissen Vorbehalten) die CVP sowie Organisationen zum Schutz der Gesundheit begrüssten den Vorschlag des Bundesrats, den
Tabak zum selber Rollen markant zu verteuern, als längst fällige Massnahme. Die Preise sollen auf EU-Niveau angehoben werden. Mit der Verteuerung von Tabak zum selber Drehen werde ein finanzielles Schlupfloch für Raucher gestopft, heisst es in der Vernehmlassung. Die Änderung des Bundesgesetzes über die Tabakbesteuerung sieht vor, dass die Besteuerung von Zigarren, Zigarillos und Schnitttabak schrittweise auf EU-Niveau angehoben wird. Während die Steuersätze für Zigarren, Zigarillos und Pfeifentabak dabei nur leicht steigen, will der Bundesrat die Belastung des Schnitttabaks verfünffachen. Bisher war der Tabak zum selber Rollen nämlich viel tiefer besteuert worden als die „normalen“ Zigaretten. Dies verlockte viele Raucherinnen und Raucher zum Umsteigen auf die Selbstgedrehten und sabotierte die Tabakprävention
[28].
Im Einvernehmen mit dem Bundesrat überwies der Ständerat ein Postulat Marty Kälin (sp, ZH), das diesen einlädt darzulegen, wie das
Verkaufsverbot von Alkohol an Jugendliche durchgesetzt werden kann. Er soll dabei insbesondere auch prüfen, ob der Entzug des Alkoholverkaufspatentes nach Missachtung des Verkaufsverbotes zum Ziel führen könnte
[29].
Mit 105 994 gültigen Unterschriften kam die Volksinitiative «für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamem Jugendschutz»
(„Hanfinitiative“) zustande. Sie verlangt, dass der Anbau, Erwerb, Besitz und Konsum von psychoaktiven Substanzen der Hanfpflanze straffrei wird. Der Bund soll Vorschriften über Anbau, Herstellung, Ein- und Ausfuhr erlassen und dabei durch geeignete Massnahmen sicherstellen, dass dem Jugendschutz angemessen Rechnung getragen wird. Werbung für psychoaktive Substanzen der Hanfpflanze sowie Werbung für den Umgang mit diesen Substanzen bleiben verboten. Obschon die Initiative Forderungen enthält, die in wesentlichen Teilen der bisherigen Stossrichtung des Bundesrates in der Cannabisfrage entsprechen, empfahl der Bundesrat dem Parlament Ende Jahr die Ablehnung der Initiative. Er betonte, diese negative Stellungnahme bedeute keine Haltungsänderung. Da die SGK des Nationalrates aber entschieden habe, dem Parlament einen Vorschlag zur Hanffrage zu unterbreiten, wolle er diesem nicht vorgreifen. Zudem sollte die Cannabisproblematik seiner Meinung nach im Rahmen der restlichen Suchtpolitik und nicht auf Verfassungsstufe geregelt werden
[30].
Nach dem Scheitern der
Revision des Betäubungsmittelgesetzes 2004 in der grossen Kammer hatte die SGK des Nationalrates 2005 beschlossen, die unbestrittenen Elemente der Revision, insbesondere das 4-Säulen-Konzept (Prävention inklusive Jugendschutz, Therapie, Schadensverminderung – beispielsweise durch die medizinisch kontrollierte Heroinabgabe – und Repression) mit einer parlamentarischen Initiative wieder aufzunehmen. Im Mai legte die Kommission ihre Vorschläge für eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes vor. Der Bundesrat war damit weitgehend einverstanden
[31].
