Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Gerichte
Zum ersten Mal wählte das Parlament und nicht mehr der Bundesrat den
Bundesanwalt. Der amtierende Erwin Beyeler, der 2009 auf den umstrittenen Valentin Roschacher gefolgt war, musste sich der Wiederwahl stellen. Im Vorfeld musste Beyeler vor allem aufgrund des Falls ‚Holenweger‘ Kritik einstecken (vgl. nachfolgend). Die Gerichtskommission hatte sich nur knapp mit 9 zu 7 Stimmen bei einer Enthaltung für seine Wiederwahl ausgesprochen. In der Sommersession erhielt Beyeler dann von der Bundesversammlung lediglich 109 von 227 gültigen Stimmen, erreichte also das nötige Mehr nicht und wurde so abgewählt. Es war insbesondere die SVP, die sich gegen die Wiederwahl Beyelers einsetzte und vor der Wahl nochmals die ganze Kritik an dessen Person wiederholte. Die Gerichtskommission musste in der Folge einen Nachfolger suchen und schlug aus einem Kandidatenseptett einstimmig den parteilosen Michael Lauber vor. Lauber sei international gut vernetzt und hätte Erfahrung mit der Bekämpfung von Geldwäscherei. Zudem habe er als Untersuchungsrichter zu Beginn der 1990er Jahre in Bern auch Kenntnisse in der Strafverfolgung gesammelt. Für das Amt hatten sich unter anderen auch die stellvertretenden Bundesanwälte Ruedi Montanari und Maria-Antonella Bino beworben. Die Gerichtskommission setzte sich aber bewusst für einen externen Kandidierenden aus. Die Bundesversammlung folgte Ende November dem Vorschlag der Gerichtskommission und wählte Lauber mit 203 von 206 gültigen Stimmen
[50].
Den 2010 aufgrund des Unmutes über die vorgeschlagene Einstellung von drei Ausländern als Staatsanwälte eingereichten Vorstössen zur Einführung der
Bedingung der Schweizer Staatsbürgerschaft für die Besetzung von Kaderstellen in der Bundesanwaltschaft wurden unterschiedliche Schicksale zuteil. Die Diskussion zur Motion Fiala (fdp, ZH) wurde verschoben und die Motion Baumann (svp, TG) wurde diskussionslos abgelehnt
[51].
2003 hatte die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen den Bankier Oskar
Holenweger wegen Verdachts auf Wäsche von Drogengeldern eingeleitet. 2010 hatte sie dann schliesslich Klage eingereicht. Der Fall sollte zum Verhängnis gleich für zwei Bundesanwälte werden. Der Rücktritt von Valentin Roschacher im Jahr 2006 und insbesondere die Nichtwiederwahl von Erwin Beyeler im Berichtsjahr (siehe oben) waren unmittelbar mit dem Fall Holenweger verknüpft. Im April 2011 hatte das Bundesstrafgericht Holenweger frei gesprochen und die Anklagepunkte der Bundesanwaltschaft allesamt demontiert. Der Freispruch wurde in der Presse denn auch als Debakel für Beyeler interpretiert. Der Freispruch war Wasser auf die Mühlen der SVP, die mutmasste, dass die Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat 2007 ebenfalls mit dem Fall Holenweger zu tun gehabt haben musste. Blocher war damals vorgeworfen worden, in ein Komplott gegen den damaligen Bundesanwalt Roschacher verwickelt gewesen zu sei. Mit dem Freispruch Holenwegers erwiesen sich diese Vorwürfe jedoch als haltlos. Ende November kam auch die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments zum Schluss, dass der ehemalige Bundesrat nicht an einem Komplott gegen den ehemaligen Bundesanwalt beteiligt gewesen war
[52].
Gerügt wurde die Bundesanwaltschaft auch im so genannten
Hells-Angels-Prozess. Im April 2004 kam es zu einer spektakulären Polizeiaktion gegen den Motorradclub, der unter Verdacht geraten war, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zwar wurde im Berichtsjahr ein Mitglied der Hells Angels vom Bundesstrafgericht angeklagt, aber nicht wegen des ursprünglichen Verdachts der Bundesanwaltschaft, sondern aufgrund eines Drogendeliktes. Der Bundesstrafrichter kritisierte die Bundesanwaltschaft, sie hätte viel zu lange gebraucht, um den Fall aufzuarbeiten und das Beschleunigungsgebot verletzt. Im Oktober musste der Prozess aufgrund unvollständiger Beweismittel sogar vertagt werden
[53].
In die Schlagzeilen geriet die Bundesanwaltschaft schliesslich auch aufgrund des Einsatzes so genannter
Trojaner, also versteckter Software-Programme, die ein Ausspionieren von Computern ermöglichen. Solche Spionage-Software soll in vier Fällen zum Einsatz gekommen sein, dreimal in der Terrorismusbekämpfung und einmal gegen organisierte Kriminalität
[54].
[50] Nichtwiederwahl Beyelers: AB NR, 2011, S. 1304 f.; Medienmitteilung Gerichtskommission vom 25.5.11; WW, 28.4.11; Presse vom 12.5., 26.5., 28.5. 16.6. und 17.6.11; Wahl Laubers: AB NR, 2011, S. 1880; Medienmitteilung Gerichtskommission vom 24.8.11; vgl. SPJ 2010, S. 45 f.; NZZ, 20.7.11; Presse vom 28.7., 25.8. und 29.9.11.
[51] Mo. Baumann 10.4097: AB NR, 2011, S. 1265; Mo. Fiala 10.3966; SPJ 2010, S. 46.
[52] Presse vom 26.3., 23.4. und 26.11.11, TAM, 3.12.11; SPJ 2010, S. 46.
[53] Presse vom 6.5., 18.10.11.
[54] Presse vom 15.10.11.
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