Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
2010 hatte der Bundesrat einen direkten Gegenvorschlag zur
Volksinitiative „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)“ vorgelegt. Das Volksbegehren will, dass aussenpolitische Verträge in wichtigen Bereichen sowie völkerrechtliche Verträge mit einmaligen Ausgaben von mehr als 1 Mia. CHF oder wiederkehrenden Kosten von mehr als 100 Mio. CHF jährlich dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. In ihrem Gegenvorschlag schlug die Regierung vor, lediglich jene Staatsverträge obligatorisch der Stimmbevölkerung vorzulegen, die Verfassungsrang haben. Im Berichtsjahr diskutierten die Räte über Initiative und Gegenvorschlag. In der grossen Kammer verlief die intensive Diskussion zwischen der SVP und den restlichen Fraktionen. Einigkeit herrschte hinsichtlich der zunehmenden Bedeutung der Aussenpolitik und der Notwendigkeit einer entsprechenden Anpassung der direkten Demokratie. Der Mehrheit des Nationalrates ging die Initiative aber zu weit. In der Folge unterstützte die grosse Kammer den Gegenvorschlag des Bundesrates und empfahl die Initiative zur Ablehnung. Im Ständerat wurde dann jedoch Nicht-Eintreten auf die Debatte um den Gegenvorschlag und ebenfalls Ablehnung der Initiative beschlossen. Die grosse Kammer, an die das Geschäft somit zurückging, folgte diesem Beschluss in der neuen Legislatur. Somit wird 2012 nur die Initiative zur Abstimmung gelangen. Die Debatten zur Initiative unter dem Gesichtspunkt der Aussenpolitik erörtern wir auch unten, Teil I, 2 (Leitlinien)
[58].
Die Diskussion über die
Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit internationalen Abkommen und dem Völker- und Menschenrecht wurde im Berichtsjahr durch neue Vorschläge und Vorstösse erweitert. Der Bundesrat legte den versprochenen Zusatzbericht zum Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen vor. In einem ersten Bericht von 2010 hatte er lediglich einige Optionen zur Klärung des Verhältnisses vorgeschlagen. Der Zusatzbericht sollte eine vertiefte Diskussion liefern. Zwei Vorschläge lieferten dazu Anlass. Auf der einen Seite sollte die bisher lediglich formale Vorprüfung materiell erweitert werden: Es soll insbesondere geprüft werden, ob der Initiativtext mit dem Völkerrecht vereinbar ist oder nicht. Das Resultat dieser Vorprüfung würde auf den Unterschriftenbögen vermerkt und dem Initiativkomitee stände es frei, die Unterschriftensammlung trotzdem vorzunehmen oder aber den Text anzupassen. Auf der anderen Seite sollte der Katalog der Gültigkeitsvoraussetzungen erweitert werden: Begehren, die verfassungsrechtliche Grundrechte verletzen, sollten neu für ungültig erklärt werden können
[59].
Die Räte hatten derweil über Vorstösse zu befinden, die in ähnliche Richtungen zielten. Die parlamentarische Initiative Moret (fdp, VD) hätte die
Gültigkeitsprüfung einer Initiative einer richterlichen Instanz im Sinne eines Verfassungsgerichts unterstellen wollen. Mit dem Argument, dass diese Prüfung erst nach der Sammlung der Unterschriften zur Anwendung käme, wurde der Vorstoss in der Sondersession im April vom Nationalrat verworfen. In der gleichen Debatte wurde in der grossen Kammer ein Postulat der staatspolitischen Kommission überwiesen, das den Bundesrat beauftragte, mögliche Verfahren für eine Gültigkeitsprüfung vor der Unterschriftensammlung aufzuzeigen. Trotz des Hinweises von Bundesrätin Sommaruga, dass der Bundesrat diesem Anliegen bereits im Zusatzbericht nachgekommen sei, wurde der Vorstoss angenommen. Im Herbst lehnte der Ständerat die parlamentarische Initiative Vischer (gp, ZH) ab, die ein Volksbegehren auch dann für ungültig erklären lassen wollte, wenn es gegen den Grundrechtsschutz und Verfahrensgarantien des Völkerrechts verstösst (z.B. Menschenrechtskonvention). Der im Vorjahr vom Nationalrat noch überwiesene Vorstoss wurde in der kleinen Kammer als zu weit gehend beurteilt. Dafür überwies der Ständerat in der gleichen Sitzung eine Motion seiner staatspolitischen Kommission, mit welcher der Bundesrat beauftragt wird, auf der Basis des Zusatzberichtes eine Vorlage zu erarbeiten, in der die rechtlichen Grundlagen für die nichtbindende materielle Vorprüfung des Initiativtextes vor der Sammlung der Unterschriften erarbeitet werden. Die gleichlautende Motion der staatspolitischen Kommission des Nationalrates wurde dann in der Wintersession auch von der Volksvertretung überwiesen. Allerdings nahm die nationalrätliche Kommission auch den zweiten Punkt des Zusatzberichtes des Bundesrats auf und verlangte Vorschläge für eine Erweiterung des Katalogs der Gründe für die Ungültigkeit einer Volksinitiative
[60].
Hohe Wellen warf die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform vom 24. Februar 2008. Aus Sicht der SP hatten die
Abstimmungsunterlagen falsche Angaben zu den Steuerausfällen enthalten. Kiener-Nellen (sp, BE) und Jositsch (sp, ZH), sowie eine Privatperson reichten deshalb Beschwerde ein. Ende Berichtjahr entschied das Bundesgericht gegen eine Wiederholung der Abstimmung, rügte aber den Bundesrat für die fehlerhafte Kommunikation
[61].
[58] BRG 10.090: AB NR, 2011, S. 669 ff., S. 2084 ff. und S. 2281, AB SR, 2011, S. 844 ff. und S. 1308; SPJ 2010, S. 74 f. Zur Frage der Vereinbarkeit von direkter Demokratie und Übernahme des EU-Rechts vgl. die abgelehnte Motion der SP-Fraktion (11.3434); Presse vom 14.4. und 20.10.11.
[59] BBl, 2011, S. 3613 ff.
[60] Pa.Iv. Moret 09.521 und Po. SPK-NR 10.3885: AB NR, 2011, S. 696 ff.; Pa.Iv. Vischer 07.477: AB SR, 2011, S. 849 ff.; Mo. SPK-SR 11.3751: AB SR, 2011, S. 849 ff., AB NR, 2011, S. 2166 ff.; Mo. SPK-NR 11.3468: AB NR, 2011, S. 2166 ff.; NLZ, 3.1.11; Presse vom 1.4., 14.4., 20.5. und 21.12.11; WW, 20.4.11.
[61] NZZ, 5.3.11 und 14.5.11, TA, 13.4., 14.4. und 20.12.11; zur Debatte in den Räten vgl. Teil I, 5, direkte Steuern.
Copyright 2014 by Année politique suisse