Année politique Suisse 2011 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
 
Entwicklungsländer
Der Bericht zur Weiterführung der Entwicklungszusammenarbeit wurde 2011 im Nationalrat behandelt. Die Vorlage war im Herbst 2009 vom Bundesrat präsentiert und 2010 erstmals von beiden Kammern beraten worden. Der National- und der Ständerat waren sich uneinig gewesen über die Festsetzung der Entwicklungshilfequote gemessen am Bruttonationaleinkommen (BNE). Aussenministerin Micheline Calmy-Rey kündigte daraufhin eine Zusatzbotschaft zur Erhöhung der Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Entwicklungshilfe an, welche im September 2010 an die Räte ging. Darin beantragte der Bundesrat für die Jahre 2011 und 2012 die Erhöhung der Rahmenkredite für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) sowie das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) um CHF 640 Mio. Dadurch würden die Ausgaben für die öffentliche Entwicklungshilfe bis 2015 linear auf 0.5 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) ansteigen und so dem voraussichtlichen Willen der Parlamentsmehrheit entsprechen. Der Ständerat zeigte sich mit der Zusatzbotschaft zufrieden und hiess sie gut. Zudem nahm er den Bericht zur Weiterführung der Entwicklungszusammenarbeit an. In der Frühjahressession kamen beide Geschäfte zur Beratung in den Nationalrat, welcher den Bericht zur Weiterführung der Entwicklungshilfe zur Kenntnis nahm. Bezüglich der Zusatzbotschaft Mittelerhöhung für die Entwicklungshilfe forderte eine Minderheit aus SVP- und FDP-Vertretern Nichteintreten, weil die Entwicklungszusammenarbeit durch falsche Anreize fehlerhaft ausgestaltet und die Herkunft der zusätzlichen Gelder nur unzureichend thematisiert sei. Trotz Opposition von Mitte-Rechts wurde mit 109 zu 75 Stimmen Eintreten beschlossen. Für beide Beschlüsse, also die Erhöhung der Rahmenkredite für die DEZA als auch für das SECO, gab es je einen Minderheitsantrag, welche die entsprechenden Ausgaben auf 0.45 Prozent des BNE plafonieren wollten. Diese Anträge wurden vor allem von linker Seite bekämpft. Bundesrat Schneider-Ammann warb ebenfalls für eine Ablehnung der Minderheitsanträge mit der Begründung, dass bei ihrer Annahme Ausgaben in der Höhe von CHF 140 Mio. bei Klimaprojekten eingespart werden müssten, die Schweiz sich aber an der UNO-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 für die Bereitstellung dieser Gelder verpflichtet hatte. Vertreter der Minderheit kritisierten Linksgrün, welche die Forderung nach der Erhöhung der Entwicklungshilfe an die Vorlage zur Erhöhung der finanziellen Beiträge an den IWF zur Bekämpfung der globalen Finanzkrise knüpften. Die Argumentation der Ratslinken zielte darauf ab, dass nicht nur die von der Finanzkrise getroffenen Industrieländer, sondern auch die ärmsten Länder zusätzliche finanzielle Unterstützung benötigten. Bei der Schlussabstimmung wurden beide Bundesbeschlüsse dank einer Mitte-Links-Mehrheit angenommen [88].
Ebenfalls in der Frühlingssession diskutierte der Nationalrat den Bundesbeschluss über die Kapitalerhöhungen für die multilateralen Entwicklungsbanken, zu welchem der Ständerat bereits 2010 seine Zustimmung gegeben hatte. Der Rahmenkredit betraf die finanzielle Beteiligung der Schweiz an den Krediterhöhungen für die afrikanische, die asiatische und die interamerikanische Entwicklungsbank sowie für die internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die internationale Finanzgesellschaft sowie die europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Die vorgeschlagene Schweizer Verpflichtungssumme lag bei rund CHF 3.5 Mia., wovon lediglich Einzahlungen von gesamthaft rund CHF 167 Mio. an die verschiedenen Institutionen über drei bis acht Jahre verteilt zu tätigen wären. Der Rest des Betrags stellte Garantiekapital dar. Eine Minderheit Reymond (svp, GE) forderte Nichteintreten und begründete dies mit der mangelnden Transparenz der Verwendung der Gelder, die auch an korrupte und ineffiziente Regimes fliessen könnten. Diese Bedenken wurden von der Mehrheit des Nationalrates nicht geteilt und Eintreten wurde beschlossen. Anschliessend wurde der Bundesbeschluss in der Schlussabstimmung mit 123 zu 58 Stimmen angenommen [89].
Der Bundesbeschluss über die Verlängerung und Aufstockung des vierten Rahmenkredits zur Weiterführung der Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und der GUS stand im Nationalrat ebenfalls zur Debatte. Die kleine Kammer hatte diesem Geschäft bereits im Vorjahr zugestimmt. Die Erhöhung des Kredits um CHF 290 Mio. wurde trotz eines Minderheitsantrags Estermann (svp, LU), welcher sich für eine Investition des genannten Betrags in die heimische Wirtschaft zur Abfederung der Frankenstärke aussprach, angenommen. Zudem wurde mit diesem Entscheid der vierte Rahmenkredit bis Ende 2012 verlängert [90].
Der Nationalrat überwies im Februar ein Postulat seiner Wirtschaftskommission, durch welches der Bundesrat verpflichtet wurde, in einem Bericht den Nutzen und mögliche Nachteile eines Steuerinformationsaustauschabkommens mit Entwicklungsländern für den Schweizer Finanzplatz darzulegen [91].
Der Bundesrat soll in einem Bericht aufzeigen, anhand welcher Indikatoren die Effizienz der Schweizer Entwicklungshilfe gemessen werden könnte und wie es um den Wirkungsgrad der geleisteten Entwicklungszusammenarbeit steht. Dies forderte ein Postulat Egger-Wyss (cvp, AG), welches der Nationalrat im Juni überwies [92].
