Année politique Suisse 2008 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Staatsschutz
Als Zweitrat befasste sich der Ständerat mit dem
neuen Bundesgesetz über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes. Er übernahm, mit einigen vorwiegend redaktionellen Änderungen, die Version von Bundes- und Nationalrat. Die wenigen Differenzen zwischen den beiden Ratskammern waren rasch beigelegt
[8].
Die vom Bundesrat im Vorjahr beantragte Übernahme der Weiterentwicklung des
Schengener-Besitzstandes im Bereich des Informationssystems (SIS) wurde im Nationalrat von einer Mehrheit der SVP-Fraktion erfolglos mit einem Nichteintretensantrag bekämpft. Im Ständerat war zuvor die Zustimmung einstimmig gewesen. Das System selbst wurde im August in der Schweiz versuchsweise in Betrieb genommen. Die Polizei versprach sich davon grössere Fahndungserfolge
[9].
Die SVP wandte sich im Nationalrat, gemeinsam mit den Grünen, ebenfalls erfolglos gegen die Weiterentwicklung des
Schengener Besitzstandes im Bereich der Überwachung der gemeinsamen Aussengrenze. Während die Grünen ihre Ablehnung mit ihrem Eintreten für möglichst offene Grenzen für Flüchtlinge aus der Dritten Welt begründeten, war die SVP dagegen, weil sie keine Integration der Schweiz in die Mechanismen und Institutionen der EU wünscht. Der Ständerat hatte der Vorlage als Erstrat oppositionslos zugestimmt
[10].
Die vom Bundesrat im Vorjahr unterbreitete
Revision des Staatsschutzgesetzes (Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit) kam beim Nationalrat als Erstrat nicht gut an. Eine aus Vertretern der SVP, der SP und der Grünen gebildete Mehrheit der Rechtskommission beantragte Rückweisung an den Bundesrat mit der Auflage, namentlich die Begriffe „innere“ und „äussere“ Sicheheit genauer zu definieren, die vorgesehene Zusammenarbeit der Bundesbehörden mit denjenigen der Kantone und vor allem denjenigen des Auslandes zu präzisieren und die parlamentarische Oberaufsicht zu stärken. Eine Minderheit aus einigen SP- und GP-Mitgliedern beantragte Nichteintreten und eine aus Vertretern der FDP und der CVP gebildete Kommissionsminderheit wollte die Revisionsvorschläge in der vorliegenden Form behandeln. In der Eintretensdebatte unterstützten die Fraktionen der SP und der GP den Nichteintretensantrag; sie kritisierten in erster Linie die vorgesehenen präventiven Informationsbeschaffungsmöglichkeiten, welche Vischer (gp, ZH) in Anspielung an die Geheimdienstdebatte in Deutschland als „den grossen Lauschangriff“ verurteilte. Ebenfalls für Nichteintreten auf das von alt-Bundesrat Blocher (svp) ausgearbeitete, jetzt aber von Bundesrat Schmid (bdp) vertretene Geschäft votierte eine grosse Mehrheit der SVP. Der Rat sprach sich mit 92 zu 79 Stimmen
gegen das Eintreten aus
[11].
Der Präsident der für die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste zuständigen Geschäftsprüfungsdelegation, Ständerat Hofmann (svp, ZH), hatte 2007 eine parlamentarische Initiative für die
Übertragung der zivilen Nachrichtendienste an ein einziges Departement eingereicht. In der Folge hatten die GPK der beiden Parlamentskammern diesen Vorstoss unterstützt und der Delegation den Auftrag erteilt, die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen für die Zusammenlegung des strategischen Nachrichtendienstes (SND) und des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP) vorzuschlagen. Erster ist zur Zeit im VBS, letzterer im EJPD untergebracht. In ihrem im Frühjahr des Berichtsjahres präsentierten Vorschlag verzichtete die Delegation auf die Zusammenfassung der beiden Dienste und deren feste Einordnung in ein Departement, da diese Entscheide in den Kompetenzbereich des Bundesrates fallen. Sie beschränkte sich darauf, mit einer Veränderung des Militärgesetzes die Herauslösung des SND aus dem VBS zu ermöglichen, und mit einer Teilrevision des Gesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit dafür zu sorgen, dass der DAP nicht von Gesetzes wegen zum EJPD gehören muss. Der Bundesrat war mit diesen Vorschlägen und auch mit der Zielrichtung grundsätzlich einverstanden. Er betonte aber, dass er die beiden Dienste, welche unterschiedliche Funktionen zu erfüllen haben, auch bei der Zusammenfassung in einem einzigen Departement organisatorisch getrennt lassen möchte. Zudem unterstrich er seine von der Geschäftprüfungsdelegation nicht in Frage gestellte alleinige Kompetenz in Organisationsfragen
[12].
