Année politique Suisse 2012 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
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Abstimmungen und Wahlen
Nachdem der Ständerat im Vorjahr relativ überraschend der Motion seiner staatspolitischen Kommission zur Offenlegung der Finanzierungsquellen von Abstimmungskampagnen, trotz ablehnender Haltung des Bundesrates, knapp zugestimmt hatte, lehnte die grosse Kammer dieses Ansinnen ab. Sie folgte damit der Empfehlung ihrer SPK, die argumentierte, dass grosse Probleme bei der Umsetzung dieser Idee entstünden. Grundsätzlich lebe eine Demokratie von Diskussionen, die mitunter durch finanzielle Mittel erst angekurbelt werde. Erst eine finanzierte Kampagne könne mobilisieren und informieren. Die Finanzierungsquelle müsse dabei aber nicht unbedingt offengelegt werden. Die Angst davor, dass Geld zu Abstimmungserfolgen führe, sei unbegründet. Es gäbe zahlreiche Beispiele, die zeigten, dass Abstimmungen auch mit sehr geringem Mitteleinsatz gewonnen werden könnten. Transparenzregeln könnten zudem gar kontraproduktiv sein, da Vollzugsprobleme bei deren Anwendung zu Missbrauch und so zu Misstrauen in die Politik führen könnten. Eine grosse links-grüne Minderheit argumentierte vergeblich, dass es letztlich nur darum gehe, den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, zu erfahren, wer finanziell hinter einer Kampagne stehe und so für eine breitere Entscheidungsbasis zu sorgen. Die grosse Kammer lehnte die Motion mit 97 zu 72 Stimmen ab [73].
Eine vom EJPD in Auftrag gegebene Studie, die anhand von 400 Pressetiteln, Plakatkampagnen und Kinowerbung die Geldflüsse für politische Werbung (Wahlen und Abstimmungen) für den Zeitraum von 2005 bis 2011 schätzte, kam zum Schluss, dass bei Abstimmungen das Geld zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vorlage in fünf von sechs Fällen ungleich verteilt ist. Wie und ob Geld einen Einfluss auf Abstimmungsresultate hat, war allerdings nicht Gegenstand der Studie. Die Zahlen lassen den Schluss zu, dass Abstimmungsresultate eher nicht käuflich sind, dass sich allerdings je nach Thema bestimmte Muster zeigen. So sind etwa die Wirtschaftsverbände, wenn sie sich auch finanziell in Abstimmungskampagnen engagieren, relativ erfolgreich. Insgesamt zeigt sich zudem, dass die bürgerlichen Parteien – allen voran die SVP – über deutlich mehr Mittel verfügen als Links-Grün. Dies wies die Studie auch für die Nationalratswahlen 2011 nach, für die insgesamt geschätzte 42 Mio. CHF für Wahlwerbung ausgegeben worden seien (der effektive Betrag dürfte höher sein). Die SVP warf fast einen Drittel dieser Summe auf (13 Mio. CHF), gefolgt von der FDP (8,5 Mio. CHF) und der CVP (5 Mio. CHF). Die Ausgaben der SP (3,3 Mio. CHF) und der GP (1 Mio. CHF) waren vergleichsweise bescheiden [74].
Mit einer parlamentarischen Initiative forderte die SVP die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zwecks Untersuchung der „massiven Fehlinformationen“ im Rahmen der Volksabstimmung über die Abkommen von Schengen und Dublin vom 5. Juni 2005. Die Kosten für den Beitritt zum Schengen-Raum wurden im Bundesbüchlein mit jährlich 7,4 Mio. CHF veranschlagt. Ein Bericht des Justizdepartements hatte 2011 jedoch aufgezeigt, dass seither rund 43 Mio. CHF pro Jahr aufgewendet worden waren. Brisant war, dass Christoph Blocher (svp, ZH) damals dem EJPD vorstand, aber vehement abstritt, für die Zahl verantwortlich gewesen zu sein. Er unterstellte ehemaligen Kollegen gar eine bewusste Falschangabe. Mit ihrer Forderung nach einer PUK wollte die SVP nicht nur ihre Kritik am Schengen-Vertrag äussern, sondern auch abklären lassen, wie falsche Zahlen und irreführende Aussagen durch Behörden im Rahmen von eidgenössischen Abstimmungen künftig verhindert werden können. Das Büro des Nationalrats lehnte die Forderung der SVP ab. Eine PUK dürfe nur bei Vorkommnissen besonderer Tragweite eingesetzt werden. Zwar seien die zu tief eingeschätzten Kosten tatsächlich ein Ärgernis, der Bundesrat habe aber zu diesem Problem im Rahmen verschiedener Vorstösse bereits ausführlich Stellung genommen und es sei an der GPK zu entscheiden, ob weitere Untersuchungen nötig seien. Auch der Nationalrat sah eine PUK als unnötig an und sprach sich mit 125 zu 45 Stimmen aus der geschlossenen SVP-Fraktion gegen Folgegeben der Initiative aus [75].
