Année politique Suisse 2010 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik / Gesellschaftsrecht
Die Rechtskommission des Ständerats gab einer Parlamentarischen Initiative von Philipp Stähelin (cvp, TG) Folge, welche die
Aufhebung der Bestimmungen zum Vorauszahlungsvertrag im Obligationenrecht fordert. Diese erhielt auch die Zustimmung ihrer Schwesterkommission im Nationalrat
[30].
Gegen den Willen des Bundesrats und mit Unterstützung der CVP-Fraktion stimmte eine geschlossene bzw. grosse Mehrheit von SVP und FDP des Nationalrats der 2008 eingereichten
Motion „Stopp dem Zahlungsschlendrian“ von Adrian Amstutz (svp, BE) als Erstrat zu. Dies nachdem beide Kammern bereits 2008 einen ähnlich lautenden Vorstoss der FDP-Fraktion zur entsprechenden Verschärfung des OR überwiesen hatten. Die vom Bundesrat unterstützte, überwiesene FDP-Motion hatte eine „angemessene Erhöhung“ des Verzugszinses gefordert und dem Gesetzgeber dadurch einen Handlungsspielraum eröffnet, aber auch Abklärungsbedarf geschaffen. Der andere Vorstoss hatte mit Hinweis auf die Liquiditätsengpässe, die den KMU aufgrund von Zahlungsverzögerungen entstehen, eine rasche Fixierung des Verzugszinses auf 10% verlangt. Im August schickte der Bundesrat unter Berücksichtigung des überwiesenen Vorstosses, aber auch der Anliegen, der im Zweitrat hängigen SVP-Motion, den entsprechenden Entwurf zur Teilrevision des OR in die Vernehmlassung. Kernpunkt ist die Schadensprävention auf Ebene des Schuldners in Form eines negativen Anreizes, indem der Verzugszins im kaufmännischen Bereich von 5 auf 10% heraufgesetzt wird
[31].
Der Swissair-Konkurs 2001 hatte einen Reigen parlamentarischer Vorstösse initiiert, die eine transparentere und ausgewogenere Gestaltung des Aktien- und Rechnungslegungsrechts forderten. 2005 eröffnete der Bundesrat die Vernehmlassung zur Revision des Aktien- und Rechnungslegungsrechts. In der Folge wurde der Entscheidungsprozess rund um die Vorlage von weiteren wirtschaftspolitischen Krisen eingeholt. Insbesondere die von den USA ausgehende Subprime-Krise, die global zahlreiche Kreditinstitute, darunter die UBS, in existenzielle Nöte gebracht und weltweit eine tiefe Rezession ausgelöst hatte, zwang die meisten Industriestaaten zur Ausrichtung grosser staatlicher Rettungspakete zugunsten der Banken und zu weiteren volkswirtschaftlichen Stützungsmassnahmen. Auch moderate politische Stimmen begannen auf den Widerspruch hinzuweisen, der sich zwischen einer kurzfristig ausgelegten, wenig nachhaltigen Abschöpfung der Profite durch die Akteure in einem deregulierten Markt und der volkswirtschaftlichen Auffangverantwortung des Staates im Schadensfall geöffnet hatte. Unter dem Schlagwort
volkswirtschaftlich untragbarer, asymmetrische Systemanreize gelangte das Thema in den Fokus der politischen Debatte
[32].
Die grosszügigen Entschädigungsregelungen für die strategischen Gremien und Führungsriegen grosser Unternehmen wurde als sogenannte
Bonusfrage breit diskutiert. Ende 2008 ergänzte der Bundesrat seine Vorlage zur
Revision des Aktien- und Rechnungslegungsrechts mit einem zentralen Anliegen der 2008 eingereichten
Abzocker-Initiative. Er integrierte die Forderung, dass börsenkotierte Unternehmen die Verwaltungsratsvergütungen künftig jährlich der Generalversammlung zu unterbreiten hätten. In der entsprechenden Botschaft legte der Bundesrat dem Parlament nahe, die Initiative zur Ablehnung zu empfehlen und die Revisionsvorlage als indirekten Gegenvorschlag dazu anzunehmen. Dabei betonte er, dass der ergänzte Gesetzesentwurf neben einer Stärkung der Aktionärsrechte über eine verbesserte Corporate Governance, wie sie auch von der Abzocker-Initiative verlangt werde, zusätzlich eine Flexibilisierung der Kapitalstrukturen, eine Modernisierung der Bestimmungen zur Generalversammlung und der Rechnungslegung vorsehe. Damit werde das Aktien- und Rechnungslegungsrecht umfassender und massvoller revidiert als allein auf Basis der Volksinitiative von Thomas Minder
[33].
