Année politique Suisse 2009 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
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Reform der Volksrechte
Zum Jugend- und Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Im August reichte die AUNS ihre Volksinitiative „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)“ mit 108 579 gültigen Unterschriften ein. Mehr Mitsprache für das Volk in der Aussenpolitik strebte auch eine parlamentarische Initiative Gross (sp, ZH) an. Sie verlangte die Einführung einer „Internationalen Volksmotion“. Mit dieser könnte eine bestimmte Anzahl von Bürgerinnen und Bürger (im Text waren 20 000 erwähnt) das Parlament ersuchen, dem Bundesrat einen bestimmten aussenpolitischen Auftrag zu erteilen [26].
In der Volksabstimmung vom 27. September waren Volk und Stände damit einverstanden, auf die 2003 in die Verfassung aufgenommene allgemeine Volksinitiative wieder zu verzichten. Eine Kampagne fand nicht statt; gegen die Streichung ausgesprochen hatten sich nur die Lega und die PdA. Das Resultat fiel mit einem Ja-Stimmenanteil von 67,9% (1 307 237 Ja gegen 618 664) und keinem einzigen ablehnenden Kanton deutlich aus [27].
Bundesbeschluss über die Streichung der allgemeinen Volksinitiative
Abstimmung vom 27. September 2009

Beteiligung: 40,4%
Ja: 1 307 237 (67,9%) / 20 6/2 Stände
Nein: 618 664 (32,1%) / 0 Stände

Parolen:
Ja: SVP, SP, FDP (1)*, CVP (2)*, GP (1)*, EVP, BDP, GLP, CSP, EDU (1)*, FPS, SD; SGV, SBV, Travail.Suisse.
Nein: Lega, PdA.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Der Nationalrat nahm die Diskussion wieder auf über Volksinitiativen, die ganz oder teilweise im Gegensatz zu Völker- oder Menschenrechtsbestimmungen resp. zu in der Bundesverfassung verankerten Grundrechten stehen und sich deshalb nicht textgetreu umsetzen lassen. Er gab dabei einer parlamentarischen Initiative Vischer (gp, ZH) Folge, welche die Ungültigkeit von Initiativen verlangt, die „materiell gegen den Grundrechtsschutz oder gegen die Verfahrensgarantien des Völkerrechtes“ verstossen. Gleichzeitig überwies er auch ein Postulat seiner SPK, welche vom Bundesrat einen Bericht über den zukünftigen Umgang mit derartigen Volksinitiativen und eine allfällige verfassungsrechtlich abgestützte Ausweitung des Umfangs des „zwingenden Völkerrechts“ fordert. Die SVP hatte beide Vorstösse erfolglos bekämpft, Minderheiten der CVP und der FDP nur die Initiative Vischer. Die in den letzten Jahren häufiger vorgekommene Konkurrenz zwischen Verfassungsbestimmungen und Volksinitiativen motivierten den Nationalrat auch, einer parlamentarischen Initiative Studer (evp, AG) aus dem Jahre 2005 für die Einführung eines Verfassungsgerichts gegen den Widerstand der SVP Folge zu geben. Als Reaktion darauf erwogen SVP-Spitzenpolitiker die Lancierung einer Volksinitiative, welche Volksinitiativen in jedem Fall, also auch bei Verletzung von zwingendem Völkerrecht, über internationales Recht stellen will [28].
Bei Volksinitiativen kommt es vor, dass die Initianten mit einem vom Parlament beschlossenen indirekten Gegenvorschlag zufrieden sind und ihr Begehren eigentlich zurückziehen möchten. Oft enthält dieser Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe die Klausel, dass er nur dann in Kraft treten kann, wenn die Initiative entweder zurückgezogen oder in der Volksabstimmung abgelehnt worden ist. Da damit die offizielle Publikation des Gegenvorschlags und der Beginn der Sammelfrist für ein allfälliges Referendum erst nach dem Rückzug erfolgen, sind die Initianten über dessen Schicksal im Ungewissen und verzichten aus diesem Grund manchmal auf einen Rückzug. Ständerat Lombardi (cvp, TI) schlug deshalb in der Form einer parlamentarischen Initiative die Einführung des bedingten Rückzugs einer Volksinitiative vor. Die SPK des Ständerats arbeitete eine entsprechende Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte aus. Da mit der Volksinitiative „Lebendiges Wasser“ und der als indirekten Gegenvorschlag konzipierten Revision des Gewässerschutzgesetzes ein konkreter Anwendungsfall im Parlament hängig war, drängte sie auf eine rasche Behandlung des Geschäfts. Sie beantragte, dass der Rückzug einer Volksinitiative nur dann gelten soll, wenn der Gegenvorschlag auch wirklich in Kraft tritt. Wird das Referendum ergriffen und der Gegenvorschlag vom Volk abgelehnt, dann findet anschliessend eine Abstimmung über die Volksinitiative statt. In der Vernehmlassung hatten sich FDP und SVP skeptisch gezeigt, der Bundesrat hingegen sprach sich für diese Neuerung aus [29].
Das Parlament hiess die Einführung des bedingten Rückzugs einer Volksinitiative bereits in der Herbstsession gut. Im Ständerat geschah dies einstimmig. Im Nationalrat stellte die SVP erfolglos einen Nichteintretensantrag, wobei die Begründung allerdings verwirrend war. Gemäss ihrem Sprecher Schibli (svp, ZH) würde diese bedingte Rückzugsmöglichkeit die Rechte des Volkes einschränken, da dieses Anspruch darauf habe, in jedem Fall über eine Initiative abzustimmen. Auch eine Mehrheit der FDP war für Nichteintreten, da die Neuerung die Ausübung der Volksrechte komplizierter gestalten würde. In der Schlussabstimmung verabschiedete der Nationalrat die neuen Bestimmungen mit 106 zu 88 Stimmen; dagegen waren die praktisch geschlossene SVP und eine grosse Mehrheit der FDP. In der kleinen Kammer gab es keine Gegenstimmen [30].
Der Nationalrat lehnte auf Antrag seiner SPK eine parlamentarische Initiative Chevrier (cvp, VS) für eine Begrenzung der Zahl der eidgenössischen Volksabstimmungen auf zwölf pro Jahr deutlich ab [31].
 
