Année politique Suisse 2011 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Grundschulen
Die beiden Räte führten im Berichtsjahr ihren verfassungsrechtlich begründeten Streit über die Regelung des Sportunterrichts auf der Grundschulstufe im Rahmen des Sportförderungsgesetzes fort (vgl. auch Teil I, 7b, Sport). Beide Räte beharrten dabei auf ihren bereits 2010 eingenommenen Positionen, der Nationalrat auf der Vorschrift einer Mindestzahl von drei Sportlektionen (abgeleitet von der Bundeskompetenz gemäss Art. 68 BV). Der Ständerat stellte sich, abgeleitet von einer kantonalen Kompetenz gemäss Art. 62 BV, dagegen. Damit gelangte das Geschäft im Sommer in die Einigungskonferenz, die den rivalisierenden Kammern empfahl, die Version des Nationalrats zu übernehmen. Dieser stimmten schliesslich beide Räte zu. In der Schlussabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage einstimmig (sechs Enthaltungen), der Nationalrat mit sechs Gegenstimmen aus dem bürgerlichen Lager an [13].
Im vorangehenden Jahr hatte der Nationalrat die Volksinitiative „Jugend und Musik“ in Abweichung zum Bundesrat den Bürgerinnen und Bürger zur Annahme empfohlen. Der Ständerat beschäftigte sich im März des Berichtsjahrs mit dem Geschäft. Aufgrund von verfassungsrechtlichen Bedenken (kantonale Bildungshoheit im Volksschulbereich) empfahl die WBK-SR die Initiative zur Ablehnung, stellte jedoch einen Gegenvorschlag zur Diskussion. Demnach sollte der schulische Musikunterricht in kantonaler Kompetenz verbleiben. Das Musikschulwesen hingegen sollte einer engeren Begleitung durch den Bund unterstellt werden. Mit 25 zu neun Stimmen (bei sechs Enthaltungen) stimmte der Rat dem Gegenentwurf zu. Knapp, mit 15 zu 19 Stimmen unterlag ein Minderheitsantrag Savary/Fetz (sp, VD/BS), der Volk und Ständen sowohl Initiative als auch Gegenentwurf zur Annahme empfehlen wollte, mit Präferenz für den Gegenentwurf in der Stichfrage. Da sich eine längere als die den Räten für die Behandlung von Volksinitiativen erlaubte Behandlungsfrist abzeichnete, stimmte die Kleine Kammer gleichzeitig einer entsprechenden Fristverlängerung zu, der sich der Nationalrat in der Sommersession anschloss. In der verkürzten Vernehmlassung zum ständerätlichen Gegenentwurf äusserten sich 20 Kantone positiv. Den Initianten ging dieser jedoch zu wenig weit. Sie stiessen sich insbesondere an der Ausklammerung jeglicher Bundeskompetenz im Schulbereich und am Fallenlassen der Talentförderung. Gestützt auf die Vorbehalte der Initiantinnen und Initianten präsentierte die WBK-NR ihrem Plenum in der Folge eine abgeänderte Fassung des ständerätlichen Gegenvorschlags, welche die musikalische Bildung zur gemeinsamen Aufgabe von Bund und Kantonen erklärte. Demnach sollte der Bund unter Mitwirkung der Kantone Grundsätze für den schulischen sowie den ausserschulischen Musikunterricht und die Begabtenförderung festlegen. Der Rat schloss sich dem Kommissionsantrag deutlich an. Zudem vermochte sich eine Minderheit Aubert/Jositsch (sp, VD/ZH) durchzusetzen, die eine Annahme sowohl der Initiative als auch des Gegenentwurfs mit Präferenz für letzteren empfahl. Die Differenzbereinigung ist für die Frühjahrssession 2012 geplant [14].
Lehrerlöhne, Lehrerbildung und Lehrermangel waren im Berichtsjahr Dauerthema im öffentlichen Diskurs. Aufgrund der grossen kantonalen Unterschiede bei den Einstiegslöhnen befürchteten finanzschwächere Kantone, dass sich der Lehrermangel durch Abwanderung von Lehrpersonen in lohngünstigere Kantone verschärfen würde. Zur Rekrutierung von Quereinsteigern als unmittelbare Massnahme gegen den Lehrermangel forderten die SVP und die CVP eine praxisorientierte, verkürzte Lehrerausbildung. Im Spätsommer des Berichtsjahrs starteten an den Pädagogischen Hochschulen (PH) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), an der PH Zürich sowie an der PH Bern die ersten Jahrgänge mit der berufsbegleitenden Ausbildung. Als gängige Diplome anerkannt werden je nach Zielschulstufe eine abgeschlossene Berufslehre, die Fach-, die Berufs- oder die allgemeinbildende Matur, wahlweise mit Nachweis einer mehrjährigen Berufserfahrung. Je nach PH bestehen noch weitere Aufnahmebedingungen. Die beteiligten Kantone (FHNW: BS, BL, SO, AG; BE und ZH) akzeptieren die Abschlüsse gegenseitig. Angestrebt wird auch die gesamtschweizerische Anerkennung durch die EDK. Diese gab im September des Berichtsjahrs Vorschläge für eine Weiterentwicklung des Diplomanerkennungsrechts in Anhörung [15].
