Année politique Suisse 2009 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Forschung
Im Berichtsjahr ging der Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen in die Differenzbereinigung. Der Nationalrat folgte in der Frühjahrssession mit 107 zu 55 Stimmen dem Antrag seiner vorberatenden Kommission und hielt beim übergeordneten ersten Absatz des Artikels an einer Fassung fest, die neben dem Schutz der Würde und der Persönlichkeit des Menschen, auch die Wahrung der Forschungsfreiheit und die Bedeutung der Forschung für Gesundheit und Gesellschaft festschreibt und insofern von der Variante des Ständerats abweicht. Bei der Festlegung von Grundsätzen für die Forschung am Menschen folgte die grosse Kammer dagegen dem Kompromissvorschlag des Ständerats; sie ersetzte einzig die ständerätliche Formulierung „biomedizinische Forschung mit Personen“ durch „Forschung mit Personen in der Biologie und der Medizin“, da letztere klarer sei und dem internationalen Sprachgebrauch entspreche, wie Kommissionssprecherin Bruderer (sp, AG) erklärte. Auf Antrag seiner vorberatenden Kommission wurde dieser Terminus vom Ständerat in der Sommersession übernommen. Beim ersten Absatz hielt die kleine Kammer dagegen an ihrem ursprünglichen Beschluss fest und wollte die Forschungsfreiheit nicht erneut aufnehmen, da diese in der Verfassung bereits verankert ist AB NR, 2009, S. 35 ff.; AB SR, 2009, S. 506. Vgl. SPJ 2008, S. 248..
Das Geschäft ging erneut an den Nationalrat, der seiner Kommissionsmehrheit folgte und an seinem eigenen Beschluss festhielt. Der Ständerat lenkte in der Herbstsession schliesslich diskussionslos ein und bereinigte die letzte verbliebene Differenz. Der Kommissionssprecher Bürgi (svp, TG) unterstrich dabei erneut, dass die Erwähnung der Forschungsfreiheit nicht von materieller Bedeutung sei. Die Würde des Menschen habe, wenn sie in Konkurrenz zur Forschungsfreiheit stehe, stets Priorität. Die Vorlage wurde in der Schlussabstimmung von beiden Räten angenommen AB NR, 2009, S. 1211 ff. und 1824 f.; AB SR, 2009, S. 913 f. und 1001; BBl, 2009, S. 6649 f..
Bereits einen Monat nach dem das Parlament dem Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen zugestimmt hatte, verabschiedete der Bundesrat einen Entwurf für ein Humanforschungsgesetz. Dieser konkretisiert den Forschungsartikel und stellt verpflichtende Schranken für die Wissenschafter auf. Daneben sollen aber auch günstige Rahmenbedingungen für die Forschung geschaffen werden. Die Projekte müssen weiterhin von den kantonalen Ethikkommissionen geprüft werden, wobei Forschung an urteilsunfähigen Menschen nur zulässig sein soll, wenn gleichwertige Erkenntnisse nicht mit urteilsfähigen Personen gewonnen werden können. Forschungsvorhaben an Urteilsfähigen, die für die Versuchspersonen selber keinen direkten Nutzen haben, dürfen nur bewilligt werden, wenn die damit verbundenen Risiken und Belastungen minimal sind BBl, 2009, S. 8045 ff.; BaZ und NZZ, 22.10.09..
Im Kontext dieser gesetzgeberischen Aktivitäten erarbeitete die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) eine Stellungnahme zur Problematik der Forschung mit Kindern. In ihrer Studie wägt die NEK Argumente der Persönlichkeitsrechte gegen den möglichen zu erwartenden Nutzen für andere Kinder ab und bejaht grundsätzlich auch die Zulässigkeit von Forschungsvorhaben mit Kindern, die vom aktuellen Forschungsprojekt nicht direkt profitieren können – sogenannte fremdnützige Forschung. Sie fordert allerdings, dass die Zumutbarkeit aus Sicht des Kindes von den Eltern und den zuständigen Ethikkommissionen sorgfältig abgewogen wird BaZ, 11.3.09; NZZ, 12.3.09..