Eine Neuauslegung von Art. 77 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte durch ein Bundesgerichtsurteil von 2009 provozierte eine parlamentarische Initiative Joder (svp, BE). Das Bundesgesetz sieht vor, dass Beschwerde geführt und eine Nachzählung von Abstimmungen und Wahlen verlangt werden kann, wenn es zu „Unregelmässigkeiten“ kommt. Das BG hielt fest, dass dies bereits der Fall sein könne, wenn ein Resultat knapp sei. Joder und mit ihm die SPK-N beanstandeten dieses Urteil und mahnten eine Schwächung der Demokratie an, wenn Resultate alleine aufgrund von knappen Ausgängen hinterfragt werden dürften. Im Berichtsjahr äusserte sich die Schwesterkommission dazu noch nicht [76].
Verschiedene Resultate der Gesamterneuerungswahlen vom Vorjahr waren Anlass für Vorstösse mit Reformvorschlägen für die Nationalratswahlen. Der Umstand, dass erstmals seit 1979 kein Vertreter des französischsprachigen Berner Juras in den Nationalrat gewählt wurde, bewegte den Kanton Bern zur Einreichung einer Standesinitiative, die eine Zusicherung einer adäquaten Anzahl Sitze für sprachliche Minderheiten in mehrsprachigen Kantonen fordert. Das Begehren war im Berichtjahr von den SPK noch nicht behandelt worden. Eine Motion der FDP-Liberale Fraktion und eine Motion Frehner (svp, BS) forderten ein Verbot von Listenverbindungen. Wahltaktische Überlegungen hätten zu Verzerrungen des Wählerwillens geführt. Frehner (svp, BS) führte in seiner Begründung das Beispiel seines eigenen Kantons an, in welchem die abgewählte grüne Nationalrätin Anita Lachenmeier (gp, BS) zwar etwa dreimal mehr Stimmen als der neu gewählte Markus Lehmann (cvp, BS) erhalten habe, letzterer aber dank der Listenverbindung der CVP mit GLP, EVP und BDP den Sitz erobern konnte. In seiner Stellungnahme wies der Bundesrat darauf hin, dass Listenverbindungen in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich kontinuierlich zugenommen hätten und eine Folge des Sitzzuteilungsverfahrens Hagenbach-Bischoff seien. Vor- und Nachteile dieses bewährten Systems würden sich die Waage halten und eine Änderung sei nicht angezeigt. Die Verzerrungen seien primär Folge der sehr unterschiedlichen Grösse der Kantone als Wahlkreise und ein Verbot von Listenverbindungen käme lediglich einer Symptombekämpfung gleich. Beide Motionen wurden im Berichtsjahr noch nicht behandelt. Eine Korrektur dieser Verzerrung mit Hilfe eines alternativen Wahlverfahrens, dem so genannten „doppelten Pukelsheim“ schlug eine Motion Minder (parteilos, SH) vor. Mit dem doppeltproportionalen Sitzverteilungsverfahren werden Sitze in einem ersten Schritt auf die Parteilisten gemäss nationalem Wähleranteil und erst in einem zweiten Schritt auf die einzelnen Kantone verteilt. Damit würden nicht nur Listenverbindungen obsolet, sondern auch Verzerrungen des Wählerwillens würden zumindest verkleinert. Diese Idee, die bereits Gegenstand mehrerer früherer erfolgloser Vorstösse sowie verschiedener kantonaler Reformen war, fand jedoch weder beim Bundesrat noch in der kleinen Kammer genügend Anhänger. Der Bundesrat wollte erst die Entwicklungen in den Kantonen abwarten, weil die Wahlprozedere möglichst auf allen föderalen Stufen gleich sein sollten. Die ablehnende Haltung gegenüber der Einführung des doppelten Pukelsheim in den Kantonen Bern, Luzern, Schwyz, Zug, Solothurn, Basel-Stadt und St. Gallen weise auf eine gewisse Skepsis in der Bevölkerung hin auch wenn das Verfahren in den Kantonen Zürich, Aargau und Schaffhausen eingeführt worden sei. Eine Motion Girod (gp, ZH) schliesslich griff die Diskussionen um die Informationsbroschüre der Bundeskanzlei anlässlich der Gesamterneuerungswahlen wieder auf. Die mit dem Titel „In der Kürze liegt die Würze“ versehene Wahlbroschüre erklärte mit Hilfe von Vergleichen aus der Gastronomie das Wahlprozedere und stellte die Parteien vor. Der Motionär wollte die Bundeskanzlei verpflichten, Wahlunterlagen zukünftig objektiv zu gestalten und auf klare Information der Wählerschaft zu fokussieren. Die Motion wurde vom Bundesrat abgelehnt, da damit eine 2007 beschlossene Darstellung der Parteien nicht mehr möglich sei. Obwohl die Exekutive die Kritik des Motionärs nicht teilte, versprach der Bundesrat den Anregungen im Hinblick auf eine neue Wahlanleitung für 2015 Rechnung zu tragen [77].
