Année politique Suisse 2011 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlingspolitik
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Vollzug
Aufgrund der politischen Unruhen wurden zu Jahresbeginn die Rückschaffungen von abgewiesenen Asylbewerbern in die Elfenbeinküste vorläufig ausgesetzt. Ebenfalls im Januar wurde die Rückschaffung von Asylsuchenden nach Griechenland nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vorläufig eingestellt. Der EGMR kam zum Schluss, dass die Behandlung der Asylsuchenden in den griechischen Lagern menschenunwürdig sei. Somit muss die Schweiz zukünftig Gesuche, für die laut Dublin-Vertragswerk Griechenland zuständig wäre, selbst prüfen. Das Bundesverwaltungsgericht untersagte im Juni in einem Urteil zudem die Rückschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden in weiteste Teile Afghanistans aufgrund der humanitären Lage vor Ort. Konkret gewährte das Gericht einem jungen Afghanen die vorläufige Aufnahme in der Schweiz. Gestattet bleiben unter gewissen Umständen einzig Rückführungen nach Kabul [30].
Die Rückschaffungen nach Nigeria wurden hingegen im Januar nach einer zehnmonatigen Pause erstmals wieder aufgenommen. Sie waren im Frühling des Vorjahres eingestellt worden, nachdem ein Mann bei einem Ausschaffungsflug verstorben war – wie sich später herausstellte aufgrund einer Herzkrankheit. Im Februar wurde beim Besuch des nigerianischen Aussenministers in Bern die im Herbst 2010 abgeschlossene Migrationspartnerschaft zwischen der Schweiz und Nigeria unterzeichnet [31].
Verschärft wurde die Praxis gegenüber Personen im Asylprozess aus Sri Lanka. Abgewiesene Asylbewerber sollten nicht mehr vorläufig aufgenommen, sondern nach Sri Lanka zurückgeschafft werden können, da sich nach Ansicht des Bundesamts für Migration (BFM) die Lage dort entspannt hatte. Von dieser Praxisänderung ausgenommen waren Tamilen aus bestimmten Gegenden des Landes, welche früher strikt von den Tamil Tigers kontrolliert worden waren [32].
Aufgrund der grossen Anzahl an Asylbewerbern und den Kapazitätsengpässen in den bestehenden Empfangszentren des Bundes beschloss das BFM im April, in Basel, Kreuzlingen und im Tessin drei weitere Aufnahmezentren zu eröffnen [33].
Die Wirksamkeit der Schweizerischen Rückkehrhilfe ist Gegenstand eines Berichtes, welchen der Bundesrat aufgrund eines vom Nationalrat in der Sommersession überwiesenen Postulates Müller (fdp, AG) zu erstellen hat. Dabei sollen unter anderem die Kosten nach Herkunftsstaaten sowie im internationalen Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit ähnlichen Programmen dargestellt werden. Ebenfalls sollen die Anreizstrukturen des Programms, sowohl zur Einwanderung als auch zum tatsächlichen Verlassen der Schweiz, beleuchtet werden [34].
Die Zunahme der Asylgesuche aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens war Gegenstand des vom Nationalrat überwiesenen Postulats Hiltpold (fdp, GE). Dieses fordert vom Bundesrat einen Bericht über die Anzahl der Personen nordafrikanischer Herkunft, die in die Schweiz eingewandert sind, ihre Verteilung auf die Kantone sowie die verursachten Kosten im Asylbereich. Ebenfalls soll die Landesregierung darlegen, wie diese Menschen möglichst rasch in ihr Herkunftsland zurückkehren können und in Verbindung damit solle das zuständige Departement auch eine Evaluation der Rückkehr- und Hilfsprogramme der Schweiz vor Ort in Nordafrika vornehmen [35].
Ebenfalls von Nationalrat Hiltpold (fdp, GE) stammte eine Motion zum Bürokratieabbau im Asylbereich. Nach Vorbild des niederländischen Asylwesens sollen das Bundesamt für Migration (BFM) und das Asylverfahren so reorganisiert werden, dass die Befragungen zur Person des Asylsuchenden und zu seinen Asylgründen zusammengelegt und diese von einem Sachbearbeiter durchgeführt werden können. Der Bundesrat verwies auf die laufende Revision des Asylgesetzes und begrüsste den Vorschlag des Motionärs. Der Nationalrat nahm die Motion in der Wintersession an. Das Geschäft ist per Ende des Berichtjahres zur Beratung im Ständerat pendent [36].
