Année politique Suisse 2013 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Krankenversicherung
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Revision des Krankenversicherungsgesetzes
Im Berichtsjahr beschäftigte eine Teilrevision des Krankenversicherungsgesetzes zur vorübergehenden Wiedereinführung der bedarfsabhängigen Zulassung die Räte intensiv. Im November des Vorjahres hatte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft unterbreitet, in welcher er aufgrund der Zunahme von Praxiseröffnungen durch Ärzte aus dem EU-Raum und den dadurch zu befürchtenden Kostensteigerungen Handlungsbedarf feststellte. Per Ende 2011 war eine seit zehn Jahren gültige Zulassungsbegrenzung für Leistungserbringer im KVG ausgelaufen. Nachdem die Managed-Care-Vorlage, welche entsprechende Regelungen enthalten hatte, im Juni 2012 an der Urne abgelehnt worden war, hatten die Kantone kein Instrument mehr, um das Angebot im ambulanten Bereich zu steuern. Der Entwurf sieht eine Wiedereinführung der bis 2011 geltenden Beschränkungen für drei Jahre vor. In dieser Zeit könnten die Auswirkungen der Aufhebung evaluiert und neue Bestimmungen zur langfristigen Kosteneindämmung entwickelt werden. Im Februar sprach sich die Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH) gegen diese Lösung aus, denn bereits heute herrsche in vielen Bereichen der Spezialmedizin ein Ärztemangel, der durch den Zulassungsstopp akzentuiert würde  [60] .
Der Nationalrat beriet das Geschäft als Erstrat in der Frühlingssession. Die Mehrheit seiner Kommission beantragte Eintreten. Eine Minderheit de Courten (svp, BL) verlangte Nichteintreten, eine zweite Minderheit Cassis (fdp, TI) Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, innert zweier Jahre Alternativvorschläge zur Steuerung der ambulanten Medizin zu unterbreiten. Die Mehrheit argumentierte, jene Kantone, welche ein übermässiges Wachstum des medizinischen Angebots feststellen, sollten rasch ein Instrument erhalten, um das Angebot wieder bedarfsgerecht steuern zu können. Der Entwurf sei aus Sicht des Föderalismus angemessen, da Kantone, welche im Gegenteil eine Knappheit befürchteten, sich auch für den Status quo entscheiden könnten. Eine definitive Lösung liege zudem zu weit ausser Reichweite, um auf eine Zwischenlösung verzichten zu können. Die bürgerlichen Minderheiten hielten die Wiedereinführung für rechtsstaatlich bedenklich und deren Wirksamkeit im Hinblick auf die Kosten als nicht bewiesen. Die Erarbeitung wirkungsvoller und dauerhafter Lösungen werde damit aufgeschoben. Die Datengrundlage bezüglich der tatsächlichen Leistungsmengenentwicklung aufgrund der Aufhebung der Zulassungssteuerung sei derzeit ungenügend und erlaube es nicht, neue Gesetze zu verabschieden. Schliesslich lehnte der Rat den Nichteintretensantrag gegen die Stimmen der SVP und FDP deutlich ab, den Rückweisungsantrag, der auch von der Grünen Fraktion unterstützt wurde, jedoch nur knapp. In der Detailberatung forderte ein Einzelantrag Ingold (evp, ZH), nebst Haus- und Kinderärzten sollten auch Mediziner, welche sich während fünf Jahren in der Schweiz weitergebildet hatten, keinen Bedürfnisnachweis für eine Zulassung benötigen. Eine solche Lösung würde die Qualität der Versorgung stärken und Mediziner mit Kenntnissen des Schweizer Systems fördern. Dieser Antrag war unbestritten und erhielt lediglich eine einzige Gegenstimme. In der Gesamtabstimmung sprachen sich 103 Nationalrätinnen und Nationalräte für den Entwurf aus, 76 dagegen [61].
