Année politique Suisse 2009 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Strafrecht
Die
Kritik am neuen Sanktionssystem im Strafgesetzbuch, das unter anderem kürzere Freiheitsstrafen durch bedingt oder unbedingt ausgesprochene Geldstrafen ersetzt hat, ging im Berichtsjahr weiter. Auch der Bundesrat teilte die Meinung, dass das neue Sanktionssystem einige Probleme geschaffen hat. Er sprach sich aber gegen sofortige Einzelkorrekturen aus und kündigte an, seine Revisionsvorschläge aufgrund einer
Gesamtschau erarbeiten zu wollen
[38].
In welche Richtung diese Revision zielen soll, machte der Nationalrat mit der Überweisung einer Reihe von parlamentarischen Vorstössen, namentlich aus den Reihen der SVP und der CVP, klar. So stimmte er zwei Motionen von Rickli (svp, ZH) zu, welche eine
Abschaffung des teilbedingten Strafvollzugs für Freiheitsstrafen von über zwei Jahren resp. eine
Verlängerung der Widerrufsfrist bei bedingten Strafen von drei auf fünf Jahre fordern. Er überwies auch eine Motion Häberli-Koller (cvp, TG) für die
Abschaffung der bedingten Geldstrafen und eine Motion Amherd (cvp, VS) für die
Wiedereinführung von unbedingten Haftstrafen von unter 24 Monaten. Die Abschaffung der bedingten Geldstrafen wurde auch von diversen Kantonsregierungen gefordert. Der Ständerat beschloss auf Antrag seiner Rechtskommission, dass diese Motionen nicht als verbindlichen Auftrag an den Bundesrat überwiesen werden sollen, sondern als Prüfungsaufträge. Damit soll verhindert werden, dass voreilig einige Detailkorrekturen am Strafensystem vorgenommen werden, die zu neuen Problemen führen könnten
[39].
Der Nationalrat lehnte ein Motion Geissbühler (svp, BE), welche das
Geldstrafensystem
ganz abschaffen wollte, mit 91 zu 90 Stimmen ab. Für die Abschaffung sprachen sich die SVP, die BDP und eine klare Mehrheit der CVP aus. Mehr Erfolg hatte hingegen Nationalrat Baettig (svp, JU), der mit einer Motion die
Abschaffung der bedingt ausgesprochenen gemeinnützigen Arbeit verlangte. Der Bundesrat war mit der Überweisung einverstanden und gab bekannt, dass das EJPD eine Evaluation des gesamten neuen Strafensystems eingeleitet habe. In diesem Zusammenhang stellte sich der Nationalrat auch hinter eine Motion Stamm (svp, AG), welche verlangte, dass die Verpflichtung zu einer solchen gemeinnützigen Arbeit nicht vom Einverständnis des Verurteilten abhängig gemacht wird. Ebenfalls angenommen wurde eine weitere Motion Stamm für die
Wiedereinführung der kurzen Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten. Im Ständerat fiel die Ausserordentliche Session in der Sommersession zur Kriminalität sehr kurz aus. Er überwies dabei eine Motion Luginbühl (bdp, BE) für die Wiedereinführung der kurzen Freiheitsstrafen und die Abschaffung der bedingten Geldstrafen an seine Rechtskommission zur Vorprüfung. Die vom Nationalrat überwiesenen Motionen behandelte er in der Wintersession und wandelte sie grösstenteils in Prüfungsaufträge um; die Motion Stamm für die Wiedereinführung der kurzen Haftstrafen lehnte er ab
[40].
Als unbefriedigend empfand eine Mehrheit des Nationalrats das
Strafmass für Vergewaltigungen. Da mit dem neuen Strafrecht Freiheitsstrafen von unter drei Jahren nicht zwingend abzusitzen sind (vorher lag die Grenze bei 18 Monaten), hat sich gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Justiz der Anteil der bloss zu einer bedingten Strafe verurteilten Vergewaltiger stark erhöht. Der Rat überwies eine Motion Rickli (svp, ZH), welche die Mindeststrafe auf drei Jahre Freiheitsentzug festlegen will. Er akzeptierte auch eine zweite Motion Rickli für eine Heraufsetzung der Mindeststrafe für die Vergewaltigung eines Kindes unter zwölf Jahren auf sieben Jahre Freiheitsentzug. Der Bundesrat hatte in beiden Fällen eine Ablehnung empfohlen. Er tat dies nicht, weil er grundsätzlich gegen eine Strafverschärfung war, sondern weil er die neu entstandenen Probleme mit den Strafmassen in einer Gesamtschau behandeln möchte. Er wurde dabei aber nur von der SP und der GP unterstützt
[41].
