Année politique Suisse 2010 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
Schweizerische Volkspartei (SVP)
Die SVP trat an den
Bundesratsersatzwahlen im Herbst des Berichtjahres für beide durch die Rücktritte von Moritz Leuenberger (sp) und Hans-Rudolf Merz (fdp) frei gewordenen Bundesratssitze mit einer Kampfkandidatur an. Allerdings gestaltete sich die Kandidatensuche schwierig. Weder Caspar Baader (BL), noch Peter Spuhler (TG) oder Ulrich Giezendanner (AG) stellten sich zur Verfügung. Schliesslich trat Jean-François Rime (FR) an, der bereits für den frei gewordenen Sitz von Pascal Couchepin 2009 als Kampfkandidat zur Verfügung gestanden hatte. Dank der geschlossenen Unterstützung seiner Fraktion wurde Rime in beiden Ersatzwahlen jeweils erst im letzten Wahlgang geschlagen
[51].
Bei den kantonalen Wahlen setzte die SVP ihre Siegesserie in unterschiedlichem Ausmass fort. Bei den
kantonalen Exekutivwahlen (in den Kantonen AI, BE, GL, GR, JU, NW, OW, ZG) wahrte die Volkspartei ihren Besitzstand mehrheitlich. In Bern konnte sie ihren Regierungssitz verteidigen, der Angriff auf den Sitz der BDP jedoch war nicht erfolgreich. Auch in den Kantonen Obwalden, Jura und Graubünden hatten die Kandidierenden der SVP keine Chancen auf einen Regierungssitz. In den Kantonen Glarus und Appenzell Innerrhoden trat die SVP nicht zu den Exekutivwahlen an. Erfolge konnten in den Kantonen Zug und Nidwalden verbucht werden, wo jeweils auf Kosten der Grünen ein zusätzlicher Sitz gewonnen wurde
[52].
Bei den kantonalen Parlamentswahlen in den Kantonen Bern, Graubünden und Glarus musste die SVP ihre Parlamentssitze gegen die BDP verteidigen. Dies gelang ihr in Bern, wo die BDP zum ersten Mal antrat und gleich 25 Sitze gewann, sehr gut: die SVP verlor nämlich lediglich drei ihrer 44 Sitze und blieb klar stärkste Fraktion. Sie kam auf einen Wähleranteil von 26.6%. Im Kanton Glarus verlor die SVP zwar ebenfalls zwei Sitze an die BDP, wurde aber im verkleinerten Parlament wieder stärkste Fraktion (26.3% Wähleranteil). Im Kanton Graubünden waren die Vorzeichen genau umgekehrt. Hier war es die SVP, die als Herausforderin antrat. Sie gewann allerdings lediglich vier Sitze. In drei der vier restlichen Kantone, in denen Parlamentswahlen ohne Beteiligung der BDP stattfanden, konnte die SVP stark zulegen. In Obwalden und Nidwalden stieg der Wähleranteil der SVP um mehr als 7 Prozentpunkte (Wähleranteil NW: 26.6%, + 9 Sitze; OW: 21.1%, + 5 Sitze). In Nidwalden ist die SVP neu fraktionsstärkste und in Obwalden zweitstärkste Partei. In Zug vermochte die Volkspartei zwei Mandate hinzuzugewinnen und kommt neu auf einen Wähleranteil von 22.7%. Auch im Kanton Jura konnte die SVP zulegen. Sie gewann einen Sitz und kommt neu auf vier Mandate. Per Saldo hat die SVP also im Berichtsjahr 16 kantonale Sitze gewonnen.
Die 2009 in
Neuenburg und in Genf eingefahrenen Wahlniederlagen hatten ein Nachspiel. Vizepräsident Christoph Blocher, Generalsekretär Martin Baltisser und Fraktionschef Caspar Baader trafen sich mit den entsprechenden Kantonalsektionen und schwörten sie auf mehr Linientreue ein. Blocher schlug den Genfern zudem eine Fusion mit der MCG, der Konkurrenzpartei am rechten Flügel vor
[53].
Bereits im Januar des Berichtjahrs an der Albisgüetlitagung läutete Christoph Blocher mit einer Rede gegen die Classe politique die
Wahlen 2011 ein. Wer für die Schweiz sei, müsse SVP wählen. Mit zwei neu lancierten Volksinitiativen will man im Wahljahr ebenfalls punkten. Ende Januar begann die Unterschriftensammlung für die Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates. Mit einer Familieninitiative will die SVP, dass Steuerabzüge nicht nur für fremd betreute Kinder geltend gemacht werden können, wie dies in der 2009 beschlossenen Familienbesteuerungsreform beschlossen worden war, sondern dass auch Familien, die ihre Kinder selber betreuen, davon profitieren können. Mitte Juli gab die SVP bekannt, dass Hans Fehr eine zentrale Führungsposition für den
Wahlkampf 2011 übernehmen werde. Fehr trat daraufhin nach zwölf Jahren als Präsident der Auns zurück
[54].
