Année politique Suisse 2010 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Staatsschutz
Der Nationalrat überwies die Motion Marty (fdp, TI). Diese beauftragt den Bundesrat, dem
UNO-
Sicherheitsrat mitzuteilen, dass Sanktionen gegen natürliche Personen auf der schwarzen Liste zur
Terrorismusbekämpfung nur noch umgesetzt werden, wenn diese Personen auch juristische Rekursmöglichkeiten haben und tatsächlich von Justizbehörden angeklagt sind. Der Ständerat hatte diese Motion bereits 2009 gutgeheissen
[10].
Die Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes beschäftigten die Räte wie in den vorangehenden Jahren auch im Berichtsjahr. Wir berichten hier nur über jene Geschäfte, die Gesetzesänderungen nach sich ziehen oder kontrovers diskutiert wurden. Konkret handelt es sich um drei Fälle:
Kontroversen löste die Einführung und vor allem die externe
Speicherung biometrischer Daten im Ausländerausweis aus, mit deren Hilfe illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt besser bekämpft werden sollen. Die Mehrheit der vorberatenden Kommission des Nationalrats wollte ein Speichern der Daten aus Datenschutzgründen und aufgrund einer fehlenden entsprechenden Klausel im Schengen-Abkommen verbieten. Die grosse Kammer folgte jedoch der Kommissionsminderheit und dem Entwurf des Bundesrats mit der Begründung, dass eine Speicherung die Arbeit der Kantone erleichtere und eine bessere Bekämpfung von Missbräuchen ermögliche. Im Ständerat war die Vorlage unbestritten, was sich auch in der einstimmigen Schlussabstimmung zeigte. Im Nationalrat wurde sie mit 107 zu 58 Stimmen angenommen
[11].
Ebenfalls umstritten war die
Übernahme der Rückführungsrichtlinie, mit der die
EU eine Vereinheitlichung der Rückführung illegaler Einwanderer auf der Basis von klaren Regelungen schaffen wollte. Die Richtlinie verlangte Anpassungen im Bundegesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG). Während der Ständerat dem Vorschlag des Bundesrates gefolgt war, wurde im Nationalrat insbesondere über die Dauer der Haftstrafe für illegale Einwanderung debattiert. Die EU-Richtlinie sieht eine maximale Haftdauer von 18 Monaten vor, während die Obergrenze in der Schweiz bisher 24 Monate betrug. Die Mehrheit des Nationalrates wollte an der bisherigen Praxis festhalten und den Bundesrat beauftragen, in diesem Punkt mit der EU zu verhandeln. Nachdem der Ständerat in der Geschäftsbereinigung allerdings auf der Herabsetzung beharrte, lenkte schliesslich auch der Nationalrat ein – mit Ausnahme der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion
[12].
Zu einer Allianz zwischen den Grünen und der SVP kam es bei der
Übernahme der Rechtsgrundlagen zum Aussengrenzenfonds. Der Fonds unterstützt jene Staaten, bei denen der Schutz der Aussengrenzen dauerhaft hohe Kosten verursacht. Beide erwähnten Fraktionen beantragten Nichteintreten. Während die Grünen ihren Antrag als Veto gegen die bestehende Rückschaffungspraxis verstanden haben wollten, beurteilte die SVP das Schengen-Abkommen als Verschlechterung der schweizerischen Sicherheitspolitik. Die grosse Kammer wollte aber von beiden Vorbehalten nichts wissen, trat auf die Debatte ein und übernahm – wie bereits vorher der Ständerat – den Bundebeschluss diskussionslos. Die 73 ablehnenden Stimmen in der Schlussabstimmung stammten aus dem Lager der Grünen und aus der SVP-Fraktion und standen 110 befürwortenden Stimmen gegenüber. Der Ständerat nahm den Beschluss einstimmig an
[13].
Nachdem die
Revision des Staatsschutzgesetzes 2009 insbesondere aufgrund der Idee, dem Staatsschutz das Abhören von privaten Räumen oder Telefongesprächen zu gestatten, gescheitert war, legte der Bundesrat im Oktober eine neue Teilrevision vor, die lediglich unbestrittene Fragen regeln soll. Neu wird ein weitgehendes Einsichtsrecht von Betroffenen in ihre Personendaten sowie die Möglichkeit von Tarnidentitäten und der Bewaffnung für Geheimdienstpolizisten vorgeschlagen. Die umstrittenen Fragen sollen in einer zweiten Teilrevision Ende 2012 vorgelegt werden. Die FDP kritisierte das schleppende Tempo. Eine Allianz aus SVP und SP habe die ursprüngliche Reform torpediert und verunmögliche eine wirksame Terrorabwehr. Es bestehe so die Gefahr, dass die Schweiz zum Hort internationaler Terroristen werde
[14].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Malama (fdp, BS), das auch vom Bundesrat unterstützt wurde. Es fordert die Klärung der Zuständigkeiten von Bund und Kantonen bei Fragen der Ausgestaltung der
inneren Sicherheit. Geprüft werden sollen insbesondere die Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungskompetenzen des Bundes
[15].