Nachdem der Ständerat der Motion Schweiger (fdp, ZG) gegen den Willen des Bundesrats noch zugestimmt und die Verankerung eines sogenannten Medienführerscheins im Lehrplan 21 anvisiert hatte, lehnte der Nationalrat die Motion in der Frühlingssession des Berichtsjahrs ab. Details siehe Teil I, 8c (Neue Medien).
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Schulreformen und -modelle
Im Januar 2011 trat die Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik in Kraft, der sich bis dahin 12 Kantone angeschlossen hatten. Gemäss einer Umfrage des Schulleiterverbands bei rund 400 Schulen gestaltete sich die Umsetzung und Handhabung der verlangten kantonalen Sonderpädagogikkonzepte äusserst heterogen. So seien insbesondere die diagnostischen Zuweisungskriterien (Lernende mit geringem und solche mit erhöhtem Förderbedarf), die letztlich über eine integrative Schulung mit Fördermassnahmen in der Regelklasse oder eine integrative Sonderschulung entscheiden, unklar definiert. Druck auf das integrative Modell übten zudem der Mangel an geeigneten Fachlehrpersonen (Heilpädagogen) sowie die Ressourcenknappheit und die steigende Nachfrage nach sonderpädagogischen Massnahmen aus [16].
In den Plänen zur Verankerung eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts im Lehrplan 21 sah die SVP eine weitere Möglichkeit, ihre Grundsatzkritik am heutigen (Grund-)schulwesen anzubringen. Die polemische Verknüpfung der geplanten Sexualkunde im Lehrplan 21 mit dem als Auslegeordnung gedachten „Grundlagenpapier Sexualpädagogik und Schule“, das die Pädagogische Hochschule Zentralschweiz im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verfasst hatte, führte im Berichtsjahr zu einer heftig ausgetragenen öffentlichen Kontroverse. Kantonal organisierte Elternorganisationen, denen sich auch kritische Lehrer anschlossen, vertraten die Meinung, dass Aufklärung als Aufgabe des Elternhauses nicht in den Grundschulunterricht gehört. Im Juni sah sich die EDK gezwungen klarzustellen, dass im Lehrplan 21 für die Kindergartenstufe kein Sexualkundeunterricht vorgesehen sei, wie dies von den Kritikern behauptet werde. Im Sommer des Berichtsjahrs lancierte ein überparteiliches, von SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer (ZH) koordiniertes Komitee eine an die EDK und alle kantonalen Erziehungsdirektoren gerichtete Petition gegen die befürchtete „Sexualisierung der Volksschule“. Anfang Oktober wurde sie mit rund 92 000 Unterschriften der EDK übergeben [17].
In konkreter Ableitung der nationalen Bildungsziele (siehe oben) genehmigte die Plenarversammlung der EDK mit grossem Mehr vier einheitliche, ab 2014 landesweit geltende Lernziele. Als zentraler Teil des HarmoS-Konkordats legen sie die Grundkompetenzen fest, die auf Ende des 4., 8. und 11. Schuljahrs in der Erstsprache, in Mathematik, den Naturwissenschaften sowie der ersten Fremdsprache zu erreichen sind. Diese werden als Zielvorgaben in die bestehenden (Westschweiz) oder geplanten (Deutschschweiz, Tessin) sprachregionalen Lehrpläne einfliessen und sollen in erster Linie der Bildungsevaluation und damit der Qualitätssicherung im gesamtschweizerischen Bildungsraum dienen [18].
 
[13] BRG 09.082: BBl 2011, S. 4893; AB SR, 2011, S. 243, 366 f., 491 f., 706; AB NR, 2011, S. 126 ff.,736 f., 909 f., 1287; NZZ, 14.1. und 4.3.11; NLZ, 15.4.11, SGT, 8.6.11; QJ, 9.6.11; SPJ 2010, S. 275.
[14] BRG 09.095: BBl, 2011, S. 1 ff., 21 (Entwurf); AB SR, 2011, S. 158 ff., 167 ff.; AB NR, 2011, S. 1082; NZZ, 28.1., 23.2. und 10.3.11; AZ, 5.2., 9.3. und 25.3.11; SGT, 21.2.11; SoS, 25.3.11; SPJ 2010, S. 276.
[15] SN, 15.2.11; TA, 21.2. und 20.5.11; LT, 2.5.11, NLZ, 31.10.11 (Lohnfrage); Medienmitteilung EDK vom 15.9.11; SoZ, 22.5. und 7.8.11; BaZ, 11.6.11; SN, 15.7.11; TA, 22.8.11, NZZ, 16.9.11 (Quereinsteigerausbildung); SPJ 2010, S. 276.
[16] NZZ, 17.3. und 20.7.11; SPJ 2010, S. 277 f.
[17] So-Bli, 22.5.11, Presse vom 18.6.11, WW, 23.6.11, SGT, 12.7.11, NZZ, 30.8.1, NLZ, 5.10.11, BZ, 15.11.11.
[18] Medienmitteilung EDK vom 4.7.11; Presse vom 5.7.11, BaZ, 6.8.11; SPJ 2006, S. 230, SPJ 2010, S. 277.