Année politique Suisse 2013 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
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Altersvorsorge 2020
Im Vorjahr hatte Innenminister Berset angekündigt, die Probleme der ersten und zweiten Säule gemeinsam in einer umfassenden Reformstrategie angehen zu wollen. Im Berichtsjahr schritt der entsprechende Prozess voran und erzielte unter dem offiziellen Titel „Altersvorsorge 2020“, inoffiziell auch „Rentenstrategie 2020“, grosse Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit. 2020 bezeichnet das Jahr, in dem die Reform voraussichtlich wirksam werden soll, denn ungefähr ab diesem Zeitpunkt werden für die AHV rote Zahlen erwartet. Im November 2012 hatte der Bundesrat die sogenannten „Leitlinien“ für die Reform publiziert. Ziel sind demnach die „Erhaltung des Leistungsniveaus der ersten und der zweiten Säule, die finanzielle Konsolidierung der Altersvorsorge und die Steuerung der Kosten der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV“. Mit den Leitlinien wurde der Auftrag an das Eidgenössische Departement des Innern erteilt, bis Mitte des Berichtsjahres einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzulegen. Die inzwischen angelaufenen Diskussionen in der Öffentlichkeit brachten zwar verschiedenste Vorschläge, primär jedoch grosse Divergenzen zwischen den beteiligten Akteursgruppen zu Tage [13].
Im Juni präsentierte Bundesrat Berset die Eckwerte der Reform. Das generelle Rentenalter soll ersetzt werden durch ein sogenanntes „Referenzalter“ von 65 Jahren, das für die erste und zweite Säule sowie für Männer und Frauen gelten soll. Angesichts der Schwierigkeit, ältere Arbeitnehmende im Arbeitsmarkt zu integrieren, sei eine Erhöhung nicht zu rechtfertigen, so das Papier. Jedoch sollen mehr Anreize gesetzt werden, auch tatsächlich bis ins Alter von 65 Jahren zu arbeiten. Zudem soll der Zeitpunkt der Pensionierung flexibilisiert werden: Ein Vorbezug ab 62 Jahren bzw. ein Aufschub bis zum Alter von 70 Jahren, verbunden mit entsprechenden Rentenkürzungen bzw. -zustüpfen, soll ermöglicht werden, ebenso ein schrittweiser Rückzug mit einer AHV-Teilrente, wie in der beruflichen Vorsorge bereits möglich. Zur Finanzierung der AHV sieht der Bundesrat die Notwendigkeit von höheren Einnahmen, welche er über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um maximal zwei Prozentpunkte erreichen will. Auf diesem Weg würden auch die Rentner selbst zu den Einnahmeerhöhungen beitragen, was bei einer Anhebung der Lohnbeiträge nicht der Fall sei. Ein Teil der Mehreinnahmen soll verwendet werden, um Personen, die früh ins Arbeitsleben eingestiegen sind und wenig verdient haben, eine Frühpensionierung zu erleichtern – von dieser Massnahme würden insbesondere Frauen profitieren. Einsparungen soll eine Abschaffung der Witwenrente für kinderlose Frauen und eine Senkung derselben für verwitwete Mütter und Väter von 80% auf 60% der Altersrente bringen. Im Gegenzug werden die Waisenrenten von 40% auf 50% erhöht. Die Bevorteilung Selbständigerwerbender gegenüber Arbeitnehmenden bei den AHV-Beiträgen soll aufgehoben werden. Zur Sicherung der langfristigen Stabilität der AHV wird eine Schuldenbremse in Form eines zweistufigen Interventionsmechanismus geplant. Die erste Stufe soll dabei ausgelöst werden, wenn der Bestand des AHV-Ausgleichsfonds einen Schwellenwert von 70% der jährlichen AHV-Ausgaben unterschreitet. Zudem wird eine Teilentflechtung von AHV- und Bundesfinanzen vorgeschlagen. Derzeit wird ein fixer Anteil von knapp 20% der AHV-Ausgaben durch Bundesgelder aus der Alkohol- und Tabaksteuer sowie aus allgemeinen Bundesmitteln gedeckt. Im Gegensatz zu den Einnahmen des Bundes sinkt dieser Anteil bei schwacher Konjunktur nicht, mit der demografischen Entwicklung steigt er real an. Damit belastet er den Bundeshaushalt. Zukünftig soll nur noch die Hälfte des Bundesbeitrages fix sein, die andere Hälfte soll sich nach den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer richten. In der zweiten Säule erachtet der Bundesrat den heute geltenden Umwandlungssatz von 6,8% als deutlich zu hoch. Er soll daher in vier Schritten auf noch 6% gesenkt werden. Um trotz der Senkung das Leistungsniveau zu erhalten, will der Bundesrat den Koordinationsabzug neu regeln, um einen grösseren Teil des Einkommens zu versichern, was vor allem Geringverdienenden und Teilzeitarbeitenden zugutekommen würde. Weiter will er die Beiträge der Arbeitnehmenden mittleren Alters erhöhen, bei einer Übergangsgeneration Kapital aus dem Sicherheitsfonds einschiessen und allenfalls den Beginn der Einzahlung für die Altersvorsorge vor das aktuell geltende 25. Lebensjahr setzen. Um das Vertrauen in die zweite Säule zu stärken, will der Bundesrat die Transparenz bei den Lebensversicherern, welche Sammelstiftungen für KMU betreiben, erhöhen und den Anteil der Erträge, welche die Stiftungen an die Versicherten auszahlen müssen, anheben [14].
