Année politique Suisse 2007 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Flüchtlingspolitik
Ende Dezember 2007 betrug der Gesamtbestand der Personen im Asylprozess 40 653 Personen, 9,4% weniger als im Vorjahr. Die Zahl der neu eingereichten Asylgesuche belief sich auf 10 387; im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Abnahme um 1,4%, womit der Trend gegenläufig zum restlichen Europa (+5,5%) war. Der Bestand der Personen in der Vollzugsphase ging um 31,9% zurück; die Zahl jener, für welche Papiere beschafft werden mussten, verringerte sich um 32,6%. An erster Stelle bei den Gesuchstellenden lag erstmals seit langem nicht Serbien (inkl. Kosovo), sondern Eritrea mit einem Anteil von 16%, gefolgt von Serbien, Irak, Türkei und Sri Lanka. Die Anerkennungsquote lag bei 20,8%, womit sie seit 2003 kontinuierlich zugenommen hat [15].
Die Zunahme der Gesuche aus Eritrea wurde mit einem Entscheid der Asylrekurskommission von 2006 in Zusammenhang gebracht, wonach ein eritreischer Flüchtling aufgenommen werden muss, weil Deserteuren und Militärdienstverweigerern in Eritrea Folter droht. Bundesrat Blocher leitete deshalb eine dringliche Änderung des Asylgesetzes ein, welche Deserteure und Militärdienstverweigerer von der vorläufigen Aufnahme ausnimmt, es sei denn, sie könnten eine politische Verfolgung geltend machen [16].
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Gesetzgebung
Auf den 1. Januar traten einzelne Bestimmungen aus dem revidierten Asylgesetz in Kraft: Nichteintreten wegen Papierlosigkeit, Zwangsmassnahmen und neue Härtefallregelung sowie die neue vorläufige Aufnahme, die den Betroffenen einen verbesserten Zugang zur Erwerbstätigkeit ermöglicht. Die übrigen Bestimmungen und die entsprechenden Ausführungsverordnungen wurden vom Bundesrat auf den 1.1.2008 in Kraft gesetzt [17].
welches der Ständerat im Vorjahr trotz Bedenken der SP über die zugelassenen Mittel und Methoden verabschiedet hatte [18].
Gegen einen Nichteintretensantrag Schelbert (gp, LU) und einen Rückweisungsantrag der SP-Fraktion trat der Nationalrat mit 124 zu 36 Stimmen auf den Entwurf ein. Die SP begrüsste zwar ein Gesetz, welches die Zwangsanwendung regelt, wandte sich aber gegen einzelne, ihrer Meinung nach erniedrigende Massnahmen. In der Detailberatung blieben Anträge des links-grünen Lagers zur Beschränkung der zugelassenen Hilfsmittel (Hunde, Fussfesseln) erfolglos. Im Gegenteil, der Rat fügte aufgrund eines Kommissionsantrags auch die Verwendung von so genannten nicht tödlich wirkenden Elektroschockgeräten (Taser) ein. Er verwarf aber einen Antrag Beck (lp, VD), wonach der Medikamenteneinsatz zur Ruhigstellung renitenter Personen zuzulassen sei. Zudem verbot er den Einsatz von Hilfsmitteln, welche die Atemwege behindern. In der Gesamtabstimmung nahm er das Gesetz mit 96 zu 60 Stimmen an. Einstimmig sprachen sich die FDP/LP- und die SVP-Fraktion dafür aus, bei der CVP alle ausser Kohler (JU), während Grüne und SP es geschlossen ablehnten [19].
