Année politique Suisse 2006 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Familienpolitik
In der Frühjahrssession beschloss der Ständerat mit 23 zu 19 Stimmen, entgegen dem Antrag der Kommission dem Nationalrat zu folgen und die Kinderzulagen
gesamtschweizerisch auf
mindestens 200 Fr. pro Kind und auf 250 Fr. pro Jugendlichen in der Ausbildung festzusetzen. Die Kommissionsmehrheit argumentierte erneut, die Harmonisierung der Kinderzulagen bedeute einen unzulässigen Eingriff in die kantonale Hoheit in Fragen der Familienpolitik, da künftig nur noch Raum für weitergehende kantonale Lösungen bestehe. Die kleine Kammer folgte dem Nationalrat auch bei der Bestimmung, dass für die Höhe der Zulage nicht der Hauptsitz des Arbeitgebers, sondern dessen lokale Niederlassung relevant ist, weil das sonst dazu führen könnte, dass Arbeitnehmer mit identischem Wohn- und Arbeitsort unterschiedliche Zulagen erhalten. Fest hielt sie aber, und zwar stillschweigend, am zweiten „Schicksalsartikel“ der Vorlage, nämlich an ihrer Weigerung, auch die
Selbständigerwerbenden einzubeziehen. Weniger aus Überzeugung denn aus pragmatischen Gründen, um die Vorlage, die sich in verschiedener Form nun schon 15 Jahre hingezogen hatte, nicht im Endspurt noch zu gefährden, stimmte der Nationalrat hier schliesslich diskussionslos zu. Eine letzte Differenz, nämlich die Lösung der Ausgabenbremse, um das Regime der Kinderzulagen in der Landwirtschaft, die vom Bund ausgerichtet werden, an jenes der übrigen Arbeitnehmenden anzugleichen, konnte im Sinn des Nationalrates (Zustimmung) ausgeräumt werden. In der Schlussabstimmung wurde der Entwurf im Nationalrat mit 106 zu 85 Stimmen (fast die geschlossenen Fraktionen von FDP und SVP) angenommen, im Ständerat knapp mit 23 zu 21 Stimmen
[41].
Wie bereits während den Ratsdebatten angekündigt ergriff der Gewerbeverband das
Referendum gegen die Harmonisierung der Kinderzulagen, das Volk stimmte am 26. November darüber ab. Das Gesetz bildete einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative „für fairere Kinderzulagen“ der Gewerkschaft Travail.Suisse, in der landesweit einheitliche Kinderzulagen von 450 Fr. pro Kind gefordert wurden. Nachdem der Gewerbeverband das Referendum gegen das Familienzulagengesetz ergriffen hatte, beschloss Travail.Suisse, die Initiative zurückzuziehen und die dafür vorgesehenen Mittel für die Abstimmungskampagne gegen das Referendum einzusetzen
[42].
Im Vorfeld der Abstimmung kämpften neben dem
Gewerbeverband auch
Economiesuisse sowie
die SVP, die FDP und
die Liberalen gegen die Neuerung. Sie kritisierten die zusätzliche Belastung der Arbeitgeberseite, welche die Zulagen weitgehend finanzieren muss. Sie wandten ein, dass durch den einheitlichen Minimalsatz die Hoheit der Kantone eingeschränkt würde und dass die zusätzlichen Mittel nach dem Giesskannenprinzip verteilt würden, statt sie gezielt jenen Familien zufliessen zu lassen, die sie auch wirklich bräuchten. Für die SVP und den Gewerbeverband bildeten ferner die Zahlungen an Kinder im Ausland, wenn ihre Eltern in der Schweiz arbeiten, ein zentrales Argument gegen die Vorlage
[43].
Für die Harmonisierung der Familienzulagen sprachen sich
die SP, die GP und die übrigen linken Parteien, die CVP, die EVP, die EDU, die SD sowie
die Gewerkschaften aus. Sie begrüssten die nationale Harmonisierung und den verbindlichen Minimalsatz, der für die meisten Kantone eine Erhöhung der Leistungen bedeutet. Sie waren der Ansicht, durch die Vorlage könne die finanzielle Lage vieler Familien verbessert und Ungerechtigkeiten wegen unterschiedlichen Regelungen zwischen den Kantonen vermindert werden
[44].
