Année politique Suisse 1966 : Partis, associations et groupes d'interêt / Associations et autres groupes d'interêt
 
Arbeitnehmer
Dass Wirtschaftsverbände nur attraktiv sind, wenn sie ihren Mitgliedern Vorteile gewähren, liegt im Wesen der Interessenwahrnehmung. Je grösser die Mitgliederzahlen, und je mehr entsprechende Verbandsforderungen als Belastung der Allgemeinheit erscheinen, um so eher gelangt die Verbandspolitik ins Kreuzfeuer einander widerstrebender Interessen. Das mussten neben den Bauern im vergangenen Jahre vor allem die mitgliederstarken Verbände der Arbeitnehmer erfahren. Ihre Hauptpostulate, Arbeitszeitverkürzung und weitgehender Ausbau der Sozialversicherung, waren, wie an anderer Stelle unseres Jahresüberblicks schon gezeigt worden ist, zum Teil sehr umstritten [10]. Wer, wie der Schweizerische Gewerkschaftsbund an seinem Jahreskongress in Luzern [11], vom Staat einen Gesamtplan für die soziale Sicherheit verlangt, erregt zusätzlichen Argwohn, weil er die öffentliche Hand überfordere, zumal wenn er gleichzeitig seine Mandanten vor einseitiger steuerlicher Belastung bewahren möchte. Der Gewerkschaftsbund plädierte in diesem Sinne zwar für die