Année politique Suisse 2010 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Flüchtlingspolitik
Die Zahl der Asylgesuche sank 2010 um rund 2,7% auf 15 567. Ebenfalls abgenommen hat die Zahl der hängigen Anträge um 27% auf 9025. Der Anteil der bewilligten Gesuche lag mit 17,7% leicht höher als im Vorjahr (16,3%). Wie bereits 2009 war Nigeria das wichtigste Herkunftsland (1969 Gesuche). Die Aufnahmequote war bei den Nigerianern aber verschwindend gering: Von 2243 behandelten Gesuchen wurden lediglich zwei bewilligt; eine Person wurde vorläufig aufgenommen [26].
Der Kanton Jura nahm im Berichtsjahr zwei uigurische Guantánamo-Häftlinge auf. Der humanitäre Akt kam in China nicht gut an. Im Vorfeld des Entscheids protestierte das Land gegen die Aufnahme der Uiguren und drohte der Schweiz mit einer Beeinträchtigung der guten Beziehungen. Die Angst, dass China als Retourkutsche das von der Schweiz gewünschte Freihandelsabkommen platzen lassen könnte, war neben sicherheitspolitischen Bedenken ausschlaggebend dafür, dass die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats dem Bundesrat empfahl, von der Aufnahme der zwei Guantánamo-Häftlinge abzusehen. Trotz dieser Umstände entschied sich die Landesregierung für eine Aufnahme der beiden Uiguren. Sie tat dies aber nicht aus rein humanitären Motiven, sondern wollte damit auch ein Zeichen an die USA aussenden, von dem sie sich erhoffte, die Amerikaner würden es ihrerseits honorieren [27].
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Gesetzgebung
Im Februar unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen Entwurf zum Bundesgesetz über die Koordination des Asyl- und des Auslieferungsverfahrens. Die vorgeschlagenen Änderungen zielen auf eine bessere Abstimmung bei parallel laufenden Asyl- und Auslieferungsverfahren ab. In diesen Fällen sollen die Asylentscheide künftig beim Bundesgericht anfechtbar sein. Dies würde ein Zusammenführen der beiden Verfahren sowie eine gebührende Berücksichtigung des Non-Refoulement-Gebotes ermöglichen. Der Ständerat stimmte der Vorlage in der Sommersession diskussionslos zu. Der Nationalrat folgte ihm in der Herbstsession und hiess die Änderungen ebenfalls gut. Im Namen einer Kommissionsminderheit hatte Silvia Schenker (sp, BS) erfolglos beantragt, nicht auf die Vorlage einzutreten. SP und Grüne sahen zum einen keinen Gesetzgebungsbedarf, da nur wenige Einzelfälle betroffen sind. Zum anderen kritisierten sie, dass dem Bundesgericht mit diesem Gesetz zusätzliche Kompetenzen übertragen würden, obwohl es gar nicht über die nötige Erfahrung im Asylbereich verfüge. Die Mehrheit des Nationalrats war jedoch der Ansicht, das Gesetz ermögliche die Koordination und Beschleunigung der Asyl- und Auslieferungsverfahren. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage vom Ständerat einstimmig und vom Nationalrat mit 132 zu 61 Stimmen gegen den Widerstand des links-grünen Lagers angenommen [28].
