Année politique Suisse 2010 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
Verschiedene Ereignisse nährten die bereits seit Jahren diskutierte Idee einer
Regierungsreform. In den GPK-Berichten zur UBS- und zur Libyen-Krise sowie zur politischen Steuerung des Bundesrats wurde harsche Kritik an der Regierung geübt. Bedeutende Führungsdefizite, unzureichender Informationsaustausch und mangelndes gegenseitiges Vertrauen seien mit Gründe dafür, dass die Krisensituationen überhaupt eingetreten seien. Insbesondere Bundesrat Merz hätte viel zu spät informiert und reagiert. Nicht nur der Eindruck der Führungsschwäche in Krisensituationen sondern auch der Konkordanz- und Kollegialitätsverlust, der sich etwa im Streit um die Departementsverteilung oder in der mangelnden Rücktrittskoordination zwischen Merz und Leuenberger manifestierte, waren Öl ins Feuer der Diskussion um Reformen der Exekutive. Zusätzlichen Zunder lieferte auch die von der SVP lancierte oben erwähnte Initiative zur Volkswahl des Bundesrates
[12].
Auf diese Ereignisse wurde mit zahlreichen Ideen und Vorstössen für eine Regierungsreform reagiert. Die Vorschläge – Amtszeiten, Anzahl Regierungsmitglieder, Regierungszusammensetzung, Umgestaltung der Departemente – waren allerdings allesamt nicht neu und weiterhin politisch umstritten.
Verschiedene Vorstösse zielten auf eine
Reform der Amtszeit ab. Eine Motion Cramer (gp, GE) sah ein
Verbot von Bundesratsrücktritten während der Legislatur vor. Die Motion, die noch im Frühling vom Ständerat angenommen worden war, hatte mit den unkoordinierten Rücktritten der Bundesräte Leuenberger und Merz Rückenwind erhalten. Trotzdem hatte der Vorstoss im Nationalrat keine Chance. Gleich zwei Anliegen verfolgten die
Amtszeitbeschränkung für Bundesräte auf acht Jahre. Aber weder die parlamentarische Initiative Wasserfallen (fdp, BE) noch die parlamentarische Initiative Moret (fdp, VD) fanden in der grossen Kammer Gehör. Die Nationalräte folgten ihrer Kommission, welche keinen Handlungsbedarf sah, da die mittlere Amtsdauer seit dem 2. Weltkrieg bereits bei etwa acht Jahren liege. Am meisten Sukkurs erhielt die Idee einer
Verlängerung der Amtszeit des Bundespräsidiums. Bundesrat Leuenberger, die Grünen, die CVP und die FDP äusserten sich grundsätzlich positiv zur Idee einer Amtszeitverlängerung für das Bundespräsidium, obschon eine Motion Hodgers (gp, GE), die eine Ausdehnung der Bundespräsidentschaft auf vier Jahre vorsah, im Nationalrat in der Sommersession diskussionslos abgelehnt worden war
[13].
Auch über die angebrachte
Anzahl Regierungssitze wurde diskutiert. Minderheiten forderten eine
Vergrösserung des Gremiums. Die Staatspolitische Kommission wandte sich allerdings gegen eine Standesinitiative aus dem Kanton Tessin, die neun statt sieben Bundesräte gefordert hatte. Auch die Grünen schlugen eine Erhöhung der Anzahl auf neun vor. Die CVP sprach sich hingegen für eine
Verkleinerung des Regierungskollegiums auf fünf Mitglieder aus, die sich primär strategischen Fragen zu widmen hätten. Die Departementsleitung würde dabei von Departementsvorstehern übernommen, die dem Bundesrat unterstellt wären
[14].
Die Idee einer
adäquaten Vertretung von Minderheiten fand sich in Forderungen nach einer spezifischen Regierungszusammensetzung wieder. Im Vorfeld der Bundesratsersatzwahlen war über den
Frauenanteil und insbesondere über die
Tessiner und Westschweizer
Vertretung debattiert worden. Weder die parlamentarische Initiative Rennwald (sp, JU), die eine verbindliche Frauen- und Sprachgruppenvertretung gefordert hatte noch eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD), die auf eine Mindestanzahl Bundesratsmitglieder aus der lateinischen Schweiz zielte, hatten im Nationalrat eine Chance. Jegliche Art von Quoten wurden in der grossen Kammer abgelehnt
[15].
Die Idee eines
Bildungsdepartements erhielt neue Nahrung durch 16 Professoren, die den Bundesrat aufforderten, ein Departement zu schaffen, das alleine für Bildung, Forschung, Innovation und Kultur zuständig sein soll
[16].
