Année politique Suisse 2010 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Freisinnig-Demokratische Partei (FDP)
Bereits im März des Berichtsjahrs wurde über den Rücktritt von Bundesrat Hans-Rudolf Merz spekuliert, den dieser dann am 6. August ankündigte. Die FDP betonte ihren Anspruch auf den frei werdenden Bunderatssitz und warnte die anderen Parteien vor einem Spiel mit dem Feuer. Im Gegensatz zur Nachfolgeregelung bei Pascal Couchepin 2009 wirkte die FDP gut vorbereitet. Die Parteispitzen kündigten sofort an, nicht zu kandidieren. Als Kronfavoriten kristallisierten sich die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter und der Berner Nationalrat Johann Schneider-Ammann heraus, die Anfang September von der Bundeshausfraktion auch offiziell nominiert wurden. Ruedi Noser (ZH), Peter Malama (BS) und Ignazio Cassis (TI) scheiterten in der parteiinternen Ausmarchung. Bei den Wahlen vom 22. September setzte sich Johann Schneider-Amann gegen Keller-Sutter und vor allem gegen den SVP-Sprengkandidaten Jean-François Rime durch. An der Delegiertenversammlung Mitte Oktober in Herisau wurde Hans-Rudolf Merz mit stehenden Ovationen verabschiedet. Parteipräsident Pelli würdigte ihn als „erfolgreichsten Finanzminister Europas“, weil der Bund unter seiner Amtsführung die Schulden beträchtlich reduziert hat [22].
Mit dem erst 30-jährigen Raphaël Comte konnte die FDP den aufgrund der Wahl von Didier Burkhalter in den Bundesrat frei gewordenen Neuenburger Ständeratssitz bei den Ersatzwahlen vom Januar 2010 verteidigen [23].
Bei den kantonalen Exekutivwahlen, die im Berichtsjahr in den Kantonen AI, BE, GL, GR, JU, NW, OW und ZG durchgeführt wurden, vermochte die FDP all ihre Sitze zu halten. Auch bei den Ersatzwahlen in Neuenburg konnte die FDP ihren vor einem Jahr gewonnen Regierungssitz verteidigen. Die Ersatzwahl war nötig geworden, weil der FDP-Regierungsrat Frédéric Hainard nach dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs zurücktreten musste. Die Affäre schein der FDP allerdings nicht geschadet zu haben [24].
Weniger erfreulich fielen für den Freisinn hingegen die kantonalen Parlamentswahlen aus. In sechs der sieben Kantone, in denen im Berichtsjahr Legislativwahlen durchgeführt wurden (BE, GL, GR, JU, NW, OW, ZG), musste die Partei teilweise herbe Verluste hinnehmen. So verlor sie etwa in Glarus 9.2 Prozentpunkte an Wähleranteil (neu: 20.3%). In Bern sank der Wähleranteil um 6 Prozentpunkte (neu: 10.3%) und im Kanton Jura um 4.7 Prozentpunkte (neu: 14.5%). Im jüngsten Kanton hat die FDP damit innerhalb von 20 Jahren die Hälfte der Wähler (von 29% 1986 zu 14.5% 2010) und die Hälfte der Sitze verloren (1986: 16 Sitze; 2010: 8 Sitze). In Obwalden wurde die FDP von der SVP überholt und ist nunmehr drittstärkste Kraft im Parlament (-3.0 Prozentpunkte, neu: 17.9%). Per Saldo hat die FDP in den sieben Kantonen, in denen im Berichtsjahr Parlamentswahlen stattfanden, 17 Mandate verloren. Einzig im Kanton Graubünden konnten die Freisinnigen einen deutlichen Sieg erringen. Sie gewannen fünf Sitze und wurden stärkste Fraktion im kantonalen Parlament. Im Gegensatz zu allen anderen Kantonen ist in Graubünden die Konkurrenz der SVP gering. Die GLP und die BDP, die der FDP in den meisten Kantonen in der Mitte Sitze abzujagen vermochten, spielen in Graubünden im Kampf um die Machtverteilung in der kantonalen Legislative andere Rollen. Während die GLP hier noch in den Startlöchern steht, kann die BDP bereits als saturierte Partei betrachtet werden [25].