Die parlamentarische Beratung des Geschäfts entpuppte sich auch für Schweizer Verhältnisse als äusserst kompliziert. Zur Verfahrensbeschleunigung hatte der Ständerat 2009 die Rechnungslegungs- und die Aktienrechtsrevision in zwei Geschäfte aufgeteilt, die Beratung des letzteren vorgezogen und grundsätzlich im Sinn des Bundesrats entschieden. Das parteitaktische Vorgeplänkel zur Nationalratsdebatte um die Aktienrechts- und Rechnungslegungsrechtsrevision sowie die Abzocker-Initiative begann Anfang Berichtahr, als die CVP (in Abweichung zum Ständeratsentscheid des vorangehenden Jahres) in den Medien einen direkten Gegenvorschlag als valable Option zur Minder-Initiative ansprach. Im Februar antwortete die SVP mit der Lancierung eines im Sinn des Initianten verschärften indirekten Gegenentwurfs. Kurz vor der Frühlingssession konterte die SP mit einem direkten Gegenvorschlag, den der Nationalrat schliesslich annahm. Dieser nimmt die wichtigsten Forderungen der Initiative auf, lässt aber statutarisch festgehaltene Ausnahmeregelungen zu und will im Gegensatz zur Initiative keine strafrechtlichen Bestimmungen festschreiben. Darüber hinaus regelt der direkte Gegenvorschlag die Bonusfrage und die Rückerstattungsklage. Der Nationalrat empfahl sowohl Initiative auch als Gegenvorschlag dem Volk zu Annahme. Als Folge der unterschiedlichen Lösungsansätze von National- und Ständerat über den Einbezug der Abzocker-Initiative in die laufende OR-Revision, beschloss die Rechtskommission des Nationalrats knapp (12 zu 10 bei 2 Enthaltungen), alle Bestimmungen der Aktienrechtsrevision im Bereich der Corporate Governance bis zum definitiven, von beiden Räten getragenen Entscheid über den Umgang mit der Abzocker-Initiative vom Rest der Beratungen abzukoppeln und zurückzustellen. Gleichzeitig gab die grosse Kammer ihren grundsätzlichen Widerstand gegen einen indirekten Gegenvorschlag auf und öffnete damit den Weg für ein Weiterführen der Verhandlungen
[34].
Um die bestehende Pattsituation zu lösen, lancierte die Rechtskommission des Ständerats eine parlamentarische Initiative mit dem Ziel, einen
neuen, mehrheitsfähigen indirekten Gegenvorschlag auszuarbeiten. Dieser soll die gesamte Vergütungsfrage auf Stufe des Obligationenrechts und in inhaltlicher Übereinstimmung mit der laufenden Aktienrechtsrevision regeln und dabei sowohl die Grundanliegen der Abzocker-Initiative als auch des nationalrätlichen Gegenentwurfs berücksichtigen. Dabei äussert er sich generell zur Vergütungsfrage bei börsenkotierten Gesellschaften (Entwurf 1), aber auch zur konzeptionell darauf aufbauenden Regelung von Vergütungen (i.e. Boni) ab 3 Mio. Fr. pro Geschäftsjahr (Entwurf 2, d.h. Tantiemenmodell). Letztere nimmt das Anliegen einer zusätzlichen Initiative der ständerätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben auf. In der Eintretensdebatte des Ständerats herrschte von rechts bis links Einigkeit darüber, dass aktienrechtliche Bestimmungen nicht in die Verfassung gehören, das Problem inakzeptabler Lohn- und Entschädigungsexzesse aber angegangen werden muss. Sowohl in Bezug auf Entwurf 1 als auch auf Entwurf 2 folgte der Ständerat nicht in allen Punkten dem Kommissionsvorschlag. Während Entwurf 1 die Schlussabstimmung einstimmig passierte – und damit vom Ständerat als neuer, indirekter Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative akzeptiert wurde – waren sowohl Eintreten (28 zu 10) als auch die Zustimmung zum Tantiemenmodell (36 zu 16) umstrittener. Nach Annahme des indirekten Gegenentwurfs empfahl der Ständerat dem Volk sowohl erneut die Initiative als auch den direkten Gegenvorschlag des Nationalrats zur Ablehnung und begab sich damit Ende Jahr erneut in eine Differenz zum Nationalrat
[35].
