Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Grundrechte
Eine von der staatspolitischen Kommission des Ständerats eingereichte Motion verlangte einen Rechtsschutz gegen unmittelbar auf die Bundesverfassung gestützte Verordnungen und Verfügungen des Bundesrates und entsprechende Verordnungen und einfache Bundesbeschlüsse der Bundesversammlung. Zurzeit besteht keine gesetzliche Grundlage um solche Erlasse, die schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte darstellen können, direkt gerichtlich anzufechten. Dieser Rechtsschutz werde aber sowohl von der Bundesverfassung (Art. 29a) selbst, wie auch von der EMRK (Art. 6 und Art. 13) gefordert, argumentierte die Kommission. Während sich der Bundesrat negativ zur Motion äusserte, wurde sie im Nationalrat mit 90 zu 52 Stimmen angenommen, wobei die SVP- und die BDP-Fraktion geschlossen und die Grünliberalen mit einer Ausnahme dagegen votierten [1].
Das Instrument des Menschenrechtsdialogs, eines institutionalisierten Dialogs über Menschenrechte mit anderen Nationen wie beispielsweise China, war in der Vergangenheit aufgrund seiner geringen Effizienz kritisiert worden und wird deshalb in Zukunft nicht mehr weitergeführt. Das EDA sucht nun nach individuellen Modellen. So könnten Menschenrechte in alle politischen Konsultationen der Schweiz integriert werden. Darauf reichte die FDP-Liberale-Fraktion im Nationalrat eine Interpellation ein, da sie eine Ausweitung dieses Prinzips auf die Freihandelsabkommen befürchtete. Laut ihrem Sprecher Walter Müller (fdp, SG) sei es nicht realistisch, ein Land per Handelsabkommen zur Einhaltung der Menschenrechte zu zwingen. Der Nationalrat beschloss die Diskussion zu verschieben [2].
Eine Motion der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats forderte die Umsetzung der von der parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedeten Resolution 1782. Die Resolution wurde im Zusammenhang mit mutmasslichen Menschenrechtsverletzungen und illegalem Handel mit menschlichen Organen in Kosovo 2011 verabschiedet. Die Motion wurde im Nationalrat in der Frühjahrs- und im Ständerat in der Herbstsession angenommen [3].
Die 2007 eingereichten Standesinitiativen von Bern und Basel-Stadt, welche beide die Unterzeichnung und Ratifizierung der Menschenhandelskonvention des Europarates forderten, wurden abgeschrieben, da die Konvention bereits 2008 unterzeichnet worden war. Das Übereinkommen bezweckt die Bekämpfung aller Formen von Menschenhandel auf inner- und zwischenstaatlicher Ebene. Die Schweiz erfüllt weitgehend die Anforderungen der Konvention, nur bezüglich des ausserprozessualen Zeugenschutzes besteht Handlungsbedarf. Der Bundesrat plant deshalb die Schaffung einer nationalen Zeugenschutzstelle. Jährlich werden voraussichtlich zehn bis fünfzehn Personen ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Zum Einsatz kommt das Programm ausschliesslich dort, wo die Zeugenaussage wesentlich dazu beiträgt, Delikte der Schwerstkriminalität aufzuklären. Der Bundesrat rechnet mit Kosten von 150‘000 Franken pro Fall. Das Parlament ermächtigte den Bundesrat zur Ratifizierung der Konvention und stimmte dem Gesetzesentwurf über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG) zu [4].
In der aufgrund des Falls des Walliser Hanfbauern Bernhard Rappaz aktuell gewordenen Frage, inwieweit Ärzte bei Hungerstreiks zur Anordnung von Zwangsernährung forciert werden können, machte das Bundesgericht einen Schritt zurück und liess die Frage vorerst unbeantwortet. Grund war der Abbruch des Hungerstreiks durch Rappaz, wodurch die Frage obsolet geworden war [5].
Der Nationalrat nahm mit 101 zu 77 Stimmen die 2010 eingereichte Motion „Runter mit den Masken“ des Nationalrats Freysinger (svp, VS) an. Die Motion forderte, dass vermummte Personen sich nicht mehr an Behörden wenden, den öffentlichen Verkehr benutzen und an Veranstaltungen auf öffentlichem Grund teilnehmen dürfen, wobei von letztgenanntem Punkt Ausnahmen gemacht werden können, z.B. anlässlich der Fasnacht. Dem Motionär zufolge liege der Fokus des Begehrens nicht auf Muslimen, sondern auf Randalierern [6].
Eine Standesinitiative des Kantons Aargau, die das Tragen von Kleidungsstücken, welche das Gesicht ganz oder hauptsächlich verhüllen, im öffentlichen Raum unter Strafe stellen will, war zuvor noch in der kleinen Kammer abgelehnt worden. Der Ständerat argumentierte, dass die Wahrung der öffentlichen Sicherheit bei lokalen Anlässen in den Zuständigkeitsbereich der Kantone falle und dementsprechend einem nationalen Vermummungsverbot eine Änderung der Bundesverfassung vorausgehen müsste [7].
Das Vermummungsverbot wird auch 2012 auf der politischen Agenda bleiben. So reichte der Nationalrat Fehr (svp, ZH) eine Motion ein, die den Bundesrat beauftragt, dem Parlament eine Vorlage für ein nationales Vermummungsverbot zu unterbreiten. Widersacher gegen das Verbot sollen mit Gefängnis bestraft werden. Auslöser dieser Motion war ein Angriff auf Fehr selbst, der im Januar 2011 auf dem Weg zu einer Versammlung der SVP Zürich am Albisgüetli von einem Demonstranten attackiert worden war [8].
Das Bundesamt für Verkehr (BAV) wies die Bahnbetreiber in einer Verfügung an, politische und religiöse Verteilaktionen in Bahnhöfen zuzulassen. Ein generelles Verbot sei in keinem vernünftigen Verhältnis zum damit bewirkten Eingriff in die Meinungsfreiheit. Erlaubt ist hingegen eine Bewilligungspflicht, solange diese nicht einem Verbot gleichkommt. Die Verfügung des BAV entspricht der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts. Die SBB wehrte sich mit dem Argument, dass der freie Zirkulationsfluss geschützt werden müsse und will erst den Entscheid des Bundesgerichts abwarten. Im März hatte die Bahngesellschaft ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Falle von Plakatierungen in Bahnhöfen an das Bundesgericht weitergezogen [9].
 
[1] Mo. 11.3006: AB NR, 2011, S. 2102 ff.
[2] Ip. 11.3487: BBl, 2011, S. 1855; NZZ, 24.5.11; SGT, 28.5.11.
[3] Mo. 11.3005: AB NR, 2011, S. 522 f.; AB SR, 2011, S. 816 f.
[4] Kt. Iv. 07.300 (BE); Kt. Iv. 07.310 (BS): AB SR, 2011, S. 476; AB NR, 2011, S. 2092; BRG 10.097: BBl 2011, S. 1; AB SR, 2011, S. 472 ff. und 1308; AB NR, 2011, S. 2087 ff. und 2281.
[5] Urteil 6B_1011; TA, 23.2.11; vgl. SPJ 2010, S. 30.
[6] Mo. 10.3173: AB NR, 2011, S. 1726.
[7] Kt. Iv. 10.333: AB SR, 2011, S. 186 ff.
[8] Mo. 11.3043; LT, 4.3.11.
[9] NZZ, 14.12.11; TA 3.8. und 19.12.11.