Die FDP hat sich bisher nicht als eifrige Nutzerin der Volksinitiative erwiesen. Im Frühjahr 2009 kündigte die Partei aber an, den Wahlkampf ihrerseits mit einem Volksbegehren auffrischen zu wollen. Dabei ging es ihr insbesondere um eine verbesserte Positionierung und Profilierung im Wahlkampfgeschehen. Die Suche nach einem Thema verlief allerdings schleppend. Verschiedene Projekte wurden diskutiert und wieder verworfen; so etwa eine AHV-Schuldenbremse, die Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer oder eine Vereinfachung des Steuersystems. An der Delegiertenversammlung vom 26. Juni wurde schliesslich die Lancierung der Bürokratie-Stopp-Initiative beschlossen. Das Begehren will den Anspruch auf einfache und verständliche Gesetze und auf unbürokratische Verfahren in der Verfassung festhalten. An der Delegiertenversammlung vom 11. September wurde die Initiative offiziell lanciert. Die Idee zum Volksbegehren war bereits im Januar in der Kantonalzürcher Sektion geboren worden. Dabei hatte die FDP des Kantons Zürich einen „Gahts no!“Preis für das absurdeste Erlebnis mit Verwaltungsangestellten oder unsinnigen Vorschriften ausgesetzt [26].
Ihren Wahlkampf 2011 läutete die FDP Anfang Dezember mit Inseraten in der Sonntagspresse ein. Mit dem Slogan „Aus Liebe zur Schweiz – mit Mut und Verstand“ versuche die FDP, sich „von den beiden S-Parteien abzugrenzen“, so Generalsekretär Brupbacher. Parteipräsident Pelli kündigte zudem an, man wolle die beiden Bundesräte aktiv in den Wahlkampf einbinden [27].
Anfang Februar zog der neue FDP-Bundesrat Didier Burkhalter seine 100-Tage-Bilanz. Er hob hervor, dass er die steigenden Gesundheitskosten in den Griff bekommen wolle. Die Presse lobte die bisherige Arbeit des Innenministers, kritisierte aber seine Personalpolitik: Einige seiner neu ernannten Mitarbeiter seien stark mit der Pharmabranche verbunden [28].
Die Präsidentin der FDP-Frauen, Jacqueline de Quattro (VD) trat im Juni aufgrund ihres Regierungsamtes zurück. Ihre Nachfolge wurde im Herbst an einer ausserordentlichen Generalversammlung geregelt. Carmen Walker Späh, die Zürcher Kantonsrätin als Präsidentin und die Landrätin des Kantons Basel-Landschaft, Petra Studer als Vizepräsidentin waren unbestritten [29].
An ihrer Versammlung vom 23. Januar in Bern diskutierten die Delegierten über die Gesundheitspolitik. Eine Arbeitsgruppe präsentierte ein Arbeitspapier, in welchem unter anderem die Einsetzung einer unabhängigen Rating-Agentur vorgeschlagen wird, welche die Qualität des Gesundheitssystems beurteilen und die Resultate ihrer Arbeit veröffentlichen soll. Es fand sich zudem ein breiter Konsens für das sogenannte ManagedCareKonzept. Mit tieferen Prämien sollen entsprechende Modelle attraktiv gemacht werden. Als wichtig wurde zudem die Vertragsfreiheit zwischen Versicherern und Leistungserbringern hervorgehoben. Die Delegierten sprachen sich auch für eine Aufhebung des geltenden Ärztestopps aus [30].
