Année politique Suisse 2011 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Kinder- und Jugendpolitik
Im Frühling begann der Ständerat die Diskussion des Entwurfes zu einer Totalrevision des Kinder- und Jugendförderungsgesetz (KJFG), welchen der Bundesrat im September 2010 präsentiert hatte. Durch diese Totalrevision soll den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten besser Rechnung getragen werden. Über das Gesamtanliegen war sich die kleine Kammer einig und dieses wurde einstimmig befürwortet – allerdings mit Änderungen am Entwurf des Bundesrates. Bei der ausführlichen Grundsatzdebatte im Ständerat zeigte sich, dass die parlamentarischen Interessenvertreter der grossen Jugendverbände – die Ständeräte Janiak (sp, BL), Marty (fdp, TI) und Schwaller (cvp, FR) – um die finanzielle Unterstützung von Pfadi, Jungwacht, Blauring und Cevi fürchteten. Ihre Einzelanträge für eine Besserstellung dieser Vereine waren dennoch chancenlos. Bei den Beratungen im Nationalrat forderte eine Minderheit Müri (svp, LU) Nichteintreten, mit der Begründung dass die Kinder- und Jugendförderung eine kommunale und kantonale Aufgabe sei. Die Mehrheit folgte dieser Argumentation nicht und beschloss mit 95 zu 37 Stimmen Eintreten. Ein Minderheitenantrag Prelicz-Huber (gp, ZH), welcher die Festsetzung der Altersgrenze für die Adressaten des Gesetzes von 25 auf 30 Jahre erhöhen wollte, wurde abgelehnt. Einzig der Minderheitsantrag Häberli-Koller (cvp, TG), der die Bedingung im Gesetz streichen wollte, dass Jugendaustauschorganisationen nur noch finanzielle Unterstützung erhalten können, wenn sie mindestens 50 solche Austausche pro Jahr realisieren, erhielt ausreichend Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager. Der Ständerat hielt bei der Differenzbereinigung in der Herbstsession jedoch an seiner anfänglichen Einschätzung fest und lehnte es aus Effizienzgründen ab, auch sehr kleine Austauschorganisationen, für die 50 Austausche nicht möglich sind, finanziell zu unterstützen. Der Nationalrat hielt anschliessend nicht an seinem Einwand fest und stimmte dem Gesetzesentwurf des Ständerats ebenfalls diskussionslos zu. Das neue Kinder- und Jugendförderungsgesetz wurde in der Schlussabstimmung im Ständerat einstimmig, im Nationalrat mit 141 zu 53 Stimmen angenommen. Mit dem Gesetz nicht einverstanden war bis zum Schluss die SVP [84].
Die Behandlungsfrist der parlamentarischen Initiative Amherd (cvp, VS), die eine Verfassungsgrundlage für das Bundesgesetz über die Kinder- und Jugendförderung sowie für den Kinder- und Jugendschutz forderte, wurde im Frühling vom Nationalrat bis 2013 verlängert [85].
Im April wurde die vom Verein Marche Blanche lancierte Volksinitiative „Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen“ bei der Bundeskanzlei eingereicht. Sie wird in Teil I, Kapitel 1b (Sexuelle Straftaten an Kindern) behandelt [86].
Zur Bekämpfung von Jugendgewalt haben Akteure der drei föderalen Ebenen sowie der Städte im April ein gemeinsames Präventionsprogramm „Jugend und Gewalt“ gestartet. Es soll unter anderem die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch der verschiedenen Akteure vertiefen und dadurch einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Jugendgewalt leisten. Das Programm ist Teil der Gesamtstrategie des Bundes im Kinder- und Jugendbereich; die Leitung des Präventionsprogramms obliegt dem Bundesamt für Sozialversicherungen [87].
Der Ständerat debattierte als Zweitrat im Juni ein Anliegen von Nationalrätin Amherd (cvp, VS) – die Motion mit der Forderung nach der Unterzeichnung des Europaratsübereinkommens zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch. Zudem sollen Freier, welche Dienstleistungen von minderjährigen Prostituierten in Anspruch nehmen, bestraft werden können. Die Motion soll damit der Eindämmung der Kinderprostitution dienen. Neben dem Nationalrat 2010 befürworteten auch der Bundesrat, die Polizei und die Kantone die Motion. Der Ständerat schloss sich dieser Haltung an und überwies die Motion an den Bundesrat. Die kleine Kammer verzichtete darauf, zwei Standesinitiativen aus Genf und Wallis Folge zu geben, die durch die Überweisung der Motion gegenstandslos geworden waren [88].
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement eröffnete das Vernehmlassungsverfahren zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention) [89].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Fiala (fdp, ZH), welches auf die finanzielle Gefährdung des telefonischen Jugendberatungsangebots der Pro Juventute hinweist. Nationalrätin Fiala fordert damit den Bundesrat auf, abzuklären, ob die fehlenden Gelder durch das Bundesbudget gedeckt werden könnten und inwiefern eine finanzielle Zusammenarbeit der Organisation mit dem Bund und den Kantonen sinnvoll wäre. Bekämpft wurde das Anliegen vonseiten der SVP, aus deren Fraktion 54 der insgesamt 60 Gegenstimmen stammten. Das mit diesem Geschäft verwandte, von Schmid-Federer (cvp, ZH) eingereichte Postulat mit dem Titel „Pro Juventute. Beratung und Hilfe 147“ stand am selben Tag ebenfalls zur Debatte. Es fordert ebenfalls die Prüfung von zusätzlichen Unterstützungsleistungen durch den Bund für das Beratungsangebot der betroffenen Organisation. Wie bereits Nationalrätin Fiala rief die Verfasserin des Postulats den Bundesrat zu einer tripartiten Kooperation auf, um Pro Juventute langfristig zu fördern. Mit den beinahe identischen Mehrheitsverhältnissen wurde auch das Postulat Schmid-Federer an den Bundesrat überwiesen [90].
 
[84] BRG 10.087: AB SR, 2011, S. 170 ff., 753 und 1037; AB NR, 2011, S. 1232 ff., 1671 und 1868; NLZ, 10.3.11.
[85] Pa.Iv. 07.402: AB NR, 2011, S. 526 f.; vgl. SPJ 2009, S. 241.
[86] BBl, 2011, S. 4435; BZ, 21.4.11.
[87] Medienmitteilung BSV vom 5.4.11.
[88] Mo. 10.3143 (Amherd), Kt.Iv. 10.311 (Genf), Kt.Iv. 10.320 (Wallis): AB SR, 2011, S. 486; vgl. SPJ 2010, S. 269.
[89] BBl, 2011, S. 6553; vgl. dazu auch oben, Teil I, 2 (Europarat).
[90] Po. 10.3994 (Fiala), Po. 10.4018 (Schmid-Federer): AB NR, 2011, S. 1262.