Sowohl das EJPD als auch das VBS gerieten im Berichtsjahr unter Druck, da es den beiden Departementen nicht gelang, genügend vom Bund geführte Plätze für Asylbewerber zu schaffen. Das Bundesamt für Migration hatte im Frühjahr erklärt, bis Ende des Berichtsjahres zusätzliche Asylunterkünfte für 2 000 Asylsuchende zu eröffnen, währenddessen das VBS im Frühling 1 000 Plätze in Armeeunterkünften bereitzustellen versprach. Bis im Herbst konnte lediglich je eine Unterkunft vorgewiesen werden. Die auch in der Öffentlichkeit und den Medien thematisierten Unterbringungsschwierigkeiten der vielen Asylsuchenden war Inhalt einer von Nationalrat Müller (fdp, AG) eingereichten und in der Wintersession von der grossen Kammer überwiesenen Motion. Er forderte darin eine engere Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure und Bundesstellen, darunter das EJPD, das VBS und die Kantone, und eine rasche Behebung der bestehenden Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeiten und technischen Fragen wie dem Bewilligungsverfahren für Unterkünfte. Der Bundesrat sprach sich aufgrund der bestehenden Probleme im Asylbereich ebenfalls für die Annahme der Motion aus [37].
Der Nutzen und die Nachteile der Aufenthaltskategorie der vorläufigen Aufnahme und die Möglichkeiten der Beschränkung der Erteilung dieses Status sollten in einem Bericht des Bundesrats evaluiert werden. Dies fordert ein Postulat Hodgers (gp, GE), welches der Nationalrat im Winter diskutierte. Während die vorläufige Aufnahme für die betroffenen Personen im Asylbereich – pro Jahr erhalten rund 20 000 Personen diesen Status zugesprochen – eine grosse Unsicherheit bezüglich ihres Verbleibs in der Schweiz darstelle, sei diese für die Kantone und den Bund mit einem erheblichen administrativen Aufwand verbunden. Sowohl der Bundesrat als auch der Nationalrat sprachen sich für dieses Begehren aus, welches damit überwiesen wurde [38].
Im Berichtsjahr unterzeichnete die Schweiz Rückübernahmeabkommen mit Montenegro und Dänemark sowie ein Migrationsabkommen mit Guinea. Erstere schreiben die Rückübernahme von Staatsangehörigen und Angehörigen von Drittstaaten unter gewissen Bedingungen vor, während letzteres die Migrationsflüsse zwischen den beiden Staaten im breiteren Sinn regelt [39].
Im Rahmen der ausserordentlichen Session zur Zuwanderung und dem Asylwesen nahm der Nationalrat eine von der SVP-Fraktion eingereichte Motion zur Kopplung der Entwicklungshilfe an die Kooperation der Empfängerstaaten im Asylbereich an [40].
An den Zweitrat überwiesen wurde vom Nationalrat eine Motion der FDP-Liberalen-Fraktion zur Kopplung der Finanzhilfe für Nordafrika an die Kooperation der betreffenden Staaten bei der Rückübernahme von abgewiesenen Asylsuchenden. Detaillierter erläutert sind beide Begehren in Teil I, Kapitel 2 (Entwicklungsländer) [41].
Zudem hiess der Nationalrat eine Motion Müller (fdp, AG) gut, welche vom Bund die Schaffung rechtlicher Grundlagen forderte, so dass Asylsuchende, die aufgrund des Dublin-Vertrags in einem anderen Staat einen Anspruch auf ein Asylverfahren haben, direkt von den Empfangszentren des Bundes in den betreffenden Staat zurückgeführt werden könnten. Ausführlicher behandeln wir diesen Vorstoss in Teil I, Kapitel 2 (Schengen/Dublin) [42].
 
[30] NZZ, 5.1.11 (Elfenbeinküste); TA, 27.1.11; 24H, 27.1.11 (Griechenland); LT, 24.3.11 (Afghanistan).
[31] NZZ, 21.1.11; Medienmitteilung BFM vom 14.2.11; vgl. SPJ 2010, S. 264.
[32] SN, 27.1.11.
[33] NZZ, 21.4.11.
[34] Po. 11.3062: AB NR, 2011, S. 1267.
[35] Po. 11.3689: AB NR, 2011, S. 1737.
[36] Mo. 11.3809: AB NR, 2011, S. 2264.
[37] Mo. 11.3868: AB NR, 2011, S. 2264; SoS, 8.11.11; NLZ, 24.11.11; Presse vom 1.12.11.
[38] Po. 11.3954: AB NR, 2011, S. 2266.
[39] Medienmitteilungen BFM vom 4.3. (Montenegro), 23.6. (Dänemark) und 14.10.11 (Guinea).
[40] Mo. 10.3558: AB NR, 2011, S. 1729.
[41] Mo. 11.3510: AB NR, 2011, S. 1736.
[42] Mo. 10.3174: AB NR, 2011, S. 1726.