Der Nationalrat überwies gegen den Willen des Bundesrates eine Motion Darbellay (cvp, VS) für Veränderungen im Strafvollzug. Konkret fordert der Motionär bilaterale Abkommen, namentlich mit Balkanstaaten, für den
Strafvollzug für ausländische Verurteilte in ihrem Heimatland. Dasselbe verlangt auch eine vom Nationalrat gutgeheissene Motion Stamm (svp, AG)
[42].
Die Sozialdemokratin Galladé (ZH) verlangte mit zwei Motionen, die mit der letzten Jugendstrafrechtsrevision erfolgte Senkung der Alterslimite für die
Anordnung von erzieherischen und therapeutischen Massnahmen von 25 auf 22 Jahre in bestimmten Fällen wieder rückgängig zu machen. Obwohl sich der Bundesrat dagegen aussprach, weil diese Anordnung über das 22. Altersjahr hinaus bereits möglich sei, überwies der Nationalrat beide Vorstösse
[43].
Mit der Überweisung einer Motion Heim (sp, SO) sprach sich der Nationalrat für eine Verschärfung der Gesetzesbestimmungen gegen
häusliche Gewalt aus. Der Motionstext verlangt insbesondere, dass eine auf Wunsch der Betroffenen eingestellte Strafuntersuchung unwiderruflich wieder aufgenommen wird, wenn die Tatperson rückfällig geworden ist. Eine Motion Geissbühler (svp, BE), die Bestimmung zu streichen, wonach ein Opfer eine Sistierung des Verfahrens beantragen kann, und häusliche Gewalt eindeutig entweder zum Antrags- oder zum Offizialdelikt zu erklären, scheiterte im Nationalrat äusserst knapp
[44].
Der Nationalrat unterstützte eine Motion Fiala (fdp, ZH) für die Schaffung eines besonderen Straftatbestandes
Stalking. Der Bundesrat argumentierte vergeblich, dass dieser Vorstoss überflüssig sei, weil der Tatbestand der Nachstellung bereits im Strafrecht enthalten sei
[45].
[38] Vgl. dazu die Antwort des BR auf eine Interpellation der FDP (
AB NR, 2009, Beilagen III, S. 896 f.). Siehe
SPJ 2008, S. 27. Zur Diskussion um die neuen Strafmasse siehe auch Franz Riklin und Kurt Seelmann in
NZZ, 9.5. resp. 2.6.09.
[39]
AB NR, 2009, S. 1018 (Rickli und Häberli-Koller) und 1019 (Amherd);
AB SR, 2009, S. 1304 ff. (es betraf dies die Motionen Heim, Baettig, Stamm (gemeinnützige Arbeit), Rickli (2), Sommaruga, Häberli-Koller und Amherd). Grundsätzlich schärfere Sanktionen gegen Gewalt- und Sexualtäter (auch Jugendliche) fordert auch eine von beiden Räten überwiesene Motion Hochreutener, cvp, BE (
AB NR, 2009, S. 1018;
AB SR, 2009, S. 1293 f.). Kantone:
TA, 30.5.09;
NZZ, 2.7.09.
[40]
AB NR, 2009, S. 1013 (Geissbühler und Baettig) und 1014 (Stamm);
AB SR, 2009, S. 721 f. (Luginbühl) und 1293 (Stamm).
[41]
AB NR, 2009, S. 1016 f.;
TA, 23.3.09. Zur Diskussion über die neuen Strafmasse siehe auch oben.
[42]
AB NR, 2009, S. 1006 (Darbellay) und 1009 (Stamm).
[43]
AB NR, 2009, S. 1007 und 1010.
[44]
AB NR, 2009, S. 1012 (Heim) und 1013 (Geissbühler). Der SR wandelte die Motion Heim in einen Prüfungsauftrag um (
AB SR, 2009, S. 1304 ff.).
[45]
AB NR, 2009, S. 1009.
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