Année politique Suisse 2011 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Forschung
Das Bundesgesetz über die Forschung am Menschen (Humanforschungsgesetz, HFG), das bereits seit 2009 im Entwurf vorlag, wurde im Berichtsjahr von beiden Kammern durchberaten und verabschiedet. Im HFG wurden bereits vorhandene Elemente der Bundesregulierung (z.B. Transplantations- und Heilmittelgesetz) und der kantonalen Gesetzgebung zusammengezogen und vereinheitlicht. Dabei wollten es der Bundesrat und die vorbereitenden Gremien primär als Gesetz zum Schutz des Menschen in der Forschung und erst sekundär als Fördergesetz für den angesprochenen Forschungsbereich verstanden wissen. Gegen den Wunsch der Patientenorganisationen waren die Heilversuche (nicht-anerkannte bzw. standardisierte ärztliche Therapien, oft zur Behandlung unheilbarer Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium) aus der Vorlage ausgeklammert worden. Da die Räte sich dennoch über einen allfälligen Regulierungsbedarf im Bereich der Heilversuche informiert wissen wollten, lancierte die WBK-NR eine entsprechende Motion, die zusammen mit dem Gesetzesentwurf beraten und diskussionslos angenommen wurde.
Inhaltlich verfolgt das Gesetz vier Ziele: Die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts potenzieller Versuchspersonen, die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Forschung am Menschen im internationalen Wettbewerb, den adäquaten Umgang mit bereits vorhandenem biologischem Material und entsprechenden Daten sowie die Verankerung einer Melde- bzw. Registrierungspflicht von Projekten im Bereich der Humanforschung. Als Regulierungsbehörde sind die bereits bestehenden kantonalen Ethikkommissionen vorgesehen, für die im Gesetz gemeinsame Beurteilungsgrundsätze festgehalten werden. In der Eintretensdebatte wurde vor allem auf den Interessenkonflikt zwischen den beiden Rechtsgütern Menschenwürde (Selbstbestimmungsrecht) und Forschungsfreiheit (internationale Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsplatzes Schweiz) hingewiesen, den es mit dem Humanforschungsgesetz zu entschärfen gelte. Bundesrat, links-grüne Sprecherinnen und Sprecher sowie die CVP gewichteten dabei die Interessen bzw. den Schutz des Einzelnen höher als jene der Wissenschaft und der Gesellschaft. Insbesondere bürgerliche Ratsmitglieder erwarteten vom Gesetz hingegen die Verankerung von möglichst guten Rahmenbedingungen für die in internationalem Wettbewerb stehende Humanforschung. Beide Räte traten ohne Gegenantrag, der Nationalrat als erster, auf die Vorlage ein [37].
Auf Antrag der Nationalratskommission stimmte die Grosse, später auch die Kleine Kammer einer Regelung zum Einsatz von Placebos zu, die im Bundesratsentwurf fehlte. Zudem entschied der Erstrat, auch Urteilsunfähige in das Einwilligungsverfahren einzubeziehen, worin der Ständerat wiederum keine sachliche Relevanz sah. In der Differenzbereinigung beharrte der Nationalrat auf seiner Position, worauf sich der Ständerat ihm anschloss. Knapp, mit Stichentscheid des Ratspräsidenten entschied der Nationalrat die Streichung eines umstrittenen Passus in der Sicherstellungsklausel, der den Schutz von Personen vorsah, denen eine Versicherung aufgrund des Versicherungsvertragsrechts den Versicherungsschutz verweigern könnte. Auf Antrag der Kommission anerkannte die Grosse Kammer abweichend vom Bundesrat zudem den Tatbestand der Unangemessenheit und akzeptierte letztere als Grund für eine allfällige Rüge. Allerdings gab er in der Differenzbereinigung nach und schwenkte auf die vom Ständerat gestützte Bundesratsversion um, welche die Unangemessenheit als Rügegrund ausklammerte. Um die Bewilligungsverfahren der kantonalen Ethikkommissionen möglichst kurz zu halten, setzte der Nationalrat ihnen eine Behandlungsfrist von zwei Monaten für normale Gesuche. Gleichzeitig erteilte er dem Bundesrat die Kompetenz, bei dringendem Handlungsbedarf kürzere Bearbeitungszeiten zu veranlassen. Nach anfänglicher Ablehnung akzeptiere der Ständerat im Rahmen der Differenzbereinigung die Fristen. Für die Idee seiner WBK, die Arbeit der kantonalen Ethikkommissionen durch Ombudsstellen begleiten zu lassen, vermochten sich weder die WBK-NR noch der Nationalrat erwärmen. In Bezug auf die Bestimmungen zur Registrierungspflicht für Humanforschungsvorhaben, die sich an internationalen Standards orientiert, beschloss der Ständerat den Begriff „Forschungsprojekte“ durch „klinische Studien“ zu ersetzen und letzeres in den Begriffsdefinitionen des Gesetzes zu verankern. Der Nationalrat übernahm die Idee, wählte aber anstellte der „klinischen Studien“ den gängigeren „klinischen Versuch“, womit die Kleine Kammer leben konnte. Ohne Opposition akzeptierten beide Räten die Änderungen im bisherigen Recht (Bundesgesetz über den Datenschutz, Transplantationsgesetz, Stammzellenforschungsgesetz, Heilmittelgesetz). In der Herbstsession nahmen sie die Vorlage deutlich an [38].
