Année politique Suisse 2006 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlingspolitik
Der Bundesrat reagierte auf den markanten Rückgang der Zahl neuer Asylgesuche in den beiden vorangegangenen Jahren und
reduzierte die Infrastruktur im Asylbereich. Statt wie bisher auf 20 000 ist sie nur noch auf 10 000 Gesuche ausgerichtet. Für den Fall, dass die Gesuchszahlen durch Krisen markant ansteigen sollten, wurde ein Notfallplan erarbeitet. Als weitere Massnahme wurde die Aufenthaltsdauer in den Empfangsstellen von 30 auf 60 Tage verdoppelt, dadurch kann ein Grossteil der Asylgesuche bereits dort behandelt werden. Die Entschädigung der Kantone für die Nothilfe an Asylbewerber auf deren Gesuche nicht eingetreten worden war, wurde unmittelbar von 600 Fr. auf 1800 Fr. erhöht. Mit dem Ziel, die freiwillige Rückkehr zu fördern und die Infrastruktur für Asylsuchende weiter zu entlasten wurden schliesslich die Programme zur Rückkehrhilfe ausgedehnt. Neu können auch Personen mit noch nicht rechtskräftigem Nichteintretensentscheid sowie solche, deren Ausreisefrist abgelaufen ist, profitieren
[18].
Im Juni unterzeichnete der Bundesrat ein
Rückübernahmeabkommen mit Algerien. Es ist die erste derartige Vereinbarung mit einem Maghrebstaat. Das Abkommen muss noch vom Parlament genehmigt werden
[19].
Im Berichtsjahr anerkannte die Asylrekurskommission (ARK) in zwei Grundsatzurteilen die
nicht-staatliche Verfolgung als Asylgrund. Das erste Urteil betraf einen Somalier, der in seiner Heimat unter gezielter ethnischer Verfolgung gelitten hatte, und das zweite eine Äthiopierin, die vor einer Zwangsheirat geflüchtet war. In beiden Fällen ging die Verfolgung nicht von einer staatlichen Instanz aus, und daher hatte das Bundesamt für Migration die Asylgesuche in Übereinstimmung mit der bisherigen schweizerischen Praxis abgelehnt. Indem die ARK die beiden Rekurse guthiess und den Betroffenen Asyl gewährte, stellte sie die Schutztheorie in den Vordergrund. Gemäss dieser ist nicht massgeblich, ob die Verfolgung dem Staat zugerechnet werden kann, sondern ob das Opfer vom Staat Schutz erhält oder nicht. Damit passte die Schweiz ihre Praxis den internationalen Standards an und bekannte sich wie die meisten europäischen Länder zu dieser grosszügigeren Auslegung der Flüchtlingskonvention
[20].
In einem weiteren Grundsatzurteil der Asylrekurskommission (ARK) wurde festgehalten, dass Flüchtlinge unter gewissen Umständen in der Schweiz
auch dann noch ein Asylgesuch stellen können, wenn sie in einem EU-Staat bereits erfolglos um Asyl ersucht haben. Gemäss Art. 32 des schweizerischen Asylgesetzes ist auf ein Gesuch nicht einzutreten, wenn ein Gesuchsteller in einem EU-Land bereits einen ablehnenden Entscheid erhalten hat. Damit sollen unbegründete Gesuche verhindert werden. Gemäss der ARK schliesst dieser Artikel allerdings nicht aus, dass auf ein Asylgesuch dennoch eingetreten wird, wenn trotz des ausländischen Entscheids die Vermutung besteht, dass die Person ein Flüchtling sein könnte
[21].
Auf Asylgesuche aus Benin, Kroatien, Mali, Moldawien (ohne Transnistrien), Montenegro und der Ukraine wird künftig nicht mehr eingetreten. Der Bundesrat setzte diese Länder Ende Jahr auf die Liste der verfolgungssicheren Staaten. Bis anhin galten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Gambia, Ghana, Indien, Mazedonien, die Mongolei, Rumänien, Senegal sowie alle EU- und EFTA-Staaten als so genannte
Safe Countries. Auf Asylgesuche oder Beschwerden von Personen aus diesen wird nur eingetreten, falls Hinweise auf eine Verfolgung vorliegen. Massgebliche Kriterien für die Bezeichnung eines Staates als verfolgungssicher sind die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Anwendung internationaler Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen. Neu können jedoch Regionen innerhalb eines Safe Country als nicht verfolgungssicher erklärt werden
[22].
Zur Debatte um die „Albisgüetlirede“ von Justizminister Blocher siehe oben, Teil 1, 1c (Regierung).
[18]
AZ, NZZ und
TA, 2.3.06. Vgl
. SPJ 2004, S. 205 und
2005, S. 205.
[19]
BBl 2006, S. 7797 ff.
[20]
BaZ und
NZZ, 16.6.06 (Urteil gegen den Somalier);
Bund und
NZZ, 27.10.06 (Urteil gegen die Äthiopierin).
[21]
Bund,
LT und
NZZ, 17.11.07.
[22] Presse vom 8.12.06. Mit einer abgewiesenen Motion versuchte NR Müller-Hemmi (sp, ZH) zu erreichen, Bosnien-Herzegowina wieder von der Liste der safe countries zu streichen, da es auch nach Ansicht des UNHCR nach wie vor nicht verfolgungssicher sei (
AB NR, 2006, S. 241 ff.).
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