Hauptgegenstand der Differenzbereinigung im Ständerat war der Einsatz von Tasern. Der Kommissionssprecher wies darauf hin, dass noch nicht bekannt sei, welche Spätfolgen der Einsatz dieser Methode haben könnte, und dass die Waffe bereits zu Todesfällen geführt habe; zudem hätten die Ergebnisse der Vernehmlassung gezeigt, dass der Taser sehr umstritten sei. Eine Minderheit Kuprecht (svp, SZ) wollte hier aber dem Nationalrat folgen. Damit der Ständerat seinen Beschluss in vollständiger Kenntnis der Sachlage fassen könne, hielt Marty (fdp, TI) einen wissenschaftlichen Bericht über die Folgen der Verwendung von Tasern für unabdingbar. Bundesrat Blocher empfahl im Namen des Bundesrates ebenfalls, diese Bestimmung aufgrund der zahlreichen Unsicherheiten abzulehnen. Mit 28 zu 11 Stimmen folgte der Rat dem Antrag der Mehrheit [20].
Im Nationalrat erklärte Bundesrat Blocher noch einmal, dass der Einsatz von Tasern nicht für Zwangsausschaffungen konzipiert sei, sondern für Amokläufe und schwere Gewaltverbrechen, weshalb er sich dafür aussprach, zumindest im jetzigen Zeitpunkt auf die Aufnahme dieser Waffe in dieses Gesetz zu verzichten. Dennoch beharrte die grosser Kammer – wenn auch knapp – auf der Differenz. Erneut stimmten die Fraktionen von GP und SP einhellig dagegen, daneben aber auch eine zunehmende Menge von FDP-Abgeordneten und eine knappe Mehrheit der CVP. Einzig die SVP votierte – mit Ausnahme von Gadient (GR) – noch praktisch geschlossen dafür. Im Ständerat wollte sich eine Kommissionsmehrheit nun dem Nationalrat anschliessen, weil viele Kantone den Taser in ihren Einsätzen bereits anwendeten und der Bundesrat ja versichert habe, dass diese Waffe zur Durchsetzung dieses Gesetzes nicht vorgesehen sei, scheiterte dann aber wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse zu deren Gebrauch mit 23 zu 14 Stimmen, womit diese Differenz zum Nationalrat über das Jahresende hinaus bestehen blieb [21].
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Vollzug
An der Jahrespressekonferenz 2008 zog der Direktor des BFM eine positive Bilanz der ersten Erfahrungen mit dem auf den 1.1.2007 in Kraft gesetzten ersten Teil des revidierten Asylgesetzes. So wurden von den Antragstellern von Januar bis Dezember 2007 9% mehr Reise- und Identitätspapiere vorgewiesen als im Vorjahr. Die Erwerbstätigkeit der vorläufig Aufgenommenen konnte durch den verbesserten Zugang zum Arbeitsmarkt von 37% auf 40% erhöht werden. Gemäss den Daten von sieben Kantonen betreffend die Zwangsmassnahmen konnten 77% der Personen in Ausschaffungshaft in ihr Ursprungsland zurückgeführt werden. Die Kantone beantragten die neue Härtefallregelung für 948 Personen; 3395 vorläufig aufgenommenen Personen wurde eine Aufenthaltsbewilligung erteilt [22].
Ebenfalls ein positives Fazit ergab das Monitoring von Bund und Kantonen zu drei Jahren Sozialhilfestopp für Personen mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid (NEE), die nur noch eine von der Verfassung garantierte Nothilfe erhalten. Das Ziel, dass Personen mit einem NEE die Schweiz verlassen und dass weniger unbegründete Asylgesuche eingereicht werden, wurde erreicht. Ebenfalls traf die Befürchtung nicht zu, wonach Personen mit einem NEE vermehrt kriminell würden, untertauchten oder wegen mangelnden Papieren gar nicht ausreisen könnten. Rund zwei Drittel der Personen, die vom 1. April 2004 bis zum 31. März 2007 einen NEE erhielten, bezogen nie Nothilfe. Über die drei Jahre Sozialhilfestopp hinweg gesehen, betrug die durchschnittliche Dauer des Nothilfebezugs pro Person 143 Tage, rund dreieinhalb Mal weniger als die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei Personen mit einem negativen Asylentscheid, welche Sozialhilfe erhalten [23].
Die seit 1992 tätige verwaltungsunabhängige Asylrekurskommission (ARK) bestand zuletzt aus 33 Richtern und dem Präsidenten sowie rund 180 Mitarbeitern. Im Rahmen der Neuorganisation der Bundesgerichte übernahm das Bundesverwaltungsgericht auf den 1. Januar 2007 ihre Aufgabe und teilweise auch ihr Personal [24].