Zum zweiten Mal kurz hintereinander feierte die SVP im Berichtsjahr einen Erfolg mit einer Volksinitiative. Nachdem 2009 die Anti-Minarett-Initiative angenommen worden war, akzeptierte der Souverän auch die
Ausschaffungsinitiative. Erneut machte die SVP dabei mit einem umstrittenen Plakat (Ivan S.) auf ihr Begehren aufmerksam. Der Vorschlag von Bundesrätin Sommaruga, zwei SVP-Vertreter in die Arbeitsgruppe aufzunehmen, die Vorschläge zur Umsetzung der Initiative erarbeiten sollte, wurde von der SVP zuerst skeptisch aufgenommen. Die SVP sei nicht an einem Kompromiss, sondern an einer „Eins-zu eins“-Umsetzung interessiert, liess sich Vizepräsident Blocher verlauten. Erst nachdem die Forderung des EJPD nach absoluter Vertraulichkeit fallen gelassen wurde, zeigte sich die SVP einverstanden mit einer Mitarbeit und setzte zwei Vertreter ein
[55].
Ende Oktober präsentierte die SVP ihr neues
Parteiprogramm für 2011 bis 2015, auf Basis dessen sie bei den Wahlen 2011 mindestens 30% Wähleranteil zu erreichen gedenkt. Eckpfeiler des Wahlprogramms, das unter dem Slogan „Schweizer wählen SVP“ präsentiert wurde, sind die Bekämpfung des EU-Beitritts, ein schlanker Staat sowie die Ausländer- und Asylpolitik. Unter der Federführung von Nationalrat Christoph Mörgeli (ZH) wurden auf 80 Seiten die Ziele der SVP unter dem Motto „Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand“ zusammengefasst. An der Delegiertenversammlung in Coinsins am 4. Dezember wurde das Programm durchgewinkt
[56].
An der Delegiertenversammlung Ende Januar in Stans verabschiedete die SVP eine Resolution zur
Energiepolitik. Sie forderte den raschen Bau neuer Atomkraftwerke, um zusammen mit den Wasserkraftwerken den kostengünstigen Strommix weiterhin gewährleisten zu können. Erneuerbare Energien hätten zwar Potenzial, wurde beschieden, dieses sei aber begrenzt und nicht durch staatliche Unterstützung zu fördern
[57].
In einem Grundlagenpapier äusserte sich eine Gruppe um Nationalrat Ulrich Schlüer (ZH) zur
Bildungspolitik. Darin stellt sich die SVP gegen den integrativen Unterricht, wonach Sonderklassen abgeschafft und in die Regelklassen integriert werden sollen. Kinder von Migrant(-inn)en sollen erst in Regelklassen eintreten dürfen, wenn sie über genügend Deutschkenntnisse verfügen. Schlüer stellte zudem eine Verweiblichung der Schule fest und forderte mehr Lehrer statt Lehrerinnen. Schliesslich müsse im Kindergarten wieder in Mundart und nicht in Hochsprache unterrichtet werden. Das leicht überarbeitete Bildungspapier wurde an der Delegiertenversammlung Mitte Oktober an einem Sonderparteitag verabschiedet
[58].
An der Delegiertenversammlung vom Mai in Näfels wiederholte die SVP ihr Vorbehalte gegen
Schengen. Sie forderte ein Moratorium für weitere Anpassungen an den Schengen-Rechtsstand. Es soll sogar eine Kündigung des Abkommens geprüft werden. Ebenfalls kritisiert wurde der lasche Umgang der Behörden mit Sans-Papiers
[59].
Hatte die SVP sich zu Beginn der Debatte zum
UBS-Abkommen noch dezidiert gegen einen
Staatsvertrag mit den USA ausgesprochen, machte sie Ende Mai eine Kehrtwende hin zu dessen Befürwortung mit der Begründung, man wolle die Forderung der SP nach einer Bonussteuer nicht unterstützen. Um das Gesicht nicht zu verlieren, enthielten sich viele Nationalräte bei der Schlussabstimmung der Stimme. Das Hin und Her der Parteileitung wurde von einigen Parlamentariern nicht goutiert. Vizepräsident Yvan Perrin (NE) drohte gar mit einem Rücktritt aus der Parteileitung, weil die Partei aus taktischen Gründen ihre Prinzipien verraten hätte und die SVP-Sektionen aus der Westschweiz übergangen würden. Auch Oskar Freysinger (VS) kritisierte die Parteispitze scharf und forderte eine Kerngruppe innerhalb der Fraktion, die darauf schaue, dass einmal gefällte Entscheide nicht wieder umgestossen würden. Es gehe zudem nicht an, dass Entscheide ohne innerparteiliche Debatte gefällt würden. Die Wogen glätteten sich allerdings rasch wieder und Perrin bot an, mindestens bis Ende 2011 in der Parteileitung zu bleiben
[60].
