Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Staatsschutz
Der Bundesrat verabschiedete bereits 2007 einen Entwurf für die Revision des Bundesgesetzes über die Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS). Insbesondere sollte durch die Verbesserung der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung die Sicherheit gewährleistet werden. Unter den Massnahmen befanden sich als letzte Mittel auch die präventive Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, das Beobachten von gefährlichen Personen an nicht allgemein öffentlich zugänglichen Orten sowie die geheime Durchsuchung von Datenbearbeitungssystemen. Die Anwendung all dieser Mittel unterliegt der kumulativen Prüfung durch das Bundesverwaltungsgericht und der Exekutive. Nachdem das Parlament den Entwurf an den Bundesrat zurückgewiesen hatte, präsentierte dieser 2010 eine abgeschwächte Version, die sich auf die dringlichsten Punkte beschränkte. Nach einem langen Differenzbereinigungsverfahren konnten sich die beiden Kammern in diesem Jahr einigen. Neu erhält der Bürger ein direktes Auskunftsrecht, d.h. er darf erfahren, ob über ihn Daten angelegt werden. Der Nachrichtendienst darf aber die Auskunft aufschieben, wenn im Sinne des Staatsschutzes Interesse an Geheimhaltung besteht. In diesem Fall kann die betroffene Person den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten mit der Prüfung beauftragen, ob allfällige Daten rechtmässig bearbeitet werden. In der Schlussabstimmung wurde die Revision im Ständerat einstimmig bei drei Enthaltungen und im Nationalrat mit 145 zu 36 Stimmen angenommen. Dagegen votierten die Grünen und eine Mehrheit der SP-Fraktion [21].
Nach dem im Herbst 2010 gestoppten, umstrittenen, präventiven Fahndungsprogramm Fotopass, welches Personen aus bestimmten Ländern an der Grenze automatisch vom Staatsschutz in der Staatsschutz-Datenbank ISIS erfasste, soll ab 2012 ein Nachfolgeprojekt die Präventivüberwachung von Grenzgängern bald wieder ermöglichen. Der Unterschied des neuen Instruments besteht darin, dass die erfassten Personen nicht mehr automatisch in der Staatsschutzdatenbank ISIS fichiert, sondern in einer separaten Datei gespeichert und nach fünf Jahren wieder gelöscht werden [22].
Das Attentat in Norwegen am 23. Juli 2011 rief den Wunsch nach einer stärkeren Kontrolle des Internetverkehrs hervor. Obwohl die umstrittene Revision des Gesetzes über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) noch immer auf Eis lag, sollen durch eine Teilrevision der Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs dem bundesrechtlichen Überwachungsdienst weitere Kompetenzen zur Überwachung des Internets im Rahmen eines ordentlichen Strafverfahrens des Bundes oder des Kantons eingeräumt werden. Gegenstimmen kritisierten die ökonomischen Folgen, und dass mit dem Erlass der Verordnung das Parlament umgangen würde [23].
Für die Eindämmung der Gefahren die vom Internet ausgehen, sprach sich auch der Nationalrat aus. So hiess er ein Postulat Darbellay (cvp, VS) gut, welches den Bundesrat beauftragt, ein Konzept zum Schutz der digitalen Infrastruktur der Schweiz vorzulegen. In seiner Stellungnahme erklärte der Bundesrat, dass er sich der Bedeutung von Cyber-Bedrohungen bewusst sei und er deshalb beschlossen habe, die Federführung für das Thema Cyber Defense auf Stufe Bund dem VBS zu übertragen. Am 10. Dezember 2010 war für eine befristete Zeit ein Projektleiter in der Person von Divisionär Kurt Nydegger gewählt worden. Ein Strategiepapier zur Cyber Defense soll im Frühling 2012 vorliegen. Im Verlaufe des Jahres zeigte sich, dass Ueli Maurer und seine Spezialisten eine Kooperation mit dem Nato Cooperative Cyber Defence Centre in der estnischen Hauptstadt Tallin anstreben [24].
In diesem Sinne unterstützte der Bundesrat auch eine allgemeingefasste Motion der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates, die die Regierung beauftragt, eine gesetzliche Grundlage für die Sicherung und Verteidigung wichtiger Schweizer Datennetzwerke zu schaffen. Nachdem die Motion von der grossen Kammer 2010 überwiesen worden war, folgte nun auch der Ständerat dem Antrag seiner Kommissionsmehrheit und nahm die Motion an [25].
Konkreter war ein Postulat der FDP-Liberale-Fraktion, welches die Schaffung einer Leit- und Koordinationsstelle für die präventive Gefahrenabwehr im Bereich Cyber-Bedrohung vorsieht und vom Nationalrat überwiesen wurde [26].
Da das Internet keine Landesgrenzen kennt, ist bei der Bekämpfung der Internetkriminalität eine internationale Zusammenarbeit wichtig. Dieser Ansicht ist auch die grosse Kammer, die nach dem Ständerat ebenfalls den Entwurf des Bundesrates zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Cyberkriminalität mit 117 zu 30 Stimmen genehmigte. Nur die SVP votierte gegen die Konvention. Zu Diskussionen führte der von der Schweiz anzubringende Vorbehalt, mit dem bei Pornografie auf dem Schutzalter 16 statt 18 beharrt werden soll. Durch die Ratifizierung der Konvention wird der Strafbestand um das Hacking erweitert. Zugleich wurde so der Motion Glanzmann-Hunkeler (cvp, LU) Folge geleistet, welche bereits 2007 die rasche Unterzeichnung der Konvention gefordert hatte [27].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Schmid-Federer (cvp, ZH), welches den Bundesrat beauftragt, zu überprüfen, inwiefern dem Parlament ein Informations- und Kommunikations-Grundlagengesetz unterbreitet werden könne [28].