Im September des Berichtsjahrs gelangte der Entwurf zur
Revision des Rechnungslegungsrechts zur Beratung an die grosse Kammer als Zweitrat. Das Hauptziel der Revision ist es, die Transparenz über die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens zu fördern und die Vergleichbarkeit der Rechungsabschlüsse zu steigern. Dies soll mit fünf Kernmassnahmen erreicht werden. Erstens soll eine rechtsformneutrale Regelung alle handelsregisterpflichtigen Rechtsträger (Einzelunternehmen, Personengesellschaften und juristische Personen, unter Einbezug von Stiftungen und Vereinen, die rechtlich im ZGB und nicht im OR erfasst sind) des Privatrechts erfassen. Zweitens sollen – orientiert am Grundsatz der Zweckmässigkeit – die Anforderungen an die Buchführung nach der wirtschaftlichen Bedeutung eines Unternehmens differenziert werden, wobei für Banken, Versicherungen und Börsen gesonderte, sektorielle Regelungen gelten. Dabei sollen für die Abgrenzung zwischen KMU und grossen Unternehmen die gleichen drei Kriterien (Bilanzsumme, Umsatzerlös, Anzahl Vollzeitstellen im Jahresschnitt) zutreffen wie sie im Revisionsrecht gelten. Zudem behält der Entwurf für ganz kleine Einzelunternehmen, die mit Roheinnahmen von weniger als 100 000 Fr. weder handelsregister- noch mehrwertsteuerpflichtig sind, einen einfachen Buchhaltungsabschluss, die sogenannte Milchbüchleinrechnung (Ausweis der Einnahme und Ausgaben sowie der Vermögenslage) vor. Der Übergang von der Bewertungskategorie KMU in jene für grosse Firmen soll zu jenem Zeitpunkt erfolgen, zu dem Unternehmen während zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren in zwei von drei Kriterien den gesetzlich festgelegten Schwellenwert überschritten haben. Drittens soll – unter der Voraussetzung, dass die Jahresrechnung nach einem internationalen Standard verfasst ist – die Auflösung stiller Reserven als Bruttobertrag ausgewiesen werden, dies indem das Gesetz zwischen steuerlich und nicht steuerlich bedingten Auflösungen unterscheidet. Im Sinne eines Minderheitenschutzes sollen auch eine qualifizierte Minderheit von Gesellschaftern (10% des Grundkapitals), Genossenschaftern (10% der Mitglieder bei Genossenschaften ohne Anteilscheinkapital) oder Vereinsmitgliedern (20% der Mitglieder) von Unternehmen, für die das Gesetz keinen standardisierten Abschluss vorsieht, einen solchen verlangen können. Viertens soll die Neuregelung steuerneutral gestaltet werden, d.h. die steuerlich nicht anerkannten Abschreibungen, Wertberichtigungen und Rückstellungen müssen nicht in der Bilanz oder der Erfolgsrechnung verbucht werden. Sie sind jedoch mindestens im Anhang des Geschäftsberichts als Gesamtbetrag auszuweisen. Fünftens formuliert der Gesetzesentwurf die strengeren Rechnungslegungsvorgaben, wie sie für voll revisionspflichtige, grosse Unternehmen und für Konzerne gelten sollen. Ihnen soll die Pflicht auferlegt werden, den Geschäftsbericht mit einem Anhang zu ergänzen, der mindestens eine Mittelflussrechnung und einen Lagebericht enthält. Zusätzlich möchte der Bundesrat bei den Bestimmungen zum Konzernrecht vom Leitungs- zum Kontrollprinzip und damit zur Konsolidierungspflicht auf Stufe der Obergesellschaften übergehen. Demnach soll juristischen Personen eine Delegation der Konsolidierungspflicht an kontrollierte Gesellschaften künftig nicht mehr möglich sein
[36].
