Année politique Suisse 2011 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlingspolitik
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Gesetzgebung
Im Berichtsjahr gab es zwei Vorhaben zur Revision des Asylgesetzes. Zum einen schlug Justizministerin Sommaruga im Frühjahr vor, die Gesetzgebung dahingehend abzuändern, dass die Mehrheit der Asylverfahren bereits in den Bundeszentren abgewickelt und die Asylsuchenden so gar nicht erst auf die Kantone verteilt werden sollen. Die durchschnittliche Bearbeitungsfrist der Gesuche könnte damit auf rund 120 Tage gesenkt werden. Lediglich geschätzte 20 Prozent aller Personen im Asylprozess, bei welchen weitergehende Abklärungen nötig sind, sollten weiterhin kantonalen Zentren zugewiesen werden. Die Vorschläge wurden sowohl von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe als auch von der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats begrüsst. Letztere erteilte der Bundesrätin im Mai den Auftrag, den Entwurf weiterzuverfolgen und in Form einer Zusatzbotschaft zu präsentieren. Zum anderen soll das bestehende Asylgesetz von 1999 grundsätzlich revidiert werden. Im Mai hiess es, ein Entwurf zur umfassenden Restrukturierung des Asylbereichs solle nach Ansicht der Bundesrätin dem Parlament bis Ende 2012 vorliegen; die kurzfristig realisierbaren Massnahmen sollen den Räten in Form einer Zusatzbotschaft zur laufenden Asylgesetzrevision hingegen bereits bis Ende September des Berichtsjahres vorgelegt werden. Laut Regierung dürfte das komplette Revisionsvorhaben insgesamt fünf bis sechs Jahre in Anspruch nehmen. In der darauffolgenden Anhörung kritisierten zahlreiche Akteure die Vorschläge von Justizministerin Sommaruga. So meinte die FDP, eine konsequentere Anwendung des bestehenden Gesetzes sei ausreichend, während die SVP die kostspieligen Massnahmen kritisierte. Letztere war der Ansicht, dass stattdessen einzig eine Beschleunigung der Verfahren notwendig sei. Anregungen für eine Verbesserung des Asylwesens holte sich Bundesrätin Sommaruga im Rahmen eines Arbeitsbesuchs in den Niederlanden im Herbst, wo sie sich die Funktionsweise des niederländischen Systems erklären liess. Die Zusatzbotschaft zur laufenden Asylgesetzesrevision verabschiedete der Bundesrat im September. Die umfassende Revision des Asylgesetzes wurde im November von der Staatspolitischen Kommission des Ständerates begrüsst [21].
Die kleine Kammer befasste sich anschliessend im Dezember als Erstrat mit der Revision des Asylgesetzes. Dabei standen zwei Entwürfe zur Debatte. Einerseits wurde der ursprüngliche Entwurf des Bundesrates von 2010 diskutiert. Andererseits diskutierte der Ständerat über den von der zuständigen Staatspolitischen Kommission des Ständerates (SPK-SR) angepassten Entwurf des Bundesrates, welcher die in der Zusatzbotschaft enthaltenen, weitergehenden Massnahmen zur Beschleunigung des Asylverfahrens einschloss. Die wichtigsten Punkte im abgeänderten Gesetzesentwurf betrafen die Reduktion der Anzahl an Nichteintretensgründen und das Wegfallen von Dienstverweigerung und Desertion als Asylgrund. Des Weiteren sollte durch die Gesetzesrevision die Möglichkeit, auf einer Schweizer Botschaft im Ausland einen Asylantrag zu stellen, abgeschafft werden. Zudem dürften die geplanten Änderungen eine strafrechtliche Sanktionierung von politischen Aktivitäten Asylsuchender erlauben, wenn sie diese ausschliesslich zur Begründung ihrer Flüchtlingseigenschaft einsetzten. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage des Bundesrates an denselben mit dem Auftrag zurückgewiesen, rasch möglichst, respektive wie von Bundesrätin Sommaruga angekündigt bis Ende 2012, eine neue Vorlage zur umfassenden Revision des Gesetzes auszuarbeiten. Bezüglich der zweiten Vorlage, des durch die SPK-SR angepassten Entwurfs sowie der in der Zusatzbotschaft enthaltenen Massnahmen, zögerte eine Ratshälfte mit einem klaren Votum und verabschiedete ihn bei 16 Enthaltungen mit lediglich 14 zu 4 Stimmen. Zusätzlich dazu wurden im Dezember des Berichtsjahres weitere Sofortmassnahmen zur Effizienzsteigerung im Asylwesen vom Ständerat diskutiert und angenommen, so sind dies ein verbesserter Informationsaustausch zwischen dem Bundesamt für Migration und dem Bundesverwaltungsgericht sowie die zur Entlastung des Beschwerdeverfahrens für mittellose Asylbewerber kostenlos zu Verfügung gestellten Rechtsvertreter [22].
Der Nationalrat gab der parlamentarischen Initiative Müller (fdp, AG) Folge, welche bei der Erteilung der Niederlassungsbewilligung eine Gleichstellung für Personen, die ein Asylverfahren durchlaufen haben, gegenüber Personen aus Drittstaaten, die nicht über ein Asylverfahren eingewandert sind, anstrebt. Der Motionär kritisierte, dass Personen im Asylprozess bereits nach fünf Jahren einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Niederlassungsbewilligung haben, die übrigen Personen aus Drittstaaten, die nicht in den Asylbereich fallen, hingegen erst nach zehn Jahren eine Niederlassungsbewilligung erhalten können [23].
