Année politique Suisse 2010 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Strafrecht
Im Berichtsjahr hatte der Ständerat noch einige Vorstösse des Nationalrats zu behandeln, welche die grosse Kammer im Rahmen der Sondersession zur Kriminalität und zur Verschärfung des Strafrechts im Jahr 2009 eingereicht hatte. Die kleine Kammer blieb der Linie, die sie bereits Ende 2009 eingeschlagen hatte treu. Zwar wurde anerkannt, dass das Sanktionssystem im Strafgesetzbuch nicht durchgängig befriedigend sei. Anstelle von vorschnellen Detailkorrekturen müsse aber eine umfassende Revision angestrebt werden. Die meisten 2009 im Nationalrat eingereichten Motionen hatte der Ständerat deshalb bereits in der Wintersession in Prüfungsanträge umgewandelt oder abgelehnt. Entsprechend hatten im Berichtsjahr die beiden Motionen Rickli (svp, ZH), welche eine
Erhöhung des Strafmasses bei Vergewaltigungen sowie ein
höheres Strafmass für die Vergewaltigung von Kindern verlangten, im Ständerat keine Chance. Sowohl der Ordnungsantrag, die Motionen an die Kommission zurückzuweisen als auch die beiden Motionen selbst wurden abgelehnt. Das gleiche Schicksal ereilte die Motion Stamm (svp, AG), die eine
unmittelbare Haft- und Freiheitsstrafe forderte, wenn der Täter auf frischer Tat ertappt worden und deshalb zweifelsfrei bekannt gewesen wäre
[42].
Allerdings überwies die kleine Kammer zwei weitere in der erwähnten Sondersession vom Nationalrat angenommene Motionen (Darbellay, cvp, VS und Stamm, svp, AG), die über bilaterale Abkommen, insbesondere mit Balkanstaaten, den
Strafvollzug von Ausländern in den jeweiligen Herkunftsländern ermöglichen soll
[43].
Der Bundesrat reagierte auf die politischen Forderungen nach Verschärfungen im Strafrecht. In der Anfang September in die Vernehmlassung geschickten Vorlage zur
Harmonisierung der Strafrahmen etwa wird eine Anhebung der Höchststrafe bei vorsätzlicher schwerer Körperverletzung auf zwei Jahre und von fahrlässiger Tötung von drei auf fünf Jahre vorgeschlagen. Eine zweite Vorlage nimmt das Anliegen der im Frühjahr von der Opferhilfeorganisation Roadcross lancierten Raserinitiative auf, das Freiheitsstrafen für Autoraser verlangt
[44].
Das Bundesgericht hat im Berichtsjahr entschieden, den Grundsatz zu streichen, nach dem automatisch
Strafminderung erhält, wer zuvor noch nie straffällig geworden ist. Lediglich in Ausnahmefällen solle diese Praxis noch angewandt werden
[45].
Die beiden Motionen Galladé (sp, ZH), die verlangen, dass die Altersobergrenze für
erzieherische und therapeutische Massnahmen im Jugendstrafrecht wieder von 22 auf 25 erhöht wird und die vom Nationalrat bereits im Sommer 2009 überwiesen worden waren, fanden auch in der kleinen Kammer Zustimmung, nachdem Jugendanwälte und -strafrichter in diesem Punkt die Rückkehr zum alten Jugendstrafrecht befürwortet hatten
[46].
Die im Sommer 2009 vom Nationalrat angenommene Motion Fiala (fdp, ZH), welche einen besonderen Strafbestand
Stalking forderte, wurde vom Ständerat in der Herbstsession abgelehnt. Die kleine Kammer folgte damit dem Argument des Bundesrats, dass Nachstellung bereits strafrechtlich geregelt sei
[47].
Der Ständerat hatte 2009 die vom Nationalrat angenommene Motion Heim (sp, SO) in einen Prüfungsantrag umgewandelt. Die Motion hatte eine Verschärfung der Gesetzesbestimmungen gegen
häusliche Gewalt und insbesondere die unwiderrufliche Wiederaufnahme der Strafuntersuchung bei einem Rückfall des Täters verlangt. Der Nationalrat war mit der Überweisung als Prüfungsauftrag einverstanden
[48].