Während der Grundsatz einer
einheitlichen Regelung des Rechnungslegungsrechts für alle Rechtsformen des Privatrechts in der Detailberatung unumstritten war, entbrannte der Disput v.a. um die Anforderungen an die Buchführung. Aber auch der Rechnungslegungsstandard und die Konzernrechnungslegung boten Stoff für die Ratsdebatte. Einigkeit herrschte in Bezug auf den Vorschlag der Rechtskommission des Ständerats, zur angestrebten Differenzierung nach Unternehmensgrösse das Schwellenprinzip aus dem seit 2008 gültigen Revisionsrecht zu übernehmen (Bilanzsumme: 10 Mio. Fr., Umsatzerlös: 20 Mio. Fr., Anzahl Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt: 50). Die Grenzziehung zwischen KMU und grossen, revisionspflichtigen Unternehmen war jedoch umstritten. So drehte sich die Ratsdebatte primär um die Höhe der entsprechenden Schwellenwerte. Diskutiert wurden drei Lösungsansätze: Der von der SP und den Grünen unterstützte Bundesratsvorschlag, sich am geltenden Quorum des Revisionsrechts zu orientieren, wurde ebenso verworfen wie der Antrag aus der SVP-Fraktion, den Umsatzerlös bei 80 Mio. Fr. festzusetzen. In Übereinstimmung mit der Kommissionsmehrheit und dem Ständeratsentscheid unterstützte eine überwiegende Mehrheit der FDP-, BDP- und CVP-Mitglieder – gegen die geschlossen stimmenden Fraktionen von Grünen und SP – das Ansinnen, die Schwelle bei einer Bilanzsumme von 20 Mio. Fr. sowie einen Umsatzerlös von 40 Mio. Fr. festzulegen und die Anzahl Vollzeitstellen bei 250 zu fixieren. Nationalrat Ineichen (fdp, LU) trug mit einem Einzelantrag dem Umstand Rechnung, dass mit der Einführung des Schwellenprinzips im Rechnungslegungsrecht zwar die gewünschte Analogie zum Revisionsrecht hergestellt wurde, die Eckwerte in den beiden Rechtsbereichen nun aber voneinander abwichen. Gegen den Willen des Bundesrats und die erneut geschlossen stimmenden Grünen und SP, aber unterstützt durch die FDP-, BDP- und SVP-Fraktionen sowie einer CVP-Mehrheit, erwirkte er eine prioritäre und auf Juli 2011 rückwirkende Verankerung der nun beschlossenen höheren Eckwerte im Rechnungslegungsrecht auch für das Revisionsrecht. Auf das nachfolgende Nichteintreten des Ständerats aus Verfahrensgründen hielt die grosse Kammer am Geschäft fest und schickte es zur Bereinigung ins neue Geschäftsjahr. Nachdem bereits der Ständerat von den bundesrätlich vorgeschlagenen 100 000 Fr. Umsatz als Schwelle für den Übergang von der einfachen zu einer doppelten Buchhaltung abgewichen war, schuf der Nationalrat eine Differenz zur kleinen Kammer, indem er den fraglichen Wert gemäss Einzelantrag Loepfe (cvp, AI) auf 500 000 Fr. erhöhte. In den Bestimmungen zum Ausweis der stillen Reserven in der Jahresrechnung folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit und übernahm in Abweichung vom strengeren, durch eine Kommissionsminderheit gestützten Bundesratsentwurf den Vorschlag des Ständerats
[37].
In der Ausgestaltung des Minderheitenschutzes folgte der National- dem Ständerat, der den Vorschlag des Bundesrats übernommen hatte. Der vom Ständerat in der ersten Lesung genehmigte Gesetzesentwurf räumt revisionspflichtigen Stiftungen und Genossenschaften sowie börsenkotierten Unternehmen unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit ein, beim Vorliegen eines anerkannten, standardisierten Abschlusses auf das Beibringen einer Jahresrechnung nach OR, auf ein sogenanntes
dual reporting
, zu verzichten. Auf Ersuchen der Bundesverwaltung, welche die Problematik eines allenfalls fehlenden Abschlusses nach OR für die schweizerischen Steuerbehörden erst im Anschluss an die Vorberatungen der nationalrätlichen Kommission erkannt hatte, stellte Nationalrat Kaufmann (svp, ZH) den Antrag, dass in jedem Fall ein Abschluss nach OR vorzuliegen habe und der standardisierte Abschluss optional sein soll. Mit der Umkehrung des Prinzips des dual reporting schuf der Nationalrat eine weitere Differenz zum Ständerat.
