Année politique Suisse 2009 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Invalidenversicherung
Eine Motion Rossini (sp, VS) forderte, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit der neue IV-Ausgleichsfonds mit 5 Mia Fr. aus dem Gewinn der Nationalbank gespeist werden könne. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, mit der Begründung, dass er eine Verknüpfung von Nationalbankerträgen mit spezifischen Zwecken für gefährlich halte. Die Motion trage zudem der Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung keine Rechnung. Der Nationalrat schloss sich dieser Ansicht an und lehnte die Motion mit 114 zu 55 Stimmen ab [8].
Eine parlamentarische Initiative der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates forderte, dass aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage das Inkrafttreten der IV-Zusatzfinanzierung um ein Jahr verschoben werden soll. Der Bundesbeschluss über eine befristete Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze sah eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf den 1. Januar 2010 vor. Aufgrund der Krise wollte die Kommission des Ständerates diese Anhebung nun auf den 1. Januar 2011 verschieben. Eine frühere Mehrwertsteueranhebung würde zu einer Kaufkraftabschöpfung bei der Bevölkerung führen, welche die rezessive Entwicklung zusätzlich verschärfen würde. Im Ständerat war die parlamentarische Initiative nicht zuletzt aufgrund des ungewöhnlichen Vorgehens umstritten. This Jenny (svp, GL) beantragte das Nichteintreten auf die Vorlage. Er sah in der Verschiebung der Inkraftsetzung der Mehrwertsteueranhebung ein Manöver, um sich in der Abstimmungskampagne die Unterstützung der Wirtschaftsverbände zu sichern. Diesen Antrag lehnte der Ständerat jedoch mit 31 zu 1 Stimme ab. In der Gesamtabstimmung wurde die Initiative mit 28 zu 1 Stimme angenommen, allerdings bei 7 Enthaltungen, welche vorwiegend aus dem rechten Lager kamen und sich grundsätzlich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wandten. In der Schlussabstimmung nahm der Ständerat die parlamentarische Initiative mit 34 zu 4 Stimmen bei 4 Enthaltungen und der Nationalrat mit 114 zu 9 Stimmen an [9].
Eine weitere parlamentarische Initiative der WAK des Ständerates forderte den Bundesrat auf, das Bundesgesetz über die Sanierung der Invalidenversicherung an den Bundesbeschluss über die Änderung der befristeten Zusatzfinanzierung durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze anzupassen. Dabei ging es insbesondere darum, die beiden Vorlagen zeitlich anzupassen. Materiell wurden mit der parlamentarischen Initiative keine Änderungen vorgenommen. Der Entwurf passierte die Gesamtabstimmung im Ständerat einstimmig [10].
Eine Motion der SVP forderte den Bundesrat dazu auf, die Vorarbeiten für eine 6. IV-Revision aufzunehmen und dem Parlament zusätzlich zur verabschiedeten 5. IV-Revision einen Vorschlag für eine 6. IV-Revision vorzulegen, welcher zu einer wesentlich weitergehenden, ausgabenseitigen Sanierung der IV führen sollte. Um die IV strukturell zu sanieren, sei eine konsequente Bekämpfung aller noch bestehenden Missbräuche und damit eine massive Senkung der Rentnerzahlen unabdingbar. Der Bundesrat hielt dem entgegen, dass er den Handlungsbedarf längst erkannt habe und die nötigen Massnahmen eingeleitet worden seien. Mit rein ausgabenseitigen Massnahmen lasse sich die IV aber nicht sanieren. Der Bundesrat beantragte daher die Ablehnung der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat, welcher die Motion mit 130 zu 61 Stimmen ablehnte [11].
Ebenfalls aus den Reihen der SVP stammte eine Motion Hutter (svp, SG), welche forderte, dass Ärzte künftig für Krankheitszeugnisse haftbar gemacht werden können, wenn sich diese als objektiv unhaltbar herausstellen und der IV dadurch Kosten entstanden sind. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, weil er der Ansicht war, dass eine Sensibilisierung der Ärzteschaft im Bereich der Ausstellung von Arztzeugnissen und eine möglichst konsequente Trennung der Zuständigkeiten zwischen behandelnden Ärzten und Sozialversicherung wirkungsvoller seien als neue Haftungsnormen. Dem folgte auch der Nationalrat und lehnte die Motion mit 97 zu 64 Stimmen ab [12].