Die eidgenössischen Räte verabschiedeten im Berichtsjahr eine Teilrevision des Forschungsgesetzes. Mit der Vorlage wird die Kommission für Technologie und Innovation (KTI), die bisher nur beratend tätig war, zu einer verwaltungsunabhängigen Behördenkommission mit umfassendem Aufgabenportfolio und entsprechenden Entscheidkompetenzen aufgewertet. Der Ständerat trat in der Frühjahrssession ohne Gegenstimme auf die Vorlage ein. Sämtliche Rednerinnen und Redner begrüssten den Entwurf und betonten dabei insbesondere, dass die Beiträge an die Innovationsförderung speziell in Krisenzeiten eine gute Investition seien. Die kleine Kammer schuf gegenüber dem Entwurf des Bundesrats nur geringfügige Differenzen und hiess die Gesetzesrevision am Ende einstimmig gut. Auch der Nationalrat trat ohne Gegenstimme auf die Vorlage ein. In der Detailberatung wurden die Minderheitsanträge von Vertretern der SVP, die eine bessere Kontrolle über die Tätigkeit der KTI forderten, allesamt verworfen. Keine Zustimmung fand auch ein Antrag der Grünen, mit dem die Berücksichtigung von Gender-Fragen an die Innovationsförderung gekoppelt werden sollte. Die Vorlage wurde in der Gesamtabstimmung gutgeheissen und ging zur Bereinigung minimer Differenzen zurück an den Ständerat. Dieser übernahm in der Herbstsession diskussionslos die Fassung des Nationalrats BBl, 2009, S. 469 ff.; AB SR, 2009, S. 191 ff., 861 und 1002; AB NR, 2009, S. 813 ff. und 1826; BBl, 2009, S. 6671 ff.; NZZ, 27.5.09. Vgl. SPJ 2008, S. 250..
Noch vor Inkraftsetzung der neuen Bestimmungen zur KTI schickte der Bundesrat im Herbst eine Totalrevision des Gesetzes über die Forschungs- und Innovationsförderung in die Vernehmlassung. Neu sollen Forschungs- und Innovationsförderung im gleichen Erlass geregelt werden. Im Gesetzesentwurf wird unterschieden zwischen wissenschaftlicher Forschung, welche Grundlagenforschung sowie anwendungsorientierte Forschung im öffentlichen Interesse umfasst und wissensbasierter Innovation, die darauf abzielt, wirtschaftlich nutzbare Produkte und Verfahren zu entwickeln. Ausserdem soll eine Rechtsgrundlage für die Unterstützung eines nationalen Innovationsparks geschaffen werden. Die Bestimmungen zum Innovationspark gehen auf eine Motion der FDP zurück, die vom Parlament in der ersten Jahreshälfte überwiesen wurde BBl, 2009, S. 7601; AB NR, 2009, S. 219; AB SR, 2009, S. 523; NZZ, 29.10.09..
Mit dem zweiten Konjunkturpaket, welches National- und Ständerat in der Frühjahrssession verabschiedeten, wurde das Budget der KTI für 2008-2011 um 21,5 Mio Fr. erhöht. Die zusätzlichen Mittel werden für Forschungs- und Entwicklungsprojekte, welche einzelne Unternehmen zusammen mit Fachhochschulen, der ETH oder anderen Instituten betreiben, eingesetzt. Zudem haben kleinere und mittlere Unternehmen (KMU), die erstmals in Forschung und Entwicklung investieren wollen, die Möglichkeit, für Leistungen einer Hochschule oder eines anderen öffentlichen Forschungsinstitutes einen zusätzlichen Beitrag von maximal 7500 Fr. zu beantragen AB NR, 2009, S. 172 ff.; AB SR, 2009, S. 127 ff.; BBl, 2009, S. 1045 f.; NZZ, 24.3.09. Vgl. zum 2. Konjunkturpaket oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage und -politik)..
Schliesslich befasste sich das Parlament im Berichtsjahr auch mit zahlreichen Vorstössen zum Thema Forschungsförderung und Innovation. Der Nationalrat überwies mit 129 zu 61 Stimmen eine Motion der FDP, die den Bundesrat verpflichten will, steuerliche Fördermassnahmen zur Stärkung des Forschungsstandortes Schweiz zu ergreifen. Ebenfalls gutgeheissen hat die grosse Kammer eine Motion der Grünen, mit der ein nationales Forschungsprogramm zum Umgang mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie drohenden langfristigen Umweltkrisen gefordert wird. Keine Mehrheit fanden dagegen eine Motion Rennwald (sp, JU), mit der die Landesregierung beauftragt werden sollte, einen neuen Fonds zur Förderung von technologischer Innovation zu schaffen sowie eine parlamentarische Initiative der FDP, die mehr Autonomie für die Forschungsförderung verlangte. Der Ständerat überwies in der Frühjahrssession ein Postulat seiner Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur. Der Bundesrat wurde damit beauftragt, zu prüfen, ob es zur Bekämpfung des Konjunkturrückgangs und insbesondere zur Stärkung der Grundlagen für einen Wiederaufschwung zweckmässig wäre, die Forschungs- und Innovationsförderung rasch voranzutreiben AB NR, 2009, S. 223 (Mo. FDP), 232 (Mo. Rennwald), 833 (pa.Iv. FDP) und 1552 (Mo. Grüne); AB SR, 2009, S. 201 (Po. WBK-SR)..
Die Innovationspolitik stand im Berichtsjahr zudem auf der Traktandenliste der FDP, die an ihrer Delegiertenversammlung im Oktober eine dreizehn Punkte umfassende Innovationsstrategie verabschiedete. Die Partei will die Ausgaben für Bildung und Forschung dauerhaft erhöhen und die Innovation durch Steuerabzüge für Forschungs- und Entwicklungsausgaben fördern NZZ, 4.8.09; BüZ, 18.10.09..
Die Schweiz verstärkt ihre Zusammenarbeit mit der USA in Wissenschaft und Technologie. Im April unterzeichnete der Bundesrat in Washington ein entsprechendes Rahmenabkommen. Mit der Kooperationsvereinbarung wird die Ein- und Ausreise für Forscher, die an gemeinsamen Programmen arbeiten, erleichtert. Zudem sollen die Ein- und Ausfuhrbestimmungen für die in den Projekten verwendeten Materialien gelockert werden NZZ, 3.4.09..
Im Oktober wies das Bundesgericht eine Beschwerde von Forschern der ETH und der Universität Zürich gegen ein Verbot von zwei Affenversuchsprojekten ab. Das oberste Gericht stützte den Entscheid der kantonalen Tierversuchskommission und der Kantonsregierung, welche die Versuche aufgrund der unverhältnismässigen Belastung für die Tiere als rechtswidrig erklärt hatten. Damit wurden in der Schweiz zum ersten Mal Tierversuche durch eine Tierversuchskommission auf dem Rechtsmittelweg verhindert. Die beiden Hochschulen zeigten sich vom Entscheid enttäuscht. ETH-Präsident Ralph Eichler und Uni-Prorektor Heini Murer rechneten mit negativen Auswirkungen auf die Stellung des Forschungsplatzes Zürich. Im Zusammenhang mit diesem Urteil meldete sich auch der Schweizer Tierschutz zu Wort und forderte ein Vetorecht für alle Tierversuchskommissionen. Zürich ist bisher der einzige Kanton in dem die Tierversuchskommission ein Rekursrecht besitzt, in der übrigen Schweiz können die Gremien nur Empfehlungen abgeben BaZ und TA, 14.10.09; TG, 15.10.09; NZZ, 3.12.09..
Im Berichtsjahr veröffentlichte eine Arbeitsgruppe des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) ein Papier, in dem das gescheiterte nationale Forschungsprojekt „Sesam“ (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) aufgearbeitet wird. Als Hauptfaktoren für den Misserfolg führen die Verfasser die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Begutachtung durch Ethikkommissionen, die Rekrutierung von Studienteilnehmerinnen sowie das politische und mediale Umfeld an. Der SNF empfiehlt im Bericht die Zuständigkeiten und Begutachtungsverfahren der Ethikkommissionen klarer zu regeln. Weiter schlägt er vor, eine nationale Rekursinstanz zu schaffen, die nicht nach politischen, sondern nach fachlichen Kriterien zusammengesetzt ist BaZ, 23.1.09; NZZ, 10.7.09. Vgl. SPJ 2008, S. 250 f..
Der Nationalrat überwies in der Wintersession ein Postulat der FDP, mit dem der Bundesrat beauftragt wird, Massnahmen zur Umsetzung des OECD-Berichts über die künftige Bedeutung der Biotechnologie zu prüfen AB NR, 2009, S. 2333..
Zu den gentechnisch veränderten Lebensmitteln und insbesondere zum Gentech-Moratorium in der Landwirtschaft siehe oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires).
Nachdem die Beschwerde gegen den Freisetzungsversuch in Pully (VD) vom Bundesverwaltungsgericht vollumfänglich abgewiesen worden war, konnten im Berichtsjahr die Versuche mit dem gentechnisch veränderten Weizen aufgenommen werden. Weil das Versuchsfeld in Reckenholz (ZH) im Vorjahr durch Vandalen zerstört worden war, standen die beiden Freisetzungsversuche unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Trotz der scharfen Bewachung gelang es anonymen Gentech-Gegnern, das Feld in Pully mit einer dieselhaltigen Flüssigkeit zu übersprühen. Im Boden und an den Kulturen entstanden dadurch Schäden NZZ, 10.2., 26.6. und 8.7.09; TA, 2.11.09; Bund, 4.4.09. Vgl. SPJ 2008, S. 251..
Der Ständerat hiess in der Wintersession mit 19 zu 11 Stimmen ein Postulat Leumann (fdp, LU) gut, welches eine Förderung des öffentlichen Dialogs über die Gentechnik im Ausserhumanbereich verlangt. Keine Folge gab er einer Petition des Komitees „gentechfreies Zürich-Nord“, mit welcher ein Abbruch der Freisetzungsversuche gefordert wurde AB SR, 2009, S. 1121 f. (Po. Leumann) und 1294 (Petition)..
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