In Bezug auf die
Konsolidierungspflicht juristischer Personen mit Konzernstruktur hatte der Ständerat mit der Gewährung der freien Wahl zwischen dem Leitungs- und Kontrollprinzip gegen den Bundesrat votiert. Der Nationalrat entschied sich in dieser Frage auf Vorschlag seiner Kommission für eine Unterscheidung zwischen Vereinen, Stiftungen und Genossenschaften sowie börsenkotierten Unternehmen. Während die Mehrheit des Zweitrats – gegen eine geschlossen stimmende Minderheit aus SP und Grünen – Ersteren die Wahlfreiheit zwischen Kontroll- und Leitungsprinzip zugestehen möchte, gedenkt sie, Letztere dem Kontrollprinzip zu unterstellen. Bei der Bestimmung des Schwellenwerts, ab dem eine Konzernrechnung erstellt werden sollte, schloss sich der Nationalrat dem vom Ständerat vorgeschlagenen Quorum an, wie es neu auch für die Revisionspflicht gelten soll. Nachdem der Ständerat in den Vorgaben zur Rechnungslegung dem Bundesrat gefolgt war und im Grundsatz für Konzerne eine Jahresrechnung nach anerkanntem Standard verlangt hatte, entschied sich der Nationalrat in Abweichung zur kleinen Kammer für den Status quo im bestehenden Obligationenrecht. In annähernd gleicher Stimmverteilung wie beim Quorum beschränkte er die Gültigkeit der neu vorgesehenen strengeren Regelung auf den begrenzten Kreis von Unternehmen mit entsprechenden Vorschriften der Börse, von grossen Genossenschaften und von revisionspflichtigen Stiftungen. Die übrigen Unternehmen sollen bezüglich des verwendeten Rechnungslegungsstandards Wahlfreiheit erhalten
[38].
Die mit dem Konkurs von Grossunternehmungen einhergehenden volkswirtschaftlichen Risiken sind seit dem Swissair-Zusammenbruch 2001 wiederkehrendes Thema politischer Vorstösse. Im November 2009 setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, welche die Klärung der
systemischen Relevanz von Grossunternehmen zur Aufgabe hatte. In ihrem Zwischenbericht im April 2010 kam die Expertengruppe zum Schluss, dass schweizweit allein die beiden Grossbanken UBS und CS für die Volkswirtschaft unverzichtbare Leistungen erbringen, deren Ausfall nicht innert nützlicher Frist durch andere Marktteilnehmer aufgefangen werden könnte. Entsprechend seien ausserhalb des Bankensektors keine Schweizer Unternehmungen als systemrelevant einzustufen. Folglich beschränkten sich die Empfehlungen der Expertenkommission im Schlussbericht auf die „
Too-big-to-fail“-Problematik im Bankensektor, die der Bundesrat im Entwurf zur Änderung des Bankengesetzes aufnahm. Die damit verbundenen parlamentarischen Vorstösse werden im Kapitel 4 b) Geld, Währung und Kredit behandelt
[39].
Neben der makroökonomischen Dimension, die sich auf die „Too-big-to-fail“-Frage konzentriert, wurden auch mikroökonomisch ausgerichtete politische Forderungen laut. In Anlehnung an die Sanierungsmaxime im sog.
