Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Strafrecht
Im Zusammenhang mit der Überprüfung der Strafrahmen schlug der Bundesrat vor, Inzest, d.h. den Beischlaf zwischen Blutsverwandten in gerader Linie, künftig für straflos zu erklären. Damit vollzog die Exekutive eine Kehrtwende, da sie bisher einer Streichung dieses Tatbestandes immer negativ gegenüber gestanden hatte. Sie argumentierte vormals, dass ein Verbot zum Schutz der intakten Familie wie auch aus eugenischen Gründen erforderlich sei. Die geplante Aufhebung der Strafnorm erhitzte die Gemüter. Die Gegner der Aufhebung stützten das
Inzest-Verbot weniger mit eugenischen als mit ethisch-moralischen Argumenten
[59].
Die Flucht des in der neuenburgischen Strafanstalt Bellevue verwahrten Sexualstraftäters Jean-Louis B. im Zuge eines begleiteten Ausgangs am 27.6.2011 provozierte eine Motion Rickli (svp, ZH), die eine Änderung des StGB fordert, nach welcher
Hafturlaube und Ausgänge für alle Verwahrte ausgeschlossen sind. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, da Vollzugsöffnungen für die Erstellung von Prognosen über die Gemeingefährlichkeit von Tätern unerlässlich seien. Rickli hat zusätzlich zusammen mit dem Sekretariat der SVP-Schweiz einen Mustervorstoss verfasst, der an die SVP-Fraktion in sämtlichen Kantonsparlamenten gehen wird. Darin wird die jeweilige Regierung aufgefordert, einen Bericht über die Zuständigkeiten bei der Gewährung von Ausgängen zu erstellen und Ausgänge im geschlossenen Vollzug zu streichen. In Reaktion auf den Fall Jean-Louis B. hatte der Kanton Bern vorläufig sämtliche begleiteten Ausgänge und Urlaube für Gemeingefährliche gestrichen
[60].
Mit der Verwahrung beschäftigte sich auch ein überwiesenes Postulat Recordon (gp, VD), das den Bundesrat beauftragt, einen Bericht über die Anwendung des Artikels des StGB über die Massnahmen der lebenslänglichen Verwahrung bzw. der Verwahrung auf unbestimmte Zeit zu erstellen. Das EJPD führt bereits seit 2008 eine Evaluation des Allgemeinen Teils des StGB durch und ein Bericht soll Ende 2012 verfügbar sein
[61].
Im Anschluss an die Motionen Jositsch (sp, ZH) und Janiak (sp, BL), welche die Verlängerung der
Verjährungsfristen bei Wirtschaftsdelikten forderten, gab der Bundesrat eine Änderung des StGB in die Vernehmlassung. Der Vorentwurf sieht nicht eine spezielle Verjährungsfrist für Wirtschaftsdelikte vor, sondern will die Verjährungsfrist je nach Tatschwere erhöhen
[62].
Der Nationalrat überwies mit 95 zu 37 Stimmen eine Motion Frick (cvp, SZ), die den Bundesrat beauftragt zu prüfen, welche einfachen Verstösse gegen die Rechtsordnung zusätzlich zum heutigen Recht dem
Ordnungsbussensystem unterstellt werden könnten. Damit sollen die Strafbehörden und die Bürger entlastet werden. Der Ständerat hatte die Motion bereits in der Wintersession 2010 gutgeheissen
[63].
Die von Roth-Bernasconi (sp, GE) eingereichte parlamentarische Initiative fordert die Ausarbeitung einer Strafnorm, die
sexuelle Verstümmelung von Frauen oder die Aufforderung dazu in der Schweiz unter Strafe stellt. Für in der Schweiz niedergelassene Personen soll diese Regelung auch gelten, wenn die Tat im Ausland begangen wurde. Obwohl bereits heute eine Bestrafung möglich ist, erhofft sich die Initiantin von einer speziellen Strafnorm erzieherische Wirkung. Nach einer kleinen redaktionellen Änderung durch den Ständerat konnte die Änderung des StGB im Nationalrat mit 195 zu 1 und im Ständerat mit 44 zu 0 Stimmen angenommen werden
[64].
Die linksradikale Zürcher Politikaktivistin
Andrea Stauffacher wurde vom Bundesstrafgericht zu einer 17-monatigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Ihr wurde angelastet, zwischen 2002 und 2007 fünf Sprengstoffanschläge gegen Gebäude verübt zu haben
[65].