Bereits in der Eintretensdebatte wurde in erster Linie die heroingestützte Behandlung
Schwerstsüchtiger ins Zentrum gerückt. Um die Behandlung des brisanten Geschäfts zu verzögern, reichte Ruey (lp, VD) einen Rückweisungsantrag an die Kommission ein. Er erklärte, die Heroinabgabe müsse vertieft untersucht werden, bevor man den auf Ende 2009 befristeten Bundesbeschluss in ordentliches Recht überführe. Support erhielt er von Bortoluzzi (svp, ZH), der die entsprechenden Untersuchungen des BAG als zu wenig neutral einstufte. Bundesrat Couchepin widersprach und wies auf zahlreiche Studien hin, welche die Wirksamkeit der Heroinabgabe belegen (weniger Drogentote, gesündere Konsumenten, geringere Beschaffungskriminalität). Rueys Antrag wurde deutlich mit 61 zu 11 Stimmen abgelehnt. In der Detailberatung meldeten sich die Befürworter einer strengen Abstinenzpolitik erneut wortreich: Die Heroinabgabe habe nichts mit Menschenliebe zu tun (Freysinger, svp, VS), sei sogar menschenverachtend (Waber, edu, BE). Dem hielten die Befürworter gegenüber, sie rette Menschenleben (Gutzwiller, fdp, ZH) und sei mittlerweile auch von der WHO als Therapiemöglichkeit für Schwerstsüchtige anerkannt (Ménetrey-Savary, gp, VD). Die
medizinisch indizierte Heroinabgabe passierte schliesslich mit 111 zu 73 Stimmen, die gesamte Revision mit 106 zu 65. Nicht durchsetzen konnte sich der Bundesrat mit seinem Wunsch, Heroin aus der Liste der verbotenen Stoffe in jene der verschreibbaren Betäubungsmittel umzuklassieren. Couchepin plädierte vergeblich, dabei handle es sich um eine reine Frage der Logik. Um nicht noch einmal die gesamte Vorlage zu gefährden, wurde dieser Antrag mit 106 zu 70 Stimmen mit dem Argument verworfen, dies könne auch auf Verordnungsstufe geschehen. Im Fall einer Zustimmung durch den Ständerat drohte die EVP/EDU-Fraktion bereits mit einem Referendum, dem sich wohl auch Teile der SVP anschliessen dürften; damit könnte das Stimmvolk zum zweiten Mal nach 1999 über die heroingestützte Therapie befinden
[32].
[24] Presse vom 21.2.07. Siehe auch
SPJ 2003, S. 213. Laut einem Positionspapier der SP soll der Konsum von sämtlichen Drogen für Erwachsene straffrei werden. Die Partei begründet ihr Anliegen damit, dass auch ein Suizidversuch oder andere Selbstgefährdungstaten rechtlich nicht geahndet werden. Nach wie vor unter Strafe gestellt werden soll nach dem Willen der SP der Kauf und Handel mit Drogen. Erwachsene, die Drogen, einschliesslich Alkohol und Zigaretten, an Kinder und Jungendliche verkaufen, sollen stärker und vor allem konsequenter bestraft werden als bisher (Presse vom 7.12.06).
[25] Presse vom 13.3.06. Siehe
SPJ 2005, S. 186.
[26] Presse vom 27.11.06.
[27] Presse vom 11.3. (BR) und 9.9.06 (Kommission). Siehe
SPJ 2002, S. 204 und
2005, S. 186.
[29]
AB NR, 2006, S. 1574.
[30]
BBl,
2006, S. 1889 f. und
BBl,
2007, S. 245 ff. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR zu einer Ip. im NR (
AB NR, 2006, S. 2036). Vgl.
SPJ 2004, S. 179 und
2005, S. 187.
[31]
BBl, 2006, S. 8573 ff. und 8645 ff. Siehe
SPJ 1999, S. 256 ff.,
2004, S. 178 f. und
2005, S. 187.
[32]
AB NR, 2006, S. 1837 f., 1856 ff., 1869 ff. und 2003 ff.; Presse vom 21.12.06. Auf Antrag des BR lehnte der NR eine Motion Wasserfallen (fdp, BE) ab, welche eine deutliche Verschärfung der 4-Säulen-Politik des Bundes sowie ein klar verankertes Verbot des Cannabiskonsums verlangte; das relativ knappe Stimmenverhältnis (90:80) zeigte aber die nach wie vor bestehende Gespaltenheit der grossen Kammer (
AB NR, 2006, S. 771 ff.).
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