Bei der Missbrauchsbekämpfung verzeichnete die IV Erfolge. Aufgrund erster Erfahrungen rechnete sie damit, 50 Mio Fr. pro Jahr einsparen zu können. Seit August 2008 hatte die IV die Betrugsbekämpfung intensiviert. Das Mittel der Observation oder der Einbezug externer Experten war der Sozialversicherung mit der 5. IV-Revision eingeräumt worden. Im ersten halben Jahr wurden rund 1400 Verdachtsfälle eruiert, daraus resultierten 80 Betrugsfälle [13].
Eine parlamentarische Initiative Wehrli (svp, SZ) forderte, dass die Hörgeräteversorgung von der IV in die Krankenversicherung übertragen wird. Argumentiert wurde damit, dass in den meisten umliegenden Ländern die Krankenversicherung für die Versorgung mit Hörgeräten zuständig sei. Eine Übertragung der Hörgeräteversorgung ins Krankenversicherungsgesetz würde zudem die Vergleichbarkeit der Preise erleichtern. Die Kommission des Nationalrates beantragte mit 12 zu 9 Stimmen, der Initiative keine Folge zu leisten. Die Mehrheit und Minderheit der Kommission waren sich insbesondere nicht darüber einig, ob eine Verschiebung ins Krankenversicherungsgesetz mehr oder weniger Möglichkeiten biete, um auf die Preise Einfluss nehmen zu können. Der Nationalrat folgte mit 104 zu 59 Stimmen der Minderheit der Kommission und gab der parlamentarischen Initiative Folge [14].
Ebenfalls Zustimmung fand eine Motion Rennwald (sp, JU), welche den Bundesrat aufforderte, Beiträge für die Abgabe von Hilfshunden an motorisch eingeschränkte Personen über die IV zu leisten. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat [15].
Ein Postulat Hêche (sp, JU) forderte den Bundesrat auf, einen Entwurf für die Revision des Invalidengesetzes auszuarbeiten, der die Einführung eines Assistenzbeitrages sowohl für Erwachsene als auch für minderjährige Versicherte, Heimbewohnerinnen und -bewohner und bevormundete Personen vorsieht. Der Bundesrat lehnte diesen Vorschlag ab, weil er der kostenneutralen Umsetzung der Reform der IV Priorität einräumte. Bundesrat Pascale Couchepin hatte allerdings während der Debatte im Ständerat seine Ansicht geändert und empfahl das Postulat dem Ständerat doch noch zur Annahme. Der Ständerat nahm das Postulat, gegen den ursprünglichen Willen des Bundesrates, an [16].
Eine Motion Goll (sp, ZH) forderte den Bundesrat dazu auf, einen aktiven Beitrag zur Umsetzung der 5. IV-Revision zu leisten, indem er bis zum Jahr 2015 mindestens 1% der gesamten Personalkosten des Bundes für angepasste Arbeitsplätze und Aufgaben für Menschen mit Behinderungen einsetzten soll. Der Bundesrat wies darauf hin, dass bereits Bestrebungen im Gang seien, den Leitgedanken der IV „Eingliederung vor Rente“ nachzuleben und bei der Umsetzung der Personalpolitik zu berücksichtigen. Bereits heute bestehe für die Finanzierung der Integration ein spezifischer Kredit „Berufliche Integration“. Er beantragte daher die Ablehnung der Motion. Dem leistete auch der Nationalrat Folge und lehnte die Motion mit 114 zu 54 Stimmen ab [17].
Der Abwärtstrend der vergangenen Jahre bei der Zahl der Neurenten in der IV hatte sich auch 2008 fortgesetzt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen meldete 1100 (5,8%) weniger Neurenten als 2007. Die leichte Entspannung an der Neurentenfront trug zu einem Rückgang des Gesamtrentenbestandes bei. Dennoch resultierte auch 2008 ein Defizit von 1,3 Mia Fr. Die Gesamtschuld der IV bei der AHV belief sich unterdessen auf 13 Mia Fr. Der leichte Rückgang des Defizites war vor allem auf konjunkturbedingt höhere Beiträge aus den Lohnabgaben zurückzuführen. Das BSV rechnete wegen des Konjunktureinbruchs aber bereits im Berichtsjahr wieder mit geringeren Einnahmen. Die IV blieb also, mit ihren strukturellen Defiziten, ein Sanierungsfall [18].