Die Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt reichten eine Standesinitiative ein, welche die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für einen definitiven Einsatz von
elektronischen Fussfesseln verlangt. Der Bundesrat hatte bereits 1999 eine entsprechende Ausnahmeregelung für Versuche in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Genf, Solothurn, Tessin und Waadt bewilligt. Fussfesseln für gewalttätige Partner fordert auch eine vom Nationalrat angenommene Motion Perrin (svp, NE). Die elektronische Überwachung von Gewalttätern soll insbesondere Frauen vor häuslicher Gewalt schützen
[49].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Rickli (svp, ZH), welches den Bundesrat dazu auffordert, die
Kosten des Strafvollzugs in der Schweiz zu evaluieren. Obwohl die Regierung den Aufwand für einen solchen Bericht als erheblich einstuft, weil der Straf- und Massnahmenvollzug kantonal geregelt sind und deshalb eine kohärente Gesamtschau nur in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen möglich sei, akzeptierte sie, dass ein solcher Bericht durchaus einem allgemeinen Interesse entspreche und beantragte deshalb die Annahme des Postulats
[50].
Für Kontroversen sorgte der Protest des Walliser Hanfbauern Bernard
Rappaz, der mit einem rund hunderttägigen Hungerstreik einen Unterbruch seines Strafvollzugs erzwingen wollte. Die Frage, ob ein bewusstloser sich im
Hungerstreik befindender Häftling
zwangsernährt werden dürfe, beschäftigte Ethik- und Rechtsexperten, aber auch die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Auch der Entscheid von Regierungsrätin Kalbermatten (VS, sp), die Haftstrafe aufgrund der Weigerung der Ärzte im Berner Inselspital, Rappaz unter Zwangsernährung zu stellen, in einen Hausarrest umzuwandeln, warf hohe Wellen. Das Bundesgericht wies Rappaz‘ Gesuch auf Haftunterbruch am 26. August schliesslich zurück und leitete aus der polizeilichen Gewaltklausel eine Billigung der Zwangsernährung als letztes legitimes Mittel zum Schutz von Leib und Leben ab. In der Urteilsbegründung wandte sich das Gericht auch gegen ethische Bedenken von Ärzten. Mehrere Bundesrichter forderten das Parlament daraufhin auf, eine einheitliche gesetzliche Grundlage für den Umgang mit Zwangsernährung zu schaffen. Nachdem Rappaz wieder in Haft genommen wurde, trat er erneut in den Hungerstreik. Im November weigerten sich die Ärzte des Genfer Unispitals jedoch, eine Zwangsernährung einzuleiten. Der Walliser Grosse Rat lehnte ein Gnadengesuch Rappaz‘ ab und das Bundesgericht verweigerte ein drittes Mal einen Antrag auf Haftunterbuch. Der Europäische Menschengerichtshof, der den Fall auf Antrag des Hanfbauern untersuchen will, forderte ein Ende des Hungerstreiks. Dieser Forderung kam der Walliser am 24.12. nach. Gleich zwei CVP-Bundesparlamentarier aus dem Kanton Wallis reagierten im Berichtsjahr auf den Vorfall. Roberto Schmidt reichte eine Motion ein und Viola Amherd verfasste eine parlamentarische Initiative. Beide Vorstösse fordern eine einheitliche Regelung im Umgang mit Zwangsernährung
[51].
[42] Mo. Rickli:
AB SR, 2010, S. 1026 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 26; Mo. Stamm
AB SR 2010, S. 872.
[43] Beide Motionen:
AB SR, 2010, S. 868. Siehe
SPJ 2009, S. 26 f.
[46]
AB SR, 2010, S. 870. Siehe
SPJ 2009, S. 27;
SZ, 12.3.10.
[47]
AB SR, 2010, S. 869 f.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
[48]
AB SR, 2009, S. 1306 f.;
AB NR, 2010, S. 130 f.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
[49] Einreichung der Standesinitiative: Presse vom 10.9.10; zum Thema Fussfesseln:
NZZ, 29.1.,
SN 28.6.10; Mo. Perrin:
AB NR, 2010, S. 92 und
TA, 24.2.10.
[50]
AB NR, 2010, S. 2163.
[51] Presse vom 15.4 bis 25.12.10; Bundesgerichtsentscheid: Presse vom 27.8.10; Urteilsbegründung: Presse vom 26.10.10.
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