Chaptre 11 des US-amerikanischen Konkursrechts wurde die
Neuausrichtung des schweizerischen Schuldbetreibungs- und Konkursrechts (SchKG) am Sanierungsgedanken gefordert. Die Nachlassstundung soll nicht mehr zwingenderweise in einem Nachlassvertrag oder Konkurs enden, sondern als Sanierungsverfahren geregelt werden. Nach einigem Zögern hatte der Bundesrat 2003 eine erste Expertengruppe zur Klärung des Revisionsbedarfs im SchKG eingesetzt, die 2005 erste Thesen formulierte und 2008 einen Entwurf und Begleitbericht abgeliefert hatte. Neben der bereits beschriebenen Neuinterpretation der Nachlassstundung sollen die Mitwirkungsrechte der Gläubigerinnen und Gläubiger im Verfahren gestärkt und die Hürden für die Genehmigung eines Nachlassvertrags gesenkt werden. Dauerschuldverhältnisse (beispielsweise Miet- oder Leasingverträge) erhalten eine differenzierte Regelung. Die Arbeitsplatzgarantie bei Firmenübernahmen im Insolvenzfall soll entfallen. Im Gegenzug soll für Betriebe mit über 250 Angestellten, die mehr als 30 Mitarbeitende entlassen, im OR eine Sozialplanpflicht festgeschrieben werden. Auf die Schaffung eines Konzerninsolvenzrechts soll explizit verzichtet und das 2010 in Kraft getretene Konkursprivileg zugunsten von Forderungen aus der Mehrwertsteuer wieder aufgehoben werden
[40].
[30] Pa. Iv.
07.500; Rechtskommission Ständerat,
Medienmitteilung, 19.1.2010.
[31] Der Bundesrat erwägt u.a. eine Koppelung des Verzugs- an den Leitzins;
AB NR, 2008, S. 1005;
AB SR, 2008, S. 1024;
AB NR, 2010, S. 106 f.; EJPD,
Medienmitteilung, 18.9.2010.
[32] Mit einer parlamentarischen Initiative hatte z.B. Johann Schneider-Ammann (fdp, BE) 2008 die persönliche und solidarische Haftung von Firmenverantwortlichen für staatliche Auffangaktionen gefordert. Über die Einschränkung der „Too-big-to-fail“-Problematik auf die beiden Grossbanken verschiebt sich die entsprechende Berichterstattung ins Kapitel 4 b).
[33] Allgemeine Diskussion der Bonusfrage:
SoZ, 11.4.10
; Handelszeitung, 5.–11.5.10 und 17.11.10; Presse vom 3.7.10;
NZZ, 29.7.10;
TA 15.9.10;
Handelszeitung, 20.10. und 17.11.10. Zu Einzelvorstössen: Presse vom 17.9.10. Zu Lobbyarbeit:
NZZ, 9.1.10; MZ, 9.1.10;
NLZ, 27.2. und 6.4.10;
AZ 27.2.10. Botschaft zur Abzocker-Initiative siehe
BBl, 2009, S. 299 ff.; vgl.
SPJ 2005, S. 96; 2006, S. 95 f.; 2007, S. 115; 2008, S. 103; 2009, S. 104 f.;
SPJ, 2009, S. 104.
[34] Zur Komplexität vgl. Bürgi (svp, TG):
AB SR 2010, S. 1234;
AB NR 2010, S. 328–333, S. 435–476; Presse vom 11.3., 12.3., 17.3. und 18.3.10;
WW, 25.3.10; Presse vom 3.6.10.
[35]
AB SR, 2010, 1233 ff.;
AB SR, 2010, 1241 ff. (Entwurf 1, auch indirekter Gegenvorschlag);
AB SR, 2010, S. 1262 ff., 1341 (Entwurf 2, auch Tantiemenmodell). Presse vom 30.6.10;
NZZ, 20.5., 22.5., 7.7., 23.7., 28.8., 8.9., 18.11., 24.11., 4.12. und 16.12.10,
TA, 22.5., 2.6., 14.7., 8.9. und 24.11.10;
SN, 2.6.10 und 18.12.10;
Handelszeitung 10.11.10; Presse
vom 14.12., 15.12. und 17.12.10.
[36]
BBl, 2008, S. 1589 ff.
[37]
AB SR, 2009, S. 1194 ff.,
AB NR, 2010, S. 1378; zum Schwellenwert:
SPJ, 2009, S.105;
NZZ, 9.12.10.
[38]
AB NR, 2010, S. 1362 ff. und 1901 ff.
[39] Expertenkommission zur Limitierung von Volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen,
Schlussbericht, 30.9.2010;
TA, 1.4.10; NZZ, 8.4. und 20.4.10; Zur Swissair-Krise: Geschäftsprüfungskommission des Ständerats,
Die Rolle von Bundesrat und Bundesverwaltung im Zusammenhang mit der Swissair-Krise, 19.9.2002.
[40] Vgl. SPJ, 2009, S.103 f. (Fussnote 29);
BBl, 2010, 6455 ff.
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