Im Rahmen ihrer Berichte zur Finanzmarktkrise und zu den Cross-Border-Geschäften der UBS in den USA regte die GPK NR auch zwei Motionen an, die den
Bundesrat als Kollegium betreffen. Die von der grossen Kammer angenommenen Motionen fordern den Bundesrat dazu auf, in der Regierungsreform einen Ausschuss aus drei Bundesräten für wichtige Geschäfte vorzusehen. Dies solle zu besseren Entscheidgrundlagen führen aber weder das Kollegial- noch das Departementalprinzip behindern
[17].
Der Bundesrat selber reagierte sowohl auf die kritischen Berichte als auch auf die verschiedenen Reformvorschläge verhalten. Im Mai präsentierte er erste Eckpunkte für eine Minireform, die er im Oktober konkretisierte: Die Regierung schlägt eine zweijährige Amtszeit für ein nicht direkt wiederwählbares Präsidium vor. Damit soll die Wahrnehmung von Repräsentations- und Leitungsaufgaben erleichtert und die internationale Handlungsfähigkeit verbessert werden. Die Regierungsmitglieder sollen zudem durch vier bis zehn Staatssekretäre entlastet werden, die Vertretungsaufgaben im Parlament und im Ausland wahrnehmen sollen und mit entsprechenden Kompetenzen ausgerüstet wären. Die Regierung ist jedoch gegen eine Erhöhung der Mitgliederzahl. Gegenstand von Bundesratssitzungen sollen zudem nicht mehr Routinegeschäfte, sondern strategische Führungsfragen sein. Schliesslich soll jedes Regierungsmitglied eine Stellvertretung haben, die genügend informiert dazu fähig wäre, notfalls die Departementsführung zu übernehmen. Darüber hinaus werden Massnahmen vorgeschlagen, die das Kollegialprinzip stärken sollen. Ein Bundesrat müsste der Gesamtregierung nicht nur regelmässig Rechenschaft ablegen, sondern könnte auch zur Herausgabe von Informationen verpflichtet werden und wichtige Geschäfte sollen in Dreierausschüssen vorberaten werden. Nicht Gegenstand der Vorschläge war eine Neuordnung der Departemente. Ein Zwischenbericht dazu soll Anfang 2011 und spätestens für die neue Legislaturplanung vorliegen. Die Parteien bewerteten die Vorschläge unterschiedlich. Während die SVP die Verlängerung der Amtsdauer generell kritisierte, waren der CVP zwei Jahre zu wenig. Die SP und die FDP würdigten die Vorschläge als grundsätzlich gangbaren Weg.
Auf die
Kritik
am Führungsverhalten, am unzureichenden Informationsaustausch und am Mangel an Kollegialität reagierte der Bundesrat ebenfalls erst im Oktober. Doris Leuthard räumte ein, dass in der UBS-Krise das Kollegium vom zuständigen Bundesrat früher hätte informiert werden sollen, stellte aber in Abrede, dass ein gegenseitiges Misstrauen den Austausch in der Regierung erschwere. Der parlamentarische Betrieb und die direkte Demokratie liessen mehrjährige Regierungsprogramme nicht zu und politische Planung müsse eine zentrale Aufgabe der Exekutive bleiben. Mit den vorgeschlagenen Massnahmen solle die Früherkennung von Krisen gewährleistet und die kollektive Führungsverantwortung besser wahrgenommen werden. Neben einem Beschlussprotokoll soll neu auch die Diskussion zu einem Geschäft zusammengefasst werden. Auf ein Wortprotokoll soll aber verzichtet werden, da sonst der freie Austausch behindert würde. Darüber hinaus sollen die Reisetätigkeit und die Kontakte der Regierungsmitglieder mit dem Ausland besser koordiniert werden
[18].
[12] GPK-Berichte:
BBl 2010, S. 3079 ff. (Die strategische politische Steuerung des Bundesrates). GPK-Bericht: Verhalten der Bundesbehörden in der diplomatischen Krise zwischen der Schweiz und Lybien (3.12.10); GPK-Bericht. Die Behörden unter dem Druck der Finanzkrise und der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die USA (30.5.10). Presse vom 24.3. und 1. bis 10.6.10;
NZZ, 22.04.10.
[13] Mo Cramer:
AB SR, 2010, 591 ff.;
AB NR, 2010, S. 2148 ff. Presse vom 11.6.10; Pa.Iv. Wasserfallen und Moret:
AB NR, 2010, S. 532 ff.; Mo. Hodgers:
AB NR, 2010, S. 1129.
[14] Presse vom 10. bis 15.3 und vom 11.5.10 (TI und GP), sowie vom 6.7.10 (CVP).
[15] Beide parlamentarische Initiativen:
AB NR, 2010, S. 1238 ff. Presse vom 16.9.10; zu den Frauenquoten:
NLZ, 6.2.10.
[16]
NZZ, 19.4.10; siehe
SPJ 2009, S. 34.
[17]
AB NR, 2010, S. 2143 f.
[18]
BBl, 2010, S. 7811 ff.; Presse vom 24.3, 4.5., 14.10. und 18.12.10;
NZZ, 22.1. und 22.4.10.
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