Im Ständerat empfahl die Kommissionsmehrheit, auf das Geschäft einzutreten und es anschliessend mit dem Antrag an den Bundesrat zurückzuweisen, eine Lösung mit einer Lockerung des Vertragszwangs vorzulegen. Eine Minderheit Eder (fdp, ZG) sprach sich für Nichteintreten aus, eine Minderheit Schwaller (cvp, FR) für eine Ablehnung der Rückweisung und damit für die noch nicht erfolgte Detailberatung in der Kommission. Die Mehrheit stellte die Verfassungsmässigkeit des Zulassungsstopps, welcher per dringliches Bundesrecht eingeführt worden und danach zwei Mal verlängert worden war, in Frage. Sie befürchtete eine Verschärfung des Mangels an inländischem Ärztenachwuchs bei einem erneuten Stopp und kritisierte die Unklarheit darüber, ob die Massnahme in den vergangenen Jahren überhaupt zu Kosteneinsparungen geführt habe. Nicht zuletzt sei zweifelhaft, ob der im Nationalrat angenommene Einzelantrag überhaupt mit der Personenfreizügigkeit vereinbar sei, da er ausländische Ärzte diskriminiere. Die Minderheit Eder erklärte, sie sei mit der Hin-und-Her-Politik der letzten Jahre nicht mehr einverstanden und wolle endlich eine umfassende Lösung. Sie wisse dabei verschiedene Parteien und Verbände sowie etliche Kantone hinter sich. Eine erneute Zulassungsbeschränkung sei ein schlechtes Signal an die jungen Ärztinnen und Ärzte, laufe dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ zuwider und sei rechtsstaatlich bedenklich. Zudem sei eine konsequente Marktlösung einer erneuten Regulierung des Angebots vorzuziehen. Die Minderheit Schwaller warnte vor ein bis zwei zusätzlichen Prämienprozenten, würde das Wachstum der Anzahl Zulassungen nicht gebremst, und führte aus, einzig die Massnahme eines Zulassungsstopps könne bereits kurzfristig dagegen wirksam werden. Eintreten wurde schliesslich mit 27 zu 17 Stimmen beschlossen. Beim Rückweisungsantrag ergab sich ein Patt von 22 zu 22 Stimmen. Mit Stichentscheid des Präsidenten Lombardi (cvp, TI) ging das Geschäft zur Detailberatung an die Kommission. Diese nahm umfassende Abklärungen vor bezüglich der Verfassungsmässigkeit des Bundesratsentwurfes, der Wirkungen der bisherigen Zulassungsbeschränkungen und insbesondere der Vereinbarkeit des vom Nationalrat aufgenommenen Zusatzes mit der Personenfreizügigkeit. Die Gutachten verschiedener Experten zu letzterem kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Die Abklärungen dauerten einige Zeit, womit das ursprüngliche Ziel des Innenministers Berset, den Zulassungsstopp bereits im April wieder einzuführen, nicht mehr erreicht werden konnte. Um eine möglichst rasche Beschlussfassung zu erreichen, hatte der Bundesrat im Vorjahr beschlossen, das Gesetz als dringlich einzustufen. Die Detailberatung im Ständerat fand in der Sommersession statt. Berset betonte zu Beginn der Debatte, bei dem 2012 beobachteten Anstieg der Neuzulassungen handle es sich nicht um einen simplen Aufholeffekt, was daran zu erkennen sei, dass der Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2013 unverändert angehalten habe. Zu reden gab insbesondere die vom Nationalrat eingefügte Ausnahmebestimmung, wonach Ärzte mit mindestens fünfjähriger Schweizer Berufserfahrung von der Zulassungspflicht ausgenommen wären. Die Kommissionsmehrheit sprach sich mit Verweis auf die Personenfreizügigkeit dagegen aus. Eine Minderheit Rechsteiner (sp, SG) strebte einen Kompromiss an, indem sie die Frist auf drei Jahre beschränken wollte und gab an, ein allfälliges Ritzen der Personenfreizügigkeit angesichts der Vorteile in Kauf nehmen zu wollen. Diese Position unterlag mit 22 zu 18 Stimmen. Diskutiert wurden auch die Kompetenzen der Kantone bei der Festlegung der Kriterien für ein Bedürfnis nach Zulassungen von Leistungserbringern. Eine Minderheit Stöckli (sp, BE) sprach sich für die Version des Bundesrates aus, wonach die Kantone „anzuhören“ seien. Die Kommissionsmehrheit verlangte dagegen, der Bund habe die Kriterien mit den Kantonen zusammen einvernehmlich festzulegen. Die Minderheit begründete ihre Position damit, dass die Haltungen der Kantone stark auseinandergingen und eine Lösung im Einvernehmen damit nicht zu finden sei. Die Mehrheit hielt dagegen, die Kantone würden die Bedürfnisse auf ihrem Gebiet am besten kennen und dürften nicht von der Hauptstadt aus bevormundet werden. Mit 22 zu 21 Stimmen folgte der Rat der Position der Mehrheit. In der Gesamtabstimmung sprachen sich 25 Kantonsvertreter für den Entwurf aus, 15 dagegen [62].
Damit ging das Geschäft zur Differenzbereinigung zurück in den Nationalrat. Dieser senkte bei der Ausnahmeregelung die vorher geforderten mindestens fünf Tätigkeitsjahre auf drei, wollte aber nicht gänzlich auf die Bestimmung verzichten. Bezüglich der Kompetenz der Kantone blieb er bei seiner Haltung, ergänzte jedoch, dass nebst diesen und den Vertretern von Versicherern und Leistungserbringern auch jene der Patientinnen und Patienten anzuhören seien. Der Ständerat schloss sich daraufhin in beiden Punkten dem Beschluss des Nationalrats an. Beide Räte hatten nun noch die Dringlichkeitsklausel zu beschliessen, welche das Gesetz per 1. Juli in Kraft setzen und es einem allfälligen Referendum entziehen würde. Im Nationalrat ergaben sich 115 zu 79 Stimmen dafür, womit das erforderliche qualifizierte Mehr erreicht war. Die Gegenstimmen kamen aus dem Lager der SVP und der CVP. Im Ständerat sprachen sich 27 Stimmen gegen 15 für die Dringlichkeit aus, auch hier war das qualifizierte Mehr erreicht. In der Schlussabstimmung nahmen beide Räte das revidierte Gesetz an. Es trat per 1. Juli 2013 in Kraft, die entsprechende Verordnung einige Tage später [63].
 
[60] BRG 12.092: AB NR, 2013, S. 65 ff.; NZZ, 1.2.13.
[61] BRG 12.092: AB NR, 2013, S. 65 ff.
[62] AB SR, 2013, S. 128 ff., 416 ff.; NZZ, 13.3. und 14.3.13.
[63] BRG 12.092: AB NR, 2013, S. 963 ff., 1048 f.,1214; AB SR, 2013, S. 559 ff., 602, 650; NZZ 4.7.13.