Die FDP-Liberale-Fraktion hat mit einer Motion den Bundesrat beauftragt, zur Verstärkung der Schweizer Souveränität einen Entwurf eines „Souveränitätsschutzgesetzes“ auszuarbeiten, um Rechtsverletzungen der Souveränität präventiv zu verhindern. Der Nationalrat folgte dem Antrag des Bundesrates und nahm die Motion an [29].
Da der Armeebericht des VBS die Sicherheitskommission des Ständerates unbefriedigt liess, forderte dieselbe mittels Postulat vom Bundesrat einen Bericht über die Möglichkeiten und Strategien der künftigen Mitwirkung der Schweiz an der europäischen Sicherheitsarchitektur. Da die Schweiz den militärischen Schutz nicht mehr autonom gewährleisten könne, sei es nötig, die Entwicklung der Neutralitätspolitik und Beteiligung an der europäischen Sicherheitsproduktion ausserhalb eines NATO- und EU-Beitritts zu klären [30]
Im Fall Tinner hatte sich die Bundesanwaltschaft für ein verkürztes Verfahren entschieden, das eine Vereinbarung zwischen der Anklage und des Angeklagten über die vorgeworfenen Tatbestände und das Strafmass ermöglichte. Die Bundesanwaltschaft und die Familie Tinner wurden sich einig. Der Ball liegt zurzeit beim Bundesstrafgericht, das das Vorgehen noch gutheissen muss [31].
Der Bundesrat legte dem Parlament einen Entwurf einer Verordnung der Bundesversammlung vor, mit der die Gruppierung Al-Qaïda und mit ihr verwandte Organisationen nach Ablauf der momentan geltenden Verordnung des Bundesrates weiterhin verboten werden können. Der Bundesrat hatte bereits 2001 eine solche Verordnung erlassen, die 2003, 2005 und 2008 verlängert worden war. Jetzt sollte das Verbot in eine auf drei Jahre befristete Verordnung der Bundesversammlung überführt werden [32].
Nachdem am 1. August 2007 unmittelbar nach der Feier mit Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ein Sprengsatz auf dem Rütli detonierte, wurde am 8. August 2007 ein Verfahren gegen Unbekannt eröffnet. Im Januar 2008 wurde ein Tatverdächtiger, der im Volksmund als Rütli-Bomber bekannt war, in Untersuchungshaft gesetzt, welche mehrmals verlängert wurde, bis er im Dezember 2008 freigelassen wurde. Bei den Ermittlungen waren technische Überwachungsmassnahmen, unter anderem auch ein sogenannter Trojaner zum Einsatz gekommen, worüber jedoch die Verteidiger informiert worden seien. Am 11. Oktober 2011 hat die Bundesanwaltschaft nach Abschluss der Strafuntersuchung zum Sprengkörper das Verfahren eingestellt. Die Strafbestände haben sich nicht beweisen lassen [33].
Das Parlament ermächtigte den Bundesrat zur Ratifizierung des Abkommens zwischen der Schweiz und Eurojust. Der Zweck dieses Abkommens ist die verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Einheit für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust) im Kampf gegen schwere Formen der internationalen Kriminalität. Detaillierter beschrieben ist dies in Teil I, Kapitel 2 (Europa: EU) .
Für Aufsehen sorgte die Affäre um den Chef der Bundeskriminalpolizei Michael Perler. Perler hatte 2009 seine russische Lebensgefährtin an ein mehrtätiges Treffen in St. Petersburg mitgenommen und damit die Debatte ausgelöst, ob er ein Sicherheitsrisiko eingegangen war. Sowohl die Fachstelle für Personensicherheitsprüfung im Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) sowie das Bundesverwaltungsgericht schätzten Perler als eine Gefahr für die Staatssicherheit ein. Dieser hatte den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts an das Bundesgericht weitergezogen. Bis zum Urteil des Bundesgerichts befindet sich Perler in bezahltem Urlaub [35].
 
[21] AB NR, 2011, S. 1371 ff., 1686 ff.,1894 ff. und 2278; AB SR, S. 368 ff., 842 f., 938 f. und 1304; BZ, 6.12.11.
[22] BBl, 2010, S. 7739 ff.; TA, 3.5.11.
[23] NZZ, 29.7.11.
[24] Po. 10.4102: AB NR, 2011, S. 532; SoS, 5.11.11, vgl. SPJ 2010, S. 304.
[25] Mo. 10.3625: AB SR, S. 2011, 252 f., vgl. SPJ 2010, S. 304.
[26] Po. 10.3910: AB NR, 2011, S. 532.
[27] vgl. SPJ 2010, S. 304.
[28] Po. 11.3906: AB NR, 2011, S. 2267.
[29] Mo. 11.3120: AB NR, 2011, S. 1265.
[30] Po. 11.3469: AB SR, 2011, S. 418.
[31] Vgl. SPJ 2010, S. 27.
[32] BBl 2011, S. 4495 ff.
[33] TA, 19.10.11; vgl. auch oben, Teil I, 1 (Grundsatzfragen).
[35] NZZ, 5.10.11.