Zeitgleich mit der Bereinigung des HFG und kurz vor der Verabschiedung der Botschaft für eine Totalrevision des Bundesgesetzes über die Förderung der Forschung und Innovation (FIFG), lancierte die abtretende Ständerätin Forster (fdp, SG) eine Motion, die bis zum Sommer 2012 vom Bundesrat einen Masterplan im Bereich der biomedizinischen und pharmazeutischen Forschung und Produktion forderte. Dabei soll der Bundesrat unter anderem aufzeigen, wie sich insbesondere die Bewilligungsverfahren beschleunigen lassen, wie der Schutz des geistigen Eigentums (Patentschutz) verbessert werden kann und wie sich der Produktionsstandort Schweiz im internationalen Standortwettbewerb, allenfalls mit steuerlichen Massnahmen, stärken lässt. In Anbetracht der abgeschlossenen und laufenden Revisionen zum Thema beantragte der Bundesrat Annahme der Motion. Felix Gutzwiller (fdp, ZH) übernahm sie in der neuen Legislatur. In der Dezembersession wurde sie von der Kleinen Kammer angenommen [39].
Der Ständerat lehnte im September des Berichtsjahrs eine Motion Hurter (svp, SH), die den Forschungs- und Entwicklungsstandort Schweiz mit Hilfe von Steuererleichterungen zu stärken suchte, mit 20 zu neun Stimmen ab. Als Erstrat hatte ihr der Nationalrat anlässlich der Sondersession zur Unternehmenssteuerreform (UStR) II im Frühling noch zugestimmt. Die angestrebten Steuerrabatte hätten einerseits in die Unternehmenssteuerreform III, andererseits in das Steuerharmonisierungsgesetz eingebaut werden sollen. Details siehe Teil I, 6a (Energie) [40].
Eine Motion Favre (fdp, NE) und ein Postulat Chopard-Acklin (sp, AG) sprachen die Forschungsförderung an. Beide Vorstösse, die 2010 aus SVP-Kreisen bekämpft worden waren, kamen im Berichtsjahr erneut in die Räte. Die Motion Favre verlangte die Mitfinanzierung der Forschung im Bereich der erneuerbaren Energien über Entnahmen von fünf bis zehn Prozent aus dem Fonds der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV). Der Bundesrat liess errechnen, dass der angewandten Forschung dadurch jährlich zwischen 17 und 35 Mio. CHF, ab 2013 (höhere Zuschlagslimite pro kW/h) der doppelte Betrag zur Verfügung stehen würde. Mit dem Hinweis, dass eine gangbare Lösung die Zweckbindung der KEV berücksichtigen müsste, beantragte er Annahme der Motion. Diskussionslos nahmen beide Räte diese gegen den beinahe geschlossenen Widerstand der SVP an. Das Postulat Chopard-Acklin (sp, AG) zielte auf eine verbesserte Abstimmung der allgemeinen Forschungsaktivitäten mit den Bedürfnissen der Fotovoltaik-Industrie. Der Bundesrat versprach eine Erörterung der mit dem Postulat aufgeworfenen Fragen im Rahmen des Masterplans Cleantech. Während die SVP in der Beurteilung des Vorstosses gespalten war – knapp ein Drittel stimmte dafür – unterstützten ihn die restlichen Parteien praktisch geschlossen [41].
Im November unterbreitete der Bundesrat den Räten die Botschaft zur Totalrevision des Forschungs- und Innovationsförderungsgesetzes (FIFG). Verfassungsrechtlich verankert in Art. 64 Abs. 1 BV, befasst es sich materiell mit den Hoheitsaufgaben des Bundes in der Forschungs- und Innovationsförderung. Als schlankes Rahmengesetz soll es auf das HFKG abgestimmt werden [42].