[26] AUNS: BBl, 2009, S. 6057 ff. Siehe SPJ 2008, S. 41. Gross: AB NR, 2009, S. 2288 ff.
[27] BBl, 2009, S. 8719 ff.; BaZ, 9.9.09; NZZ, 10.9. (Gross, sp, ZH) und 19.9.09 (Müller, fdp, AG und Lustenberger, cvp, LU); Presse vom 28.9.09. Siehe SPJ 2008, S. 41 f.
[28] AB NR, 2009, S. 290 ff. (Postulat und pa. Iv. Vischer) und 689 ff. (pa. Iv. Studer); SoZ, 13.12.09; BaZ und BüZ, 14.12.09 (SVP). Die Idee der Vorprüfung von Volksinitiativen erhielt anlässlich der parlamentarischen Beratung der Ausschaffungsinitiative der SVP neuen Auftrieb (TA, 10.12.09; BüZ, 11.12.09 (Maissen, cvp, GR); vgl. auch oben, Teil I, 1b, Strafrecht). Siehe SPJ 2000, S. 32 (Verfassungsgericht) und 2008, S. 42.
[29] BBl, 2009, S. 3591 ff. und 3609 f. (BR). Zur Gewässerschutzinitiative siehe unten, Teil I, 6d (Protection des eaux).
[30] AB SR, 2009, S. 694 ff., 919 f. und 1003; AB NR, 2009, S. 1627 ff. und 1827; BBl, 2009, S. 6655 ff.
[31] AB NR, 2009, S. 1001 ff.