Am 21. Juni legte die Geschäftsprüfungskommission der eidgenössischen Räte (GPDel) einen Bericht über die
Inspektion der Datenbank ISIS vor. In ISIS werden die Karteien des Staatsschutzes elektronisch abgelegt. Die GPDel wies auf substanzielle Defizite in der Qualitätskontrolle hin. Seit Anfang 2005 waren 16 000 Eingangskontrollen und 40 000 vorgeschriebene periodische Überprüfungen nicht vorgenommen worden. Die GPDel wies zahlreiche Fehleinträge nach und zeigte auf, dass das gesetzlich vorgeschriebene Löschen nicht relevanter Daten unterlassen wurde. Ende 2009 wurden mehr als 200 000 Personennamen im Staatsschutz-Register geführt. Die GPDel empfahl, einen externen Datenbeauftragten zuzuziehen, der die rechtlich verlangte Kontrolle der Daten durchsetzen soll. Der Bericht verursachte einigen Wirbel in der Presse, die einen Bezug zur Fichenaffäre in den 1990er-Jahren herstellte. Bundesrat Maurer teilte die Kritik der GPDel, wies aber darauf hin, dass bereits Anfang 2009 mit der internen Qualitätskontrolle begonnen worden sei und dass die Zahl der fichierten Personennamen abgebaut werde. Im August passte der Bundesrat die Verordnung über den Nachrichtendienst an, mit welcher auch die Staatsschutzaufsicht durch die Kantone verbessert werden soll. Kantonsorgane nahmen nämlich bis anhin im Auftrag des Bundes Staatsschutzaufgaben wahr, ohne dass eine Kontrolle durch kantonale Instanzen selbst erfolgen konnte. Für Neueinträge sollen zudem strengere Richtlinien gelten und Daten, die älter als fünf Jahre sind, müssen überprüft und allenfalls gelöscht werden. Der Bundesrat machte aber auch deutlich, dass ein effizienter Nachrichtendienst unabdingbar sei für den Schutz des Rechtsstaats und der Demokratie vor Bedrohungen. Die Bewahrung staatstragender Grundsätze solle auch für den auf Ende 2012 geplanten Entwurf eines neuen Nachrichtendienstgesetzes leitend sein
[16].
Der
Fall Tinner beschäftigte Politik und Medien 2010 weiterhin. Das Bundesgericht wies zu Beginn des Berichtjahrs eine Beschwerde seitens der Bundesanwaltschaft ab, die eine uneingeschränkte Einsicht in die umstrittenen Akten verlangt hatte. Das Gerichtsurteil bestätigte den Bundesrat einstweilen in seinem Vorgehen, brisante Papiere zu diesem Fall unter Verschluss zu halten. Im Dezember beantragte dann aber der eidgenössische Untersuchungsrichter Anklage gegen die Familie Tinner und forderte Akteneinsicht. In seinem Bericht machte er Verstösse gegen das Kriegsmaterial- und das Geldwäschereigesetz geltend. Darüber hinaus kritisierte er die Einschränkung der Akteneinsicht zulasten der Bundesanwaltschaft durch den Bundesrat scharf. Es sei rechtsstaatlich bedenklich, wenn die eine Gewalt die andere nicht respektiere und behindere
[17].
[10]
AB SR, 2010, S. 155 ff.; Siehe
SPJ 2009, S. 20.
[11]
BBl, 2010, S. 4335 ff. und 4303 ff.;
AB NR, 2010, S. 130 ff. und 1160;
AB SR, 2010, S. 515 und 750.
[12]
BBl, 2009, S. 8881 ff.;
AB SR, 2010, S. 348 ff. und 513 ff.;
AB NR, 2010, S. 724 ff. und 849 ff.; Schlussabstimmungen: NR: 121:61 (AB NR, 2010: 1162); SR: 42:0 (AB SR, 2010: 752).
TA, 22.05.10.
[13]
BBl, 2010, S. 1665 ff.;
AB SR, 2010, S. 624 f. und 1012;
AB NR, 2010, S. 1353 ff. und 1677.
[14]
NZZ, 28.10.10; Siehe
SPJ 2009, S. 20 f.
[15]
AB NR, 2010, S. 1132
.
[16] Bericht der Geschäftsprüfungskommission der eidgenössischen Räte vom 21. Juni 2010,
Datenbearbeitung im Staatsschutzinformationssystem ISIS. Presse vom 1.7. bis 19.7.10; neue Verordnung:
NZZ, 19.8.10
[17] Beschwerde: Presse vom 29.01.10; Anklage:
NZZ, 24.12.10; Siehe
SPJ 2009, S. 21.
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