Ein in Appenzell-Ausserroden zu einer Busse von 100 Franken verurteilter
Nacktwanderer wurde mit seiner Beschwerde beim Bundesgericht abgewiesen. Dieses besagte in seinem Urteil, dass Freikörperkultur auf Wanderungen in der Schweiz von den Kantonen eigenständig geregelt werden dürfe. In Appenzell Inneroden zieht Nacktwandern künftig eine Busse nach sich
[66].
In Umsetzung einer angenommenen parlamentarischen Initiative der christdemokratischen Fraktion erarbeitete die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes. Neu soll die Polizei den
Cannabiskonsum mit einer Ordnungsbusse in der Höhe von 100 Franken ahnden können, wenn der Täter nicht mehr als 10 Gramm Cannabis bei sich trägt. Nach der Vernehmlassung beschloss die Kommission das Ordnungsbussensystem nur für erwachsene Cannabiskonsumenten einzuführen. Die Vorlage kommt im kommenden Jahr ins Parlament
[67].
Eine Motion Gadient (bdp, GR) forderte den Bundesrat auf, das
Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, welches 2006 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet wurde, zu ratifizieren. In seiner Stellungnahme im Jahr 2009 teilte der Bundesrat mit, dass er das Anliegen der Motion teile und die möglichen bundes- und kantonsrechtlichen Auswirkungen des Übereinkommens prüfe. Eine Umsetzung des Übereinkommens hätte sowohl Änderungen des Bundes- wie auch des Kantonsrechts zur Folge und wäre mit Mehrkosten verbunden. Nachdem die Diskussion im Nationalrat zuerst verschoben wurde, nahm die grosse Kammer die Motion 2009 mit 131 zu 42 Stimmen an, wobei die SVP geschlossen dagegen votierte. Im Dezember 2010 beschloss der Bundesrat das Übereinkommen zu unterzeichnen, was am 19. Januar 2011 geschah. Das EDA arbeitete dann an einem Vorentwurf für den Bundesbeschluss für die Genehmigung des Übereinkommens, welcher in die Vernehmlassung gegeben werden sollte. Der Ständerat folgte in der Frühjahrsession dem Antrag seiner Rechtskommission und überwies die Motion
[68].
Durch das von Nationalrätin Wyss (gp, SO) eingereichte Postulat wird der Bundesrat aufgefordert, die
Unterstellung des Immobiliensektors unter das Geldwäschereigesetz (GwG) erneut zu prüfen. Dies war in einem Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Umsetzung der revidierten Empfehlung der internationalen Expertengruppe zur Bekämpfung der Geldwäscherei, Financial Action Task Force (FATF/GAFI), im Jahr 2005 bereits beantragt worden. Aufgrund der ablehnenden Haltung in der Vernehmlassung verzichtete der Bundesrat aber darauf und begnügte sich damit, dass durch die Bestimmung des Strafgesetzbuches zur Bekämpfung der Geldwäscherei (Art. 305bis StGB) nicht nur Finanzintermediäre erfasst sind. Der Nationalrat überwies das Postulat in der Frühjahrssession
[69].
Für die Motion Schweiger, die eine umfassende Revision des eidgenössischen Steuerstrafrechts fordert, vgl. unten Teil I, 5.
[60] Mo. 11.3767:TA, 2.7.11; NLZ, 8.7.11.
[61] Po .10.4035: AB SR, 2011, S. 200.
[62] Mo. 08.3806 (Jositsch); Mo 08.3930 (Janiak): BBl 2011, S. 7993.
[63]
Mo. 10.3747: AB NR, 2011, S. 701 f.
[64] Parl. Iv. 05.404: AB NR, 2010, S. 2133 ff.; AB NR, 2011, S. 1424 und 1867; AB SR, 2011, S. 484 f. und 1036; vgl. auch Teil I, Kapitel 7d (Frauen- und Gleichstellungspolitik.
[65] NZZ, 9.11.11; SoS, 11.10.11.
[66] Urteil 6B-345; NZZ, 18.11.11.
[67] Parl. Iv. 04.439; BBl 2011, S. 8195 ff..
[68] Mo. 08.3915: AB NR, 2009, S. 180 und 1890; AB SR, 2011, S. 72 f.
[69] Po. 10.4061: AB NR, 2011, S. 533.
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