Ein Jahr nach der Volksabstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit mit der EU legte die FDP eine Zwischenbilanz vor. Sie bilanzierte, dass die Einwanderung zwar zugenommen habe, die Negativfolgen aber nicht eingetreten seien wie es die Gegner prophezeit hätten. Weder hätte die Arbeitslosigkeit zugenommen, noch sei das Lohnniveau gesunken. Auch eine Zunahme von Kriminalität und Sozialtourismus sei nicht zu beobachten [31].
Die UBS-Affäre beschäftigte auch die FDP. Die Partei, die sich als „Helferin des Finanzplatzes Schweiz“ (Pelli) betrachtet, bekundete aber Mühe, sich deutlich von den Grossbanken zu distanzieren. Der Unmut gegenüber der UBS wuchs auch in der Wirtschaftspartei. Insbesondere Nationalrat Philipp Müller (AG) schoss scharf gegen die Bank und dachte laut über einen Bruch der FDP mit den Grossbanken nach. Daraufhin trat der frühere UBS-Chef Peter Wuffli als Präsident der Freunde der FDP zurück, einem Sponsorenverein, welcher der Partei jährlich mehrere 100 000 Fr. zukommen lässt. Wuffli begründete seinen Rücktritt damit, dass er die FDP in der Vorwahlphase nicht belasten wolle. Der Streit innerhalb der FDP weitete sich aus, nachdem die Parteileitung die Parlamentarier angehalten hatte, sich in Bezug auf die Finanzplatzstrategie des Bundes an die Parteilinie zu halten. Mit der Idee einer Weissgeldstrategie hatte sich der Unternehmerflügel um die Nationalräte Otto Ineichen (LU), Philipp Müller (AG), Tarzisius Caviezel (GR) und Werner Messmer (TG) den Unmut der Parteileitung zugezogen. Allerdings schwenkte dann aber auch die offizielle Partei von der Verteidigung des Bankgeheimnisses ab. An einer Medienkonferenz demonstrierte sie einen Schulterschluss und präsentierte eine Weiterentwicklung der schweizerischen Finanzmarktstrategie. In der Folge wurde eine Strategiegruppe unter Führung von Rolf Schweiger (ZG) eingesetzt, die an der Delegiertenversammlung vom 24. April einen Bericht vorlegte. Die ursprüngliche Weissgeldidee war bereits im Vorfeld der Versammlung von den kantonalen Parteipräsidenten abgeschwächt worden, nachdem mehrere Kantonalsektionen Widerstand angekündigt hatten. Anstelle einer Belegpflicht wurde eine Selbstdeklaration für ausländische Bankkunden gefordert und statt der Einführung der schweren Steuerhinterziehung als Strafdelikt wurden eine Steuerrechtsrevision und Verhaltensregeln für Banken vorgeschlagen. Nach einer heftigen Diskussion wurde das Papier von den Delegierten knapp angenommen [32].
Dass die Partei die Geduld mit den Banken verliert, zeigte sich auch wenige Tage nach der Weissgeld-Diskussion. Der Parteivorstand empfahl den Aktionären der Grossbank Crédit Suisse, den Vergütungsbericht an der Generalversammlung abzulehnen. Damit sollte ein Zeichen gegen die hohen Boni gesetzt werden [33].
In einem im Mai präsentierten Positionspapier setzte sich die FDP mit der Sicherheitspolitik auseinander. Darin fordert sie eine Verschärfung des Strafrechts, die Schaffung einheitlicher Rechtsgrundlagen für die Videoüberwachung und ein härteres Durchgreifen der Ordnungsmächte bei Demonstrationen. Eine von den beiden Regierungsrätinnen Jacqueline de Quattro (VD) und Karin Keller-Sutter (SG) angeführte Arbeitsgruppe soll konkrete Massnahmen vorschlagen, wie der Zunahme der Gewalt in der Schweiz vorgebeugt werden kann [34].