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Forschungsprogramme und -gelder
Anfang des Berichtsjahrs nahm die Kommission für Technologie und Innovation (KTI) ihre Funktion als verwaltungsunabhängige, entscheidungsfähige Behördenkommission auf. Für ihre reguläre Fördertätigkeit zugunsten der anwendungsorientierten Forschung setzte die KTI insgesamt 110,8 Mio. CHF ein. Dazu vergab sie im Rahmen der flankierenden Massnahmen gegen den starken Franken zwischen Oktober und Dezember weitere 114,5 Mio. CHF an Projektkrediten. Bei ihrer regulären Fördertätigkeit beurteilte die KTI 520 Gesuche, von denen 293 bewilligt wurden. Im Rahmen der Sonderförderung gingen 1064 Förderanträge ein, von denen 545 beurteilt und 246 unterstützt wurden. Knapp 70% aller geförderten Projekte wurden von KMU eingereicht und stammten hauptsächlich aus dem Bereich der Ingenieurwissenschaften, der Life sowie der Enabling Sciences [43].
Der in der Förderung der Grundlagenforschung seit 1952 aktive Schweizerische Nationalfonds (SNF) bewilligte 2011 mehr als 3 400 Forschungsvorhaben im Umfang von rund 713 Mio. CHF (2010: 726 Mio. CHF). Dabei entfielen 39% auf den Bereich Biologie und Medizin, 35% auf die MINT-Disziplinen und 26% auf die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Hälfte des gesamten Förderbetrags war projektgebunden, je ein gutes Fünftel ging an Programme und Karrieren. Weitere 5% flossen in Infrastrukturen, ein halbes Prozent in die Wissenschaftskommunikation. Von total zwölf bestehenden nationalen Forschungsprogrammen (NFP) kamen drei zum Abschluss (NFP 54 „Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung“; NFP 57 „Nichtionisierende Strahlung – Umwelt und Gesundheit“; NFP 58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“, vgl. dazu auch Teil I, 8b Kultur, Sprachen, Kirchen), zwei wurden neu lanciert. Mit einer veranschlagten Gesamtprojektsumme von rund 30 Mio. CHF beschäftigen sich beide mit dem Aspekt der Nachhaltigkeit (NFP 68 „Nachhaltige Nutzung der Ressource Boden“; NFP 69 „Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion“). Ihre Forschungsphase dauert von 2013 bis 2017. Der strategische Förderbereich Nationale Forschungsschwerpunkte (NFS) bereitete im Juli des Berichtsjahrs eine neue Serie vor. Die Ausschreibung (Gesuche) läuft bis 2013, mit der Forschungsphase an den rund fünf bis sechs geplanten Schwerpunkten soll Anfang 2014 begonnen werden [44].
 
[37] BRG 09.079, Mo. 11.3001: AB NR, 2011, S. 341 (Mo. 11.3001 WBK-NR, Heilversuche); NZZ, 7.3.11; 24H und TG, 10.3.11; SPJ 2009, S. 254; SPJ 2010, S. 284 f.
[38] BRG 09.079: BBl, 2011, S. 7415; AB NR, 2011, S. 299 ff., 312 ff., 1312 ff.; 1867; AB SR, 2011, S. 584 ff., 587 ff., 767 ff., 1035; Presse vom 11.3.11; NZZ, 16.6. und 13.9.11.
[39] Mo. 11.3932: AB SR, 2011, S. 1221 f.
[40] Ausserordentliche Session zur UStR II 10.9006: AB NR, 2011, S. 601 ff.; Mo. 10.3233: AB NR, 2011, S. 614; AB SR, 2011, S. 871 f.; NZZ und AZ 24.8.11.
[41] Po. 10.3080: AB NR, 2010, S. 1134; AB NR, 2011, S. 1013; Mo. 10.3609: AB NR, 2010, S. 1650; AB NR, 2011, S. 1014; AB SR, 2011, S. 1012.
[42] BRG 11.069: BBl, 2011, S. 8827 ff. (Botschaft), S. 8927 ff. (Entwurf); SPJ 2009, S. 255; Presse vom 10.11.11; Mo. 07.3582 (FDP-Motion „Einrichtung eines Parc d’innovation suisse“): AB NR, 2009, S. 219.
[43] BRG 11.048 (Botschaft zum Bundesgesetz über Massnahmen zur Abfederung der Frankenstärke und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sowie zum Bundesbeschluss über den Nachtrag IIa zum Voranschlag 2011): BBl, 2011, S. 6749 ff., 7509, 7511; AB SR, 2011, S. 774 ff.; AB NR, 2011, S. 1525 ff.; Lit. KTI, NZZ, 13.10., 18.10. und 30.10.11; TA, 30.11.11; SPJ 2008, S. 250; SPJ 2010, S. 286.
[44] SNF, Statistiken 2011: Forschungsförderung in Zahlen, 2012; SNF, NFS: Programmausschreibung Juli 2011; NZZ, 31.3. und 6.4.2011.