Im Schnitt hatten bei den nationalen Parlamentswahlen im Herbst 2011 rund 1,3% der Stimmenden oder 33 191 Personen ungültig gewählt. Auffallend waren dabei die kantonalen Unterschiede: während der Anteil ungültig Stimmender im Kanton Schwyz 3,9% betrug, lag er im Kanton Zürich, wo die Falschstimmen allerdings anders gezählt werden als im Rest der Schweiz bei 0,1%. Stossend sind insbesondere die unterschiedlichen kantonalen Regelungen für die nationalen Wahlen. Die Bundesgesetzgebung, die fünf Ungültigkeitsgründe kennt (kein Name eines Kandidaten des entsprechenden Wahlkreises, nicht amtliche Stimmzettel, anders als handschriftlich ausgefüllte bzw. geänderte Stimmzettel, Stimmzettel mit ehrverletzenden Äusserungen oder offensichtlichen Kennzeichnungen) wird von zahlreichen Kantonsklauseln föderal sehr unterschiedlich ergänzt. Lediglich die Hälfte der Stände folgte dem Aufruf des Bundes für eine Auswertung dieser Unterschiede. Der Bericht des Bundesrates zu diesen Unterschieden wurde in der Folge unter Verschluss gehalten [78].
Auch im Berichtjahr war an Abstimmungen eine elektronische Stimmabgabe (E-Voting) in ausgewählten Testgemeinden und insbesondere für Auslandschweizer ermöglicht worden. Für die nationalen Abstimmungen hatten jeweils rund 165 000 Personen in 12 Kantonen die Möglichkeit, ihre Stimme mittels E-Voting abzugeben. Die kantonale Obergrenze wurde vom Bundesrat nach wie vor bei 30% fixiert. Eine Mitte April erschienene, vom Bundesrat in Auftrag gegebene Studie der Berner Fachhochschule zeigte mögliche Weiterentwicklungen auf. Die grössten Schwierigkeiten stellten die Sicherheit und die Nachvollziehbarkeit der Stimmabgabe dar. Eine kurzfristige Umsetzung sei nach wie vor nicht geplant, so die bundesrätliche Stellungnahme zur Studie [79].
 
[73] Mo. 11.3467: AB NR, 2012, S. 514 f.; Presse vom 22.2.12; Lib. 16.3.12; SPJ 2010, S. 60.
[74] Presse vom 22.2.12; TA, 5.3.12; Lit. Hermann; Über die Parteienfinanzierung berichten wir in Kapitel IIIa.
[75] Pa.Iv. 11.454: AB NR, 2012, S. 465; zum Bericht des Justizdepartements vgl. SPJ 2011, S. 145.
[76] Pa.Iv. 11.502: Medienmitteilung der SPK-N vom 18.10.12; BGE 136 II, S. 138; NZZ, 19.10.12.
[77] Kt.Iv. 12.314 (Bern), Vertretung Berner Jura vgl. SPJ 2011, S. 86; Mo 12.3050 (Frehner): Stellungnahme BR vom 23.5.12; Mo 12.3374 (FDP): Stellungnahme BR vom 22.8.12; zum Beispiel BS: SPJ 2011, S. 91 f.; Mo. 12.3711 (Minder): AB SR, 2012, S. 949 ff.; frühere ähnliche Vorstösse: Po. 03.3377 (Genner); Po. 07.3884 (Waber); Pa.Iv. 09.410 (Zisyadis); zu den kantonalen Reformen vgl. Teil I, Kapitel 1d (Beziehungen zwischen Bund und Kantonen); Mo 11.4193 (Girod): AB NR, 2012, S. 535; Stellungnahme des BR vom 15.2.12 und vom 23.5.12; vgl. auch SPJ 2011, S. 79; NZZ, 29.3.12; BZ, 16.5.12; Bund, 30.5.12; NZZ, 27.11.12.
[78] Medienmitteilungen BR vom 10.11.12; TA, 20.2.12; AZ, 21.2.12.
[79] Medienmitteilungen BK vom 11.3., 10.4., 17.6. und 23.9.2012; Medienmitteilung BR vom 4.4., 27.6., 29.8. und 14.12.12; Presse vom 5.4.12; LM, 10.4.12.