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Befristete Zusatzfinanzierung der IV
Die auf Mai angesetzte Volksabstimmung zur IV, bei der es darum ging, dass zur Sanierung der IV Geld aus dem Topf der Mehrwertsteuer hätte bezogen werden sollen, wurde aus konjunkturpolitischen Gründen vom Bundesrat verschoben. Der Bundesrat hatte befürchtet, dass das Volk die Mehrwertsteuererhöhung für die IV wegen der schlechten Wirtschaftslage ablehnen würde und gab daher dem Parlament die Möglichkeit, den verabschiedeten Bundesbeschluss abzuändern. Parteien und Verbände reagierten mehrheitlich mit Verständnis auf die Verschiebung der Abstimmung, kritisierten aber, dass der Bundesrat keinen konkreten Änderungsvorschlag gemacht hatte. Dieses Vorgehen des Bundesrates war ungewöhnlich und kam in der Vergangenheit höchst selten vor. Der Bundesrat begründete seinen Entscheid damit, dass die Unterstützung von Wirtschaft und Parteien für die Vorlage am Schwinden war [19].
Am 27. September 2009 fand die verschobene Abstimmung schliesslich statt und das Volk stimmte mit einer Mehrheit von 54,5% für die Annahme des Bundesbeschlusses über eine befristete Zusatzfinanzierung der IV durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze. Unterstützung fand die Vorlage bei der Linken, bei den meisten bürgerlichen Parteien und auch bei den grossen Wirtschaftsverbänden. Für die Befürworter stand vor allem die Sanierung der IV im Zentrum. Viele von ihnen hielten die Zusatzfinanzierung für unvermeidbar und gaben als Hauptmotiv an, dass man, wolle man die IV sanieren, letztlich keine andere Wahl hätte als die Zusatzfinanzierung anzunehmen. Zu den Gegnern der Vorlage gehörten die SVP und die kleineren Rechtsparteien. Sie waren der Meinung, dass man einzig mit einer resoluten Missbrauchsbekämpfung den Schuldenberg der IV abtragen könne. Ausserdem bezweifelten viele, dass es bei einer befristeten Erhöhung der Mehrwertsteuer bleiben würde und befürchteten, dass diese einen permanenten Charakter erhalten könnte [20].
Zwar stimmte eine klare Mehrheit von 54,5% für die Vorlage. Das erforderliche Ständemehr wurde jedoch nur mit dem knappest möglichen Ergebnis (12 zu 11 Stände) erreicht. Dabei zeigte sich ein aus sozialpolitischen Abstimmungen bekannter Graben: Die Westschweiz und die urbanen Kantone der Deutschschweiz stimmten für den Bundesbeschluss, die ländlichen Kantone der Ostschweiz und der Innerschweiz hingegen verwarfen die Vorlage überwiegend. Am klarsten abgelehnt wurde die Zusatzfinanzierung der IV in Appenzell Innerrhoden, Thurgau und Schwyz. Die meisten Befürworter fanden sich in den Kantonen Genf, Jura und Neuenburg mit jeweils mehr als 60% Ja-Stimmen. Die VOX Analyse ergab, dass das Stimmverhalten insgesamt stark von politischen Variablen geprägt war. Gesellschaftliche Gruppenmerkmale spielten hingegen keine grosse Rolle. Entscheidend war insbesondere die Einordnung in das politische Spektrum. Wer sich Links oder in der Mitte einstufte nahm die Vorlage meist an, wer sich Rechtsaussen einstufte, lehnte die Vorlage mit grosser Wahrscheinlichkeit ab. Eindrucksvoll war die Parolenkonformität im Stimmverhalten der Parteianhänger [21].
Befristete Zusatzfinanzierung der IV durch Anhebung der MWSt
Abstimmung vom 27. September 2009

Beteiligung: 40,8%
Ja: 1 112 818 (54,6%) / Stände: 11 2/2
Nein: 926 730 (45,4%) / Stände: 9 4/2

Parolen:
Ja: FDP, CVP, SP, EVP, CSP, GP, GLP, BDP; eco, SGV, SBV, SGB, TravS.
Nein: SVP, SD, EDU, FP, Lega.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
 
[8] AB NR, 2009, S. 1249 f.
[9] AB SR, 2009, S. 725 ff. und 736; AB NR, 2009, S. 1313.
[10] AB SR, 2009, S. 1271.
[11] AB NR, 2009, S. 219.
[12] AB NR, 2009, S. 1600 f.
[13] Presse vom 21.4.09.
[14] AB NR, 2009, S. 785 ff.
[15] AB NR, 2009, S. 1800.
[16] AB SR, 2009, S. 254 f.
[17] AB NR, 2009, S. 1254 f.
[18] Presse vom 25.2.09.
[19] Presse vom 29.1.09.
[20] Presse vom 28.9.09.
[21] BBl, 2009, S. 8721 ff.; Milic, Thomas / Kuster, Stephan / Widmer, Thomas, Vox – Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 27. September 2009, Zürich 2009.