In dem Bestreben, die Identität und Herkunft von Asyl suchenden Personen bestimmen zu können, hat das BFM in den letzten Jahren neben einer Reihe von anderen Massnahmen auch die internationale Zusammenarbeit mit Asylbehörden und weiteren Fachstellen europäischer und aussereuropäischer Staaten intensiviert. Dabei geht es insbesondere um die Möglichkeit, personenbezogene Daten über Asyl suchende Personen auszutauschen. Dieser Datenaustausch stellt sich als eine geeignete Massnahme gegen den Missbrauch der Asylsysteme durch Mehrfachgesuche und durch die Verschleierung von Identität und Herkunft dar. Auf europäischer Ebene ist der Datenaustausch im Asylwesen institutionalisiert. Das EU-Abkommen über das Dublin-Verfahren, die Dublin-II-Verordnung und schliesslich die Einrichtung der Fingerabdruckdatenbank EURODAC haben die Zusammenarbeit der Dublin-Staaten erheblich erleichtert. Die Schweiz hat demgegenüber noch keinen Zugang zu diesen Systemen, da ihre Assoziation zu den Schengen/Dublin-Abkommen zwar 2005 in einer Volksabstimmung beschlossen worden ist, aber frühestens 2008 operativ sein wird. Um diese Zeit zu überbrücken, legten Österreich und die Schweiz in einem Abkommen die Bedingungen und Grenzen der Datenweitergabe im Asylwesen fest. Das Fürstentum Liechtenstein ist ebenfalls Vertragspartei, da die Schweiz infolge der Zollunion im Bereich der Fremdenpolizei zum Fürstentum Liechtenstein sehr enge Beziehungen pflegt. National- und Ständerat stimmten dem Abkommen oppositionslos zu [25].
Um die Kooperation mit jenen afrikanischen Staaten zu intensivieren, aus denen besonders zahlreiche Asylbewerber stammen, schuf das EDA in einigen Botschaften den Posten eines Migrationsattachés. Aufgabe dieser diplomatischen Vertreter ist es, die afrikanischen Partner für die negativen Seiten der illegalen Migration zu sensibilisieren und die für legale Reisen in die Schweiz vorgesehenen Prozeduren bekannt zu machen. Zu ihrer Mission gehört auch die Überwachung der freiwilligen oder zwangsweise erfolgten Rückkehr der Flüchtlinge in ihr Land sowie deren dortige Eingliederung [26].
 
[15] Presse vom 11.1.08.
[16] NZZ und TA, 3.2.07; BüZ und TA, 25.10.07. Siehe auch eine Interpellation im NR (AB NR, 2007, S. 1153).
[17] Presse vom 29.3. und 25.10.07.
[18] Siehe SPJ 2006, S. 217.
[19] AB NR, 2007, S. 1581 ff., 1613 ff. und 1622 ff.
[20] AB SR, 2007, S. 1042 ff.
[21] AB NR, 2007, S. 1936 ff.; AB SR, 2007, S. 1161 ff.
[22] Presse vom 15.2.08.
[23] Bund, NZZ und TA, 7.9.07.
[24] NZZ, 10.1.07.
[25] BBl, 2006, S. 5905 ff.; AB NR, 2007, S. 559 f. und 1162; AB SR, 2007, S. 630 und 660; BBl, 2007, S. 4705 f. Siehe SPJ 2006, S. 217. Für das Assoziierungsabkommen an den Dublin/Schengen-Raum siehe Presse vom 17.5. und 19.9.07 sowie oben, Teil I, 2 (Europe: UE).
[26] AZ, 6.11.07. Zu einem Treffen von BR Blocher mit Vertreterinnen und Vertretern mehrerer afrikanischer Organisationen, in dem er Möglichkeiten der Einwanderung, aber auch deren Grenzen darlegte, siehe Bund, 7.11.07.