In der Frühjahrssession befasste sich der Ständerat als Erstrat mit der Übernahme der EU-Richtlinie über gemeinsame Normen und Verfahren zur Rückführung illegal anwesender Drittstaatsangehöriger. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz zum Nachvollzug dieser Bestimmung verpflichtet und hat das Asyl- und Ausländerrecht entsprechend anzupassen. Um die schweizerischen Gesetze mit der Richtlinie in Einklang zu bringen, musste insbesondere die formlose Wegweisung durch ein formelles Wegweisungsverfahren ersetzt und die Maximaldauer der Ausschaffungshaft von 24 auf 18 Monate herabgesetzt werden. Der Ständerat folgte der Mehrheit seiner Kommission und damit dem Vorschlag des Bundesrats. Der Nationalrat hingegen sprach sich in der Sommersession mit 92 zu 51 Stimmen gegen die Verkürzung der Ausschaffungshaft aus. Kurt Fluri (fdp, SO) forderte den Bundesrat auf, sich im Schengen-Ausschuss dafür zu engagieren, dass die maximale Haftdauer auf 24 Monate angehoben werde. Weiter nahm der Nationalrat an der Vorlage eine durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts veranlasste Ergänzung vor, mit der gesetzlich verankert wird, dass Asylsuchende nach einem Nichteintretensentscheid nicht mehr sofort in einen Dublin-Staat zurückgeführt werden dürfen. In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat an der Verkürzung der Haftdauer auf 18 Monate fest. Bei der zweiten Differenz, der Frage der Rückführung in einen Dublin-Staat beim Nichteintretensentscheid, schloss er sich mit 24 zu 11 Stimmen der grossen Kammer an. Der Nationalrat bereinigte schliesslich auch die letzte Differenz und sprach sich gegen den Widerstand der SVP ebenfalls für eine Verkürzung der Ausschaffungshaft aus [29].
In der gleichen Botschaft unterbreitete der Bundesrat dem Parlament auch eine Änderung des Ausländergesetzes, mit welcher die rechtlichen Grundlagen für das neue Informationssystem MIDES, für die automatisierte Grenzkontrolle an Flughäfen und den Einsatz von Dokumentenberaterinnen und -beratern geschaffen werden sollen. Diese wurde vom Ständerat in der Frühjahrs- und vom Nationalrat in der Sommersession ebenfalls gutgeheissen. In der Schlussabstimmung hiess der Ständerat die beiden Vorlagen einstimmig gut. Im Nationalrat wurde die erste Vorlage mit 123 zu 61 Stimmen und die zweite mit 121 zu 61 Stimmen angenommen. Der Bundesrat will die Änderungen auf Anfangs 2011 in Kraft setzen [30].
Der Bundesrat legte im Mai die Botschaft für eine Revision des Asylgesetzes vor. Die Vorlage entsprach weitgehend dem Vernehmlassungsentwurf und sollte primär dazu beitragen, die Attraktivität der Schweiz für Asylsuchende zu senken. Der Bundesrat wollte die Zahl der möglichen Gründe für ein Nichteintretensverfahren von 15 auf 3 senken, um das System effizienter zu gestalten. Nichteintretensentscheide würden nur noch bei Dublin-Verfahren und bei Wegweisungen in einen sicheren Drittstaat ausgesprochen sowie bei Asylsuchenden, die keine Asylgründe vorbringen. In den übrigen Fällen sollte ein rasches materielles Verfahren durchgeführt werden. Dabei sah der Entwurf eine Verkürzung der Beschwerdefrist von 30 auf 15 Tage vor. Zudem beabsichtigte die Landesregierung, Personen nicht mehr aufzunehmen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ein Asylgesuch stellen. Ebenfalls unterdrücken wollte sie politische Aktivitäten der Asylsuchenden in der Schweiz, die ausschliesslich zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft dienen. Solche Tätigkeiten sollten strafrechtlich sanktioniert werden. Als weitere Einschränkung war vorgesehen, die Möglichkeit, auf einer schweizerischen Botschaft im Ausland ein Asylgesuch zu stellen, aufzuheben [31].
In November wies die Staatspolitische Kommission des Ständerats die Änderungen des Asylgesetzes jedoch einstimmig zurück. Sie erachtete die vorgeschlagenen Reformen als „Pflästerlipolitik“ und ortete die Probleme vor allem beim Vollzug. Neben der grundsätzlichen Ablehnung übte die Kommission auch Detailkritik. Der umstrittenste Änderungsvorschlag des Bundesrats war die Abschaffung der Möglichkeit, auf Schweizer Vertretungen im Ausland Asylgesuche stellen zu können. Rolf Büttiker (fdp, SO) befürchtete, dass mehr Leute direkt in die Schweiz kämen, wenn sie im Ausland keine Asylgesuche mehr stellen könnten. Auch die Halbierung der Beschwerdefrist in Asylverfahren von 30 auf 15 Tage stiess auf Kritik [32].