An der Delegiertenversammlung Ende Juni in Delémont bekräftige die SVP ihre kritische
Haltung zur EU. Der EU-Beitritt müsse unbedingt verhindert werden. Vizepräsident Christoph Blocher bezeichnete die EU als intellektuelle Fehlkonstruktion, die scheitern werde, weil sie nur dem Eigeninteresse der Classe politique diene. Er dachte später sogar laut über eine Initiative nach, mit der das Verbot eines EU-Beitritts in der Verfassung verankert werden sollte
[61].
Einiges Aufsehen erregte die
SVP-Volksbefragung, die – 24 Seiten dick – am 1. August an alle Schweizer Haushalte verteilt wurde. Die PR-Aktion diente einerseits der Lancierung des Abstimmungskampfs zur Ausschaffungsinitiative, andererseits, so Präsident Brunner, aber auch der Austarierung der künftigen SVP-Migrationspolitik. Die Partei verbuchte Mitte November die rund 70 000 Rückmeldungen als Erfolg. Sie enthielten viele gute Vorschläge für ausländerpolitische Vorstösse. Über 90% der Befragten würden einen Handlungsbedarf in der Migrationspolitik sehen. Weil die Befragung keinerlei repräsentativen Charakter beanspruchte (die 70 000 zurückgeschickten Bögen entsprechen einer Rücklaufquote von knapp 2%) und die Resultate zum vornherein klar waren, stiess die Umfrage auf teilweise harsche Kritik
[62].
Einigen Wirbel verursachte die Weisung der Lausanner Gewerbepolizei, die es der SVP verbot auf dem Beaulieu-Messegelände der Stadt eine Delegiertenversammlung abzuhalten. Das Risiko für Ausschreitungen wurde als zu gross erachtet, insbesondere auch deshalb, weil die Gewerkschaft Unia an gleicher Stätte eine Versammlung geplant hatte. Nachdem sich aufgrund von Studierendenprotesten auch die Universität Lausanne geweigert hatte, ihre Räumlichkeiten für die SVP-Delegiertenversammlung zur Verfügung zu stellen und die Volkspartei keinen geeigneten Raum für die 700 Delegierten und 300 Gäste mehr finden konnte, tagte sie am 4. Dezember auf einer Wiese bei
Coinsins [63].
Entgegen der Empfehlung des Zentralvorstands wählten die Delegierten an der Versammlung im Mai in Näfels die Berner Grossrätin Nadja Pierren als Nachfolgerin von Jasmin Hutter zur neuen
Vizepräsidentin. Die von der Jungen SVP vorgeschlagene Pierren schlug die Nidwalder Landrätin Michèle Blöchliger knapp
[64].
Im Juni liessen einige Exponenten der SVP durchsickern, dass Christoph Blocher für die
Wahlen 2011 wieder kandidieren werde. Seit seiner Abwahl als Bundesrat ist der Unternehmer ohne politisches Mandat geblieben. Im Kanton Aargau beschloss die kantonale SVP bereits im Juni eine Rochade für die Wahlen 2011. Noch-Nationalrat Ulrich Giezendanner soll für die kleine, Noch-Ständerat Maximilian Reimann für die grosse Kammer kandidieren
[65].
Ein Eklat in der Bieler SVP führte zum
Austritt von fünf Stadträten und Gemeinderat René Schlauri aus der Partei. Sie wollten den Oppositionskurs der lokalen SVP nicht weiter mittragen und deshalb eine eigene Bieler Volkspartei (BVP) gründen. Die neue Partei stellte bei der SVP des Kantons Bern einen Antrag für eine Aufnahme als weitere Bieler Ortssektion. Dabei schlossen es die Abtrünnigen nicht aus, auch Verhandlungen mit der BDP zu führen
[66].
[51] Presse vom 9.4., 17.8, 27.8 und 1.9.10; ausführlich zu den Bundesratswahlen berichten wir in Teil I, 1 c (Regierung).
[52] Wir berichten ausführlich über die Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen), vgl. auch Anhang.
[53] Wir berichten ausführlich zu den Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen), zu den Stimmen- und Sitzanteilen vgl. auch den Anhang. Genf und Neuenburg:
TA, 12.2.10;
TG, 4.11.10;
AZ, 6.11.10.
[54] Presse vom 16.1.10;
TA, 27.1.10;
BaZ, 23.3.10; Presse vom 16.7.10.
[55] Zum Plakat:
24h, 29.10.10; zur Arbeitsgruppe:
TA, 13.12. bis 24.12.10; Presse vom 13.12.10; zur Ausschaffungsinitiative vgl. ausführlich Teil I, 7d (Ausländerpolitik).
[56] Presse vom 26.10. und vom 6.12.10.
[58]
TA, 1.2.10;
BAZ, 20.10.10.
[60] Presse vom 21.5. bis 10.6.10; Perrin/Freysinger: Presse vom 21.6. bis 23.6. und 6.7.10.
[61] Presse vom 28.6. und vom 24.7.10.
[62] Presse vom 27.7. bis 30.7.10;
TA, 23.8.10; Presse vom 10.11.10.
[63] Presse vom 11.11. bis 5.12.10.
[65]
NZZ, 3.6.10; Presse vom 4.6.10.
[66] Presse vom 12.8. und 13.8.10.
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