Bei der Präsentation seiner Rentenstrategie betonte der Bundesrat die Wichtigkeit einer globalen Reform der Altersvorsorge, um die verschiedenen Massnahmen aufeinander abstimmen zu können. Mit der vorgeschlagenen Reform würden tiefere Renten oder ein generell höheres Rentenalter vermieden, wofür jedoch die erwähnten Zusatzeinnahmen vonnöten seien. Damit sei die Reform ehrgeizig, aber ausgewogen – die Vergangenheit habe gezeigt, dass reine Sparvorlagen jeweils spätestens an der Urne scheiterten, wohingegen die präsentierte Vorlage im Parlament und beim Volk mehrheitsfähig sei, so Berset. Bereits zeichnete sich ab, dass das Parlament die Vorlage im Wahljahr 2015 beraten wird; eine Konstellation, welche sich als schwierig herausstellen könnte. Eine Volksabstimmung ist für 2018 oder 2019 geplant, wobei die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über ein Gesamtpaket mit den nötigen Gesetzen und der Verfassungsänderung zur Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes zu befinden haben werden. So soll eine einseitige Annahme nur der Reform, nicht aber deren Finanzierung oder umgekehrt verhindert werden [15].
Die Reaktionen auf die vorgestellte Strategie waren äusserst durchzogen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund lehnte sie schlichtweg ab und bezeichnete die vorgesehene Senkung des BVG-Umwandlungssatzes als „grösste Rentensenkung aller Zeiten“. Zudem sei eine Senkung im Grunde gar nicht zwingend nötig. Auch die Erhöhung des Frauenrentenalters kritisierte der Gewerkschaftsbund scharf. Travail.Suisse sah den Rückzug des Bundes aus der AHV-Finanzierung als unhaltbar an, zeigte aber Verständnis für die Senkung des Umwandlungssatzes und lobte die dafür vorgesehenen Kompensationsmassnahmen. Der Gewerbeverband dagegen lehnte grundsätzlich die Stossrichtung der Reform ab: Diese basiere einseitig auf Einnahmeerhöhungen. Die Leistungen der Sozialwerke müssten aber deren finanzieller Situation angepasst werden und nicht umgekehrt. Der Schweizerische Arbeitgeberverband drückte seine Zustimmung zur Flexibilisierung des Rentenalters aus, forderte aber weitere Massnahmen, um dieses effektiv zu erhöhen. Nur bei einer Heraufsetzung auf 67 Jahre sei auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer akzeptierbar. Auf Seite der Parteien kritisierten die Bürgerlichen die geplanten Mehreinnahmequellen und die fehlende Erhöhung des Rentenalters, gleichzeitig forderten sie mehr Tempo bei der Durchsetzung von Reformen und sprachen sich für ein Vorziehen einzelner Elemente aus. Die SP zeigte verhaltene Zustimmung zur Reform, wiederholte aber ihre Forderung, die Harmonisierung des Rentenalters von Mann und Frau sei zwingend mit Lohngleichheit zu verknüpfen. Zudem wehrte sich die Partei gegen einen Interventionsmechanismus in der AHV, der automatisch die Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung sistieren könnte. Im Verlaufe des Herbsts präsentierten verschiedene Akteure eigene Vorschläge für eine Reform der Altersvorsorge, so der Gewerbeverband, der sich für eine automatische Anhebung des Rentenalters bei einer starken Lücke im AHV-Ausgleichsfonds aussprach, und der Arbeitgeberverband, der eine Aufsplittung der Vorlage verlangte, um das seiner Ansicht nach vorprogrammierte Scheitern der gesamten Reform zu verhindern. Im November schickte der Bundesrat den Vorentwurf für die Reform der Altersvorsorge in die Vernehmlassung. Diese dauert bis März 2014 [16].
 
[13] www.edi.admin.ch; Presse vom 22.6.13.
[14] www.edi.admin.ch.
[15] www.edi.admin.ch; AZ, 17.6.13; Presse vom 22.6.13; BaZ, 23.10.13; NZZ, 1.11.13.
[16] www.edi.admin.ch; Medienmitteilung BSV vom 20.11.13; Presse vom 22.6.13; BaZ, 23.10.13; NZZ, 1.11.13; Presse vom 21.11.13; vgl. SPJ 2012, S. 300.