Année politique Suisse 2010 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Invalidenversicherung
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IV-Revision
Der Bundesrat legte im Frühjahr eine Botschaft bezüglich eines ersten Massnahmenpaketes zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vor. Eine weitere Revision des IV-Gesetzes erachtete die Regierung als unumgänglich, da die vom Volk 2009 angenommene Zusatzfinanzierung im Jahr 2018 auslaufen wird und danach das jährliche Defizit wieder auf 1,1 Mia Fr. ansteigen wird. Eine Sanierung der IV soll in zwei Schritten erfolgen: die rasch zu behandelnden ersten Massnahmen verfolgen eher kurzfristig zu realisierende Ziele. Weitere längerfristige Massnahmen sollen in einem zweiten Schritt angegangen werden. Die Botschaft betont vier Hauptbereiche: Mit einer eingliederungsorientierten Rentenrevision soll die Wiedereingliederung aktiv gefördert und damit die Zahl der Renten reduziert werden; durch eine Neuregelung des Finanzierungsmechanismus will der Bundesrat den Anteil des Bundes von den laufenden Ausgaben der IV entkoppeln und diesen nur noch nach der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung richten; da die Kosten gegenwärtig zu hoch sind, sollen im Hilfsmittelbereich Preissenkungen erfolgen und schliesslich muss gleichzeitig zur finanziellen Konsolidierung ein kostenneutraler Umbau des Leistungssystem im Bereich der Hilflosenentschädigung (Assistenzbeitrag) erfolgen. Durch die vorgeschlagenen Massnahmen könnten die Kosten nach Ansicht der Regierung beinahe halbiert werden [13].
Der Ständerat behandelte die Vorlage als Erstrat. Das Eintreten war zwar unbestritten, es gab aber auch Stimmen von linker Seite, welche die 6. IV-Revision für übereilt hielten, weil in ihren Augen erst die Auswirkungen der 5. Revision hätten evaluiert werden müssen. Die kleine Kammer nahm an der Vorlage des Bundesrates nur wenige Änderungen vor. So stimmte sie beispielsweise der veränderten Berechnungsweise des Bundesbeitrages an die IV zu, nahm jedoch eine Präzisierung vor. Nach einer intensiven Diskussion folgte der Ständerat dem Bundesrat und der Kommissionsmehrheit und stimmte gegen den Willen einer sozialdemokratischen Minderheit einer Überprüfung derjenigen Renten zu, die vor 2008 „gestützt auf eine Diagnose von organisch nicht erklärbaren Schmerzzuständen“ ausgesprochen worden waren. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat den ersten Teil der 6. IV-Revision mit 24 zu 3 Stimmen an [14].
Wesentlich umstrittener war die Vorlage im Nationalrat. Hier kam es zu den für sozialpolitische Vorlagen typischen Konfrontationen zwischen dem linken und dem rechten Lager. Während die Bürgerlichen am Sparkurs festhalten wollten, bezeichnete das linke Lager die Revision als Programm des wirtschaftlichen und sozialen Ausschlusses und prangerte die aus seiner Sicht diskriminierenden Massnahmen an. Gegen den Willen dieser links-grünen Minderheit beschloss der Nationalrat schliesslich mit 121 zu 46 Stimmen das Eintreten auf die Vorlage. Eine Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, die Arbeitgeber zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu verpflichten und die Streichung von Renten einzuschränken, wurde mit 120 zu 57 Stimmen abgelehnt. Obwohl die grosse Kammer im Vergleich zum Ständerat nur geringfügige Differenzen schuf, kam es doch zu intensiven Diskussionen. Gegen den Willen des Bundesrates und einer Kommissionsminderheit nahm der Nationalrat eine Bestimmung an, welche vorsah, dass zum Zweck der Früherfassung auch die Krankenkassen der IV „verdächtige“ Fälle melden können. Eine links-grüne Minderheit hatte sich aus Datenschutzgründen gegen diese Regelung ausgesprochen. Bei Sanktionen gegen Personen, die sich Wiedereingliederungsmassnahmen verweigern, folgte der Nationalrat mit grosser Mehrheit der Fassung von Bundes- und Ständerat. Heftige Diskussionen löste Artikel 8b aus, welcher vorsah, dass Unternehmen mit über 250 Beschäftigten einen bestimmten Anteil an Personen einstellen müssen, deren Renten im Rahmen der 6. IV-Revision herabgesetzt oder aufgehoben wurden oder die Wiedereingliederungsmassnahmen durchlaufen haben. Die Quotenbefürworter betonten, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Anstrengungen, die von den Versicherten verlangt werden und jenen, die von den Arbeitgebern erwartet werden dürfen, hergestellt werden müsse. Die Gegner hingegen hielten Quoten für ineffizient, schwierig durchzusetzen und nachteilig für die kleinen und mittleren Unternehmen. Für die Quotenvariante stimmten die SP, die Grünen und die Hälfte der CVP, was für eine Mehrheit nicht ausreichte. Auch das Thema der Rentenüberprüfung führte wie zuvor im Ständerat zu Diskussionen. Der Nationalrat nahm diese schliesslich mit 116 zu 63 Stimmen an. Nach mehr als sechs Stunden Beratung nahm die grosse Kammer dieses erste Massnahmenpaket der IV-Revision in der Gesamtabstimmung mit 115 zu 63 Stimmen an [15].
 
[13] BBl, 2010, S. 1817 ff.
[14] AB SR, 2010, S. 642 ff.
[15] AB NR, 2010, S. 2010 ff. und 2085 ff.