Im Rahmen der ausserordentlichen Session zur Zuwanderung und dem Asylwesen reichte die Fraktion der Schweizerischen Volkspartei eine Motion ein, welche eine Kopplung der Entwicklungshilfe an die Kooperation der Empfängerstaaten im Asylbereich forderte. Durch eine zu schaffende gesetzliche Grundlage würden Gelder der Entwicklungszusammenarbeit nur noch überwiesen und Schuldenerlasse nur noch gewährt, wenn sich die betroffenen Staaten bereit erklärten, abgewiesene Asylsuchende und illegale Ausländer wieder aufzunehmen. Eine rechts-bürgerliche Mehrheit sorgte im Nationalrat für die Annahme der Motion [93].
In eine ähnliche Stossrichtung zielte die FDP-Fraktion mit einer Motion, die ebenfalls in der Herbstsession im Nationalrat behandelt wurde. Aufgrund der Demokratisierungsbewegungen in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens und den davon ausgelösten Flüchtlingsbewegungen, forderte das Begehren eine Kopplung der zusätzlichen Entwicklungshilfe an die Kooperation der betroffenen Staaten bei der Rücknahme von Personen, welche in der Schweiz vergebens um Asyl ersucht hatten. Zudem wurde der Bundesrat aufgefordert, sich im Rahmen von multilateralen Organisationen für eine solche Zweckbindung der Entwicklungsgelder einzusetzen. Der Bundesrat argumentierte, dass eine solche Koppelung nicht zielführend sei und die irreguläre Migration dadurch nicht eingedämmt würde. Eine rechts-bürgerliche Parlamentsmehrheit liess sich von dieser Argumentation nicht überzeugen und stimmte dem Anliegen der FDP-Fraktion zu. Somit wird auch der Ständerat über dieses Geschäft entscheiden [94].
In der Herbstsession überwies der Nationalrat zwei Postulate von Schneider-Schneiter (cvp, BL). Das eine forderte von der Landesregierung eine Strategie zur Schaffung einer kohärenten und wirksamen Entwicklungspolitik, in der die verwaltungsinterne Zusammenarbeit zwischen der DEZA und dem SECO besser institutionalisiert und ausgerichtet wid. Das andere verlangte vom Bundesrat eine Neuausrichtung der Partnerschaften in der Entwicklungszusammenarbeit, welche nebst wirtschaftlichen und geographischen Kriterien auch sicherheits- und migrationspolitische Überlegungen beinhalten sollte. Zudem sollte der Privatsektor zu einem bedeutenderen Partner der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit werden [95].
Der Ständerat hiess eine Motion Rechsteiner (sp, BS) mit dem Titel „Entwicklungszusammenarbeit und MSC-Zertifizierung“ gut. Der Motionär forderte darin, dass die Schweiz die illegale Fischerei in den Empfangsstaaten von Schweizer Entwicklungshilfe bekämpfen und lokale Fischer durch gezielte Projekte für eine nachhaltige Fischerei gewinnen sollte, welche dann langfristig mit dem MSC-Label ausgezeichnet werden könnten. Der Nationalrat hatte dem Begehren bereits 2009 zugestimmt [96].
Der Nationalrat diskutierte in der Herbstsession als Erstrat den Antrag des Bundesrates um die Verlängerung und Aufstockung des Rahmenkredits für die internationale humanitäre Hilfe. Der Betrag von CHF 112 Mio. sollte lediglich der Verlängerung der Laufzeit des Kredits und somit der Überbrückung bis Ende 2012 dienen, bis der Bundesrat ab Anfang 2013 die Rahmenkredite für die DEZA, die Osthilfe und das SECO in einem Paket vorlegen würde. Der Minderheitsantrag Mörgeli (svp, ZH), diese Mehrausgaben durch eine Kürzung des äquivalenten Betrags bei der Entwicklungshilfe zu kompensieren, wurde klar abgelehnt. In der Gesamtabstimmung sprachen sich alle Fraktionen mit Ausnahme der SVP geschlossen für das Geschäft aus. Der Ständerat schloss sich dem an und stimmte im Dezember zu [97].
 
[88] BRG 10.085: AB NR, 2011, S. 3 ff. und 17 ff.; BBl, 2009, S. 7651 ff. und BBl, 2011, S. 2919 ff.; Presse vom 1.3.11; vgl. SPJ 2010, S. 84.
[89] BRG 10.081: AB NR, 2011, S. 3 ff. und 16 ff.; BBl, 2011, S. 2925 ff.; vgl. SPJ 2010, S. 84 ff.
[90] BRG 10.076: AB NR, 2011, S. 3 ff. und 16; BBl, 2011, S. 2923 ff.; vgl. SPJ 2010, S. 84 ff.
[91] Po. 10.3880: AB NR, 2011, S. 21 ff.
[92] Po. 11.3090: AB NR, 2011, S. 1266.
[93] Mo. 10.3558: AB NR, 2011, S. 1729.
[94] Mo. 11.3510: AB NR, 2011, S. 1736; für die ausserordentliche Session zur Zuwanderung und dem Asylwesen vgl. ausführlich Teil I, Kapitel 7d (Flüchtlingspolitik).
[95] Po. 11.3369 und Po. 11.3370: AB NR, 2011, S. 1843.
[96] Mo. 09.3694: AB SR, 2011, S. 815 ff.; vgl. SPJ 2009, S. 68.
[97] BRG 11.037: AB NR, 2011, S. 1772 ff. und 2256; AB SR, 2011, S. 1290 f.; BBl, 2011, S. 4969 ff.