Der Nationalrat überwies in der Sommersession ein Postulat Haller (bdp, BE) zur Reisetätigkeit von vorläufig Aufgenommenen. Vorläufig aufgenommene Personen sind solche, die einen negativen Asylentscheid erhalten haben, deren Rückkehr in den Herkunftsstaat aber nicht zumutbar oder unzulässig ist. Diese Personen gelangten bisher meist problemlos zu einer Genehmigung für die Reise ins Heimatland mit anschliessender Rückkehr. Die Motion forderte nun vom Bundesrat, zu überprüfen, ob dies auch in Zukunft möglich sein soll und wie diese Reisetätigkeit eingeschränkt werden könnte, beispielsweise durch eine ausschliessliche Gewährung einer Reise bei besonders wichtigen Gründen [24].
Eine Motion mit gleichem Begehren nahm der Nationalrat in der ausserordentlichen Session zur Zuwanderung und der Migrationspolitik an. Die Motionärin Flückiger-Bäni (svp, AG) forderte eine Neuregelung des Reisebewilligungsverfahrens für Flüchtlinge mit dem Status F, also vorläufig Aufgenommene. Trotz Opposition von mehrheitlich links-grüner Seite wurde die Motion mit 114 zu 68 Stimmen an den Zweitrat überwiesen [25].
Das BFM gab daraufhin im November bekannt, die Reisefreiheit von vorläufig Aufgenommenen wieder einschränken zu wollen. Die Reiseverordnung war erst 2010 angepasst worden und erlaubte vorläufig Aufgenommenen, ein Reisegesuch ohne Angabe von Gründen einzureichen. Es wurden dann allerdings verschiedene Fälle bekannt, in welchen gewisse Personen Ferienreisen in ihr Heimatland unternommen hatten, obwohl der Status der vorläufigen Aufnahme gerade aufgrund einer unzulässigen oder unzumutbaren Wegweisung in dieses Land erfolgte. Zukünftig sollten, wie bereits vor der Anpassung der Verordnung, Reisen nur noch aufgrund dringender Angelegenheiten, familiärer Notlagen oder zwecks Ausbildung unternommen werden dürfen [26].
Zudem überwies der Nationalrat in dieser ausserordentlichen Session eine Motion der CVP/EVP/glp-Fraktion zur effektiveren Bekämpfung der Ausländerkriminalität. Das Begehren umfasste insgesamt acht Forderungen zur Anpassung des Asylgesetzes und bezog sich auch auf die Zusammenarbeit zwischen Kantonen und dem Bund. So sollen erstere die Kosten für sämtliche Inhaftierungsfälle vom Bund erstattet erhalten – also sowohl für die Vorbereitungs-, Durchsetzungs- und Ausschaffungshaft als auch für Haftfälle im Dublin-Bereich. Im Gegensatz dazu soll der kantonale Vollzug vereinheitlicht und durch den Bund verstärkt kontrolliert werden. Ebenfalls enthielt die Motion die Forderungen nach verkürzten Rekursverfahren im Asylprozess, verstärkten Personalkontrollen im Grenzbereich und der Förderung des Haftvollzugs im Herkunftsstaat. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung, insbesondere könnten die Probleme im Vollzugsbereich nicht durch eine Erhöhung der Fallpauschalen durch den Bund gelöst werden. Der Nationalrat nahm die Motion dennoch mit 97 zu 85 Stimmen an. Nebst der für die Motion verantwortlichen Fraktion stimmten die BDP- und die SVP-Fraktion sowie einige FDP-Nationalräte dem Anliegen zu [27].
Vom Nationalrat ebenfalls diskutiert wurde im Herbst die Motion Müller (fdp, AG) mit der Forderung nach einer schnelleren Umsetzung der Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich. Konkret forderte der Motionär vom Bundesrat einen Vernehmlassungsentwurf für die Neustrukturierung des Asylwesens bis im Herbst des Berichtsjahres. Trotz dieser offensichtlich unmöglichen Forderung – der geforderte Zeitpunkt für den bundesrätlichen Bericht ging mit demjenigen der Debatte im Erstrat einher – nahm der Nationalrat die Vorlage mit 112 zu 68 Stimmen an [28].
Im Dezember votierte der Ständerat für ein Postulat Schwaller (cvp, FR) mit der Forderung nach einer bundesrätlichen Analyse, ob ein spezielles Verfahrensrecht im Asylbereich einzurichten sei. Hintergrund des Begehrens war die zähe Behandlung von Asylgesuchen, die vor allem durch die langandauernden Verfahren vor den Beschwerdeinstanzen geprägt sind. Der durch das Postulat zu erstellende Bericht soll insbesondere abklären, ob ein spezielles Verfahrensrecht die Beschwerdefristen unter Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze verkürzen könnte. Der Bundesrat empfahl die Annahme des Postulats, da dieser Bericht im Rahmen des Ende 2012 stattfindenden Vernehmlassungsverfahrens über die Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich behandelt werden könne [29].
 
[21] Presse vom 10.5.11; BZ, 3.8.11; NZZ, 24.9., 9.11. und 26.11.11.
[22] BRG 10.052: BBl, 2010, S. 4455 ff.; BBl, 2011, S. 7325 ff.; TA und NZZ, 13.12.11; vgl. SPJ 2010, S. 263 f.
[23] Pa.Iv. 10.484: AB NR, 2011, S. 1335 f.
[24] Po. 11.3047: AB NR, 2011, S. 1267.
[25] Mo. 11.3383: AB NR, 2011, S. 1735.
[26] SoS, 19.11.11.
[27] Mo. 10.3066: AB NR, 2011, S. 1725.
[28] Mo. 11.3732: AB NR, 2011, S. 1738.
[29] Po. 11.3928: AB SR, 2011, S. 1135 f.