Das
Parlament verabschiedete die neuen Bestimmungen bereits in der Herbstsession. Der Ständerat stimmte in der Sommersession oppositionslos zu. Im Nationalrat meldeten die Grünen Widerstand an. Erstens sprachen sie sich grundsätzlich gegen eine mögliche Verschiebung des polizeilichen Nachrichtendienstes aus dem EJPD in das VBS und damit in die Nähe des Militärs aus und zweitens verlangten sie, dass vor einer Neuorganisation zuerst die Funktion und die Aufgaben der Geheimdienste breit diskutiert und definiert werden müssen. Neben den Grünen sprach sich zwei Wochen später in der Schlussabstimmung, bei der die Vorlage angenommen wurde, auch eine klare Mehrheit der SVP dagegen aus
[13].
Im Mai, also noch vor der parlamentarischen Debatte, hatte der Bundesrat beschlossen, die mit nachrichtendienstlichen Aufgaben im Bereich der inneren Sicherheit betrauten Teile des DAP ab Anfang 2009
dem Vorsteher des VBS zu unterstellen. Dieser wurde zudem mit der Koordination der sicherheitspolitisch relevanten kantonalen und nationalen Stellen beauftragt
[14].
Für angeregte Debatten auch im Parlament sorgte die 2007 erfolgte
Vernichtung von Akten im Zusammenhang mit Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Ostschweizer Geschäftsleute (Familie
Tinner), die des illegalen Exports von Kriegsmaterial verdächtigt wurden. Die Untersuchungsorgane hatten brisante Dokumente sichergestellt, insbesondere Baupläne für Nuklearwaffen und zur Produktion von waffenfähigem Uran. Diese Papiere dürfen sich gemäss dem Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht in dauerhaftem Besitz der Schweiz befinden und sie stellten nach Ansicht des Bundesrates auch eine Gefährdung der Schweiz und anderer Staaten dar. Im November 2007 hatte der Bundesrat deshalb beschlossen, diese hochbrisanten Dokumente unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vernichten zu lassen. Besondere politische Brisanz erhielt der Fall dadurch, weil Behauptungen im Raume standen, der effektive Grund für die Zerstörung habe darin bestanden, dass Mitglieder der Familie Tinner mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA zusammen gearbeitet hätten und letzterer die Aktenvernichtung verlangt habe, um seine Informanten zu schützen. Die eigentlichen Ermittlungsakten wurden nach Auskunft von Bundesrätin Widmer-Schlumpf nicht vernichtet
[15].
[8]
AB SR, 2008, S. 86 ff., 177 ff. und 532;
AB NR, 2008, S. 318 ff., 608 und 1023;
BBl, 2008, S. 5263 ff. Siehe
SPJ 2007, S. 19.
[9] Weiterentwicklung:
AB SR, 2008, S. 96 f. und 535;
AB NR, 2008, S. 620 ff. und 1027. Inbetriebnahme:
Bund und
TA, 12.8.08. Siehe
SPJ 2007, S. 19 (Fussnote 7).
[10]
BBl, 2008, S. 1455 ff.;
AB SR, 2008, S. 320 ff. und 832;
AB NR, 2008, S. 1308 ff. und 1576 f.;
BBl, 2008, S. 8375 ff.
[11]
AB NR, 2008, S. 1885 ff. Vgl. auch die Kritik am Entwurf in
NZZ, 16.12. und 18.12.08. Siehe
SPJ 2007, S. 19 f.
[12]
BBl, 2008, S. 4015 ff. und 4035 ff. (BR);
Bund, 25.4.08. Vgl. auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Fiala (fdp, ZH) in
AB NR, 2008, Beilagen IV, S. 432 f. Siehe auch
SPJ 2007, S. 20.
[13]
AB SR, 2008, S. 504 ff. und 830;
AB NR, 2008, S. 1242 ff. und 1576;
BBl, 2008, S. 8249 ff.
[14]
NZZ, 23.5.08. Siehe auch BR Schmid in
AB SR, 2008, S. 505.
[15]
BaZ, 17.5., 20.5. und 21.5.08; Presse vom 24.5.08 (Erklärung des BR);
NZZ, 27.7. und 26.8.08. Siehe auch
AB NR, 2008, S. 658 ff. (Fragestunde im NR).
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