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Vollzug
Nachdem im März ein 29-jähriger nigerianischer Asylsuchender während einer Zwangsausschaffung verstorben war, stoppte das Bundesamt für Migration (BFM) bis auf Weiteres alle Sonderflüge bei Rückschaffungen. Eine Obduktion am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich ergab, dass der Verstorbene an einer schweren Herzkrankheit gelitten hatte, die kaum diagnostizierbar war – und entlastete damit die Behörden [33].
Der vorübergehende Stopp der Sonderflüge für Zwangsausschaffungen führte allerdings dazu, dass die Kantone gezwungen waren, Ausschaffungshäftlinge auf freien Fuss zu setzen. Denn Ausschaffungshäftlinge dürfen laut Ausländergesetz nicht mehr als 24 Monate inhaftiert werden – und dies auch nur dann, wenn die Ausschaffung absehbar ist. Die Kantone machten daher beim BFM Druck, wieder Zwangsausschaffungen zuzulassen und hatten Erfolg: Noch bevor der Schlussbericht des gerichtsmedizinischen Gutachtens zum Tod des Nigerianers vorlag, willigte das BFM ein, die Sonderflüge wieder aufzunehmen. Um die Sicherheit von Ausschaffungsflügen zu verbessern, sollten diese von Ärzten begleitet werden [34].
Die Wiederaufnahme von Sonderflügen galt nicht für Nigeria; das Land weigerte sich zunächst Leute aufzunehmen, die nicht freiwillig zurückkehrten. Im November fanden die Schweiz und Nigeria eine gemeinsame Lösung, so dass ab Anfang 2011 auch wieder Personen mit Sonderflügen nach Nigeria ausgeschafft werden können. Der gesamte Rückführungsprozess soll künftig von nigerianischen Beamten begleitet werden. Gleichzeitig schlossen die beiden Länder eine Migrationspartnerschaft ab. Die Schweiz hilft Nigeria bspw. die Kapazitäten der Migrationsbehörden auszubauen und verbessert die Unterstützungsprogramme für Nigerianer, die in ihre Heimat zurückkehren [35].
Im Berichtsjahr unterzeichnete die Schweiz Rückübernahmeabkommen mit Benin, Kasachstan, dem Kosovo und der Republik Moldau. Ausserdem schloss sie eine Dublin-Vereinbarung mit Österreich ab. Die beiden Staaten verpflichteten sich zur Einhaltung von verkürzten Bearbeitungsfristen, wenn Asylsuchende in das andere Land zurückgeschickt werden. Zudem wollen sie Überstellungen auf dem Landweg erlauben, was zu Kosteneinsparungen führen soll [36].
 
[26] NZZ, NLZ und SGT, 18.1.11.
[27] TA, 8.1., 13.1. und 4.2.10; AZ und 24h, 4.2.10. Siehe zum Freihandelsabkommen mit China, oben, Teil I, 2 (bilaterale Beziehungen) und SPJ 2009, S. 72.
[28] BBl, 2010, S. 1467 ff. und 6575 ff.; AB SR, 2010, S. 624 und 1011; AB NR, 2010, S. 1356 ff. und 1676; Medienmitteilung SPK-NR vom 20.8.10.
[29] AB SR, 2010, S. 347 ff. und 512 ff.; AB NR, 2010, S. 723 ff. und 848 ff. Siehe auch SPJ 2009, S. 232 f.
[30] AB SR, 2010, S. 347 ff. und S. 751; AB NR, 2010, S. 723 ff. und S. 1161; BBl, 2010, S. 4307 ff. (automatisierte Grenzkontrolle, etc.), 4325 ff. (Rückführungsrichtlinie); NZZ, 25.11.10.
[31] BBl, 2010, S. 4455 ff.; Presse vom 27.5.10. Siehe auch SPJ 2009, S. 232.
[32] Bund, BZ und NZZ, 26.11.10.
[33] TA, 19.3.10; NZZ und SGT, 29.6.10.
[34] TA, 19.3., 16.4. und 18.5.10; NZZ, 10.5., 22.5. und 29.6.10.
[35] SoS und NZZ, 6.11.10.
[36] NZZ, 4.2. (Kosovo) und 24.6.10 (Österreich); Medienmitteilungen des EJPD vom 4.3. (Kasachstan) und vom 19.5.10 (Republik Moldau); Lib., 27.10.10 (Benin).