Mit einem
Ja-Stimmenanteil von 68% hiess das Volk am 26. November die Harmonisierung der Familienzulagen klar gut. Das Gesetz wurde einzig in Appenzell Innerrhoden mit 54,4% abgelehnt. Am grössten war die Zustimmung mit 83,7% im Kanton Jura. Es ist dies jener Kanton, in dem die Familien vom neuen Gesetz am meisten profitieren werden, weil dort die Kinderzulagen am tiefsten waren. Auch die Kantone Neuenburg, Waadt und Bern, deren Zulagen ebenfalls deutlich unter dem künftigen Minimum lagen, stimmten der Harmonisierung mit Mehrheiten von über 70% zu. Mit Ausnahme von Genf lagen die durchschnittlichen Ja-Stimmenanteile in den Kantonen der Westschweiz und im Tessin höher als in der Deutschschweiz
[45].
Bundesgesetz über die Familienzulagen
Abstimmung vom 26. November 2006
Beteiligung: 45,0%
Ja: 1 480 796 (68,0%)
Nein: 697 415 (32,0%)
Parolen:
– Ja: CVP, SP, EVP, CSP, PdA, PSA, GPS, SD, EDU, Lega; SBV, SGB, Travail.Suisse.
– Nein: FDP (4*), SVP, LP, FPS; Economiesuisse, SGV.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Gemäss der Vox-Analyse waren für den Abstimmungsentscheid die
Einstufung auf der Links-Rechts-Achse und die
Parteisympathie ausschlaggebend. Personen die sich als links einstuften, nahmen die Vorlage fast einhellig an, diejenigen die sich in der Mitte einreihten stimmten ebenfalls klar dafür, während Befragte die sich als rechts einordneten, die Vorlage insgesamt knapp ablehnten. Die Parteiparolen wurden unterschiedlich befolgt. Während die Sympathisanten der SP fast geschlossen ein Ja in die Urne legten, wurde die FDP von ihrer Anhängerschaft förmlich desavouiert. 67% ihrer Sympathisanten hiessen die Vorlage gut, zu der die Partei die Nein-Parole gefasst hatte. Auch bei der SVP, die ebenfalls ein Nein empfohlen hatte, war die Zahl der Abweichler mit 42% überraschend hoch. Abtrünnige gab es auch bei der CVP, trotz der Ja-Parole der Partei stimmten 29% der Anhänger gegen das Gesetz. Die Vorlage wurde von allen Gesellschaftsschichten angenommen. Allerdings waren Personen mit tieferer Schulbildung skeptischer als Gutgebildete, und Ledige waren überraschenderweise positiver eingestellt als Verheiratete
[46].
[41]
AB SR, 2006, S. 95 ff., 179 und 299;
AB NR, 2006, S. 245 f. und 509 f. Im NR stimmten aus der FDP nur vier Ratsmitglieder (Bezzola, GR, Christen und Guisan, beide VD, und Egerszegi, AG) und aus der SVP ebenfalls vier (Gadient und Hassler, beide GR, Haller, BE und Siegrist, AG) zu. Das Geschäft geht auf eine Pa.Iv. der damaligen NR Fankhauser (sp, BL) zurück. Siehe
SPJ 2005, S. 212 f.
[42]
BBl, 2006, S. 6755 f.;
L’Express und
TA, 29.4.06.
[43] Zur Abstimmungskampagne siehe Presse vom 29.9.06-25.11.06;
NZZ, 12.10. und 21.10.06;
TA, 28.10.06.
[44]
AZ, 11.10.06;
SGT, 25.10.06.
[45]
BBl, 2007, S. 451 ff.; Presse vom 27.11.06.
[46] Hirter, Hans / Linder, Wolf,
Vox – Analyse der eidgenössischen Volksabstimmung vom 26. Nov. 2006, Bern und Zürich (IPW und gfs-Bern) 2006.
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