An der Delegiertenversammlung im Juni wurde ein Massnahmenpapier zur Energiepolitik verabschiedet. Darin wird die Steigerung der Energieeffizienz in Altbauten und die vermehrte Installation von thermischen Sonnenkollektoren auf geeigneten Dächern gefordert [35].
In einem Positionspapier zur Aussenpolitik korrigierte die FDP das 1995 eher zufällig gefasste strategische Ziel eines EU-Beitritts. Der offizielle Europakurs der Partei sei der Bilateralismus, erinnerte Pelli die Delegierten am Parteitag vom 16. Oktober in Herisau. Weder ein Alleingang noch ein EU- oder EWR-Beitritt seien valable Alternativen zum bilateralen Weg. Die Delegierten sprachen sich in der Folge für die Streichung des 1995 gefassten Beschlusses aus. Der Antrag aus der französischen Schweiz, die Möglichkeit eines Voll- oder Teilbeitritts, allenfalls eines Rahmenabkommens, regelmässig neu zu beurteilen, wurde mit 172 zu 53 Stimmen abgelehnt. Im schliesslich verabschiedeten Positionspapier sprachen sich die Freisinnigen deutlich für den gezielten Ausbau des bilateralen Wegs aus. Insbesondere eine Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll angedacht werden [36].
Die 2008 beschlossene Fusion zwischen der nationalen FDP und der nationalen LP ist bis anhin noch nicht in allen Kantonalsektionen vollzogen worden. Im Berichtsjahr vertieften die Liberalen und die FDP in den Kantonen Genf und Waadt ihre Fusionspläne. Kein Thema ist ein Zusammengehen vorderhand im Kanton Basel-Stadt, wo die Liberale Partei im Berichtsjahr mit der Rückkehr zur Bezeichnung Liberaldemokraten, ihren alten Namen wieder annahm [37].
 
[22] SGT, 31.3.10; Presse vom 7.8. und 4.9.10; Delegiertenversammlung: NZZ, 18.10.10; Ausführlich zu den Bundesratswahlen berichten wir in Teil I, 1 c (Regierung). Zum Streit zwischen Pelli und Levrat (sp) wegen der Departementsverteilung siehe oben (SP).
[23] Presse vom 18.1.10; zu den Wahlen vgl. ausführlich Teil I, 1e (Wahlen).
[24] NZZ, 22.11.10; zu den Wahlen berichten wir ausführlich im Teil I, 1e (Wahlen).
[25] TA, 30.3.10; LT, 26.10.10; SZ, 1.6.10; NZZ, 13.6.10; zu den Wahlen berichten wir ausführlich im Teil I, 1e (Wahlen).
[26] Presse vom 16.2.10; BaZ, 23.3.10; NZZ, 23.6., 26.6 und 4.8.10; Presse vom 28.6., 11.9. und 13.9.10; Zürcher Sektion: NZZ, 23.1.10; TA, 2.8.10.
[27] Presse vom 6.12. und 7.12.10; SZ, 7.12.10; NZZ, 13.12.10.
[28] Presse vom 3.2.10.
[29] 24h, 8.6.10; BaZ, 2.10.10; Presse vom 4.10.10; AZ, 12.10.10.
[30] NF, 25.1.10.
[31] NZZ, SZ und NLZ 9.2.10.
[32] TA, 30.1.10; SZ und NLZ, 12.2.10; TA, 17.2.10; Presse vom 2.3. und vom 9.3.10; SoZ, 25.4.10; Presse vom 26. und 27.4.10.
[33] Presse vom 27.4.10.
[34] NZZ, 18.5.10.
[35] Presse vom 28.6.10.
[36] Zum Beschluss von 1995 vgl. SPJ 1995, S. 344; NZZ, 12.10. und 18.10.10; BaZ 16.10.10.
[37] GE: TG, 14.4. und 15.4.10; VD: 24h, 15.3.10; BS: BaZ, 25.3. und 13.10.10; zur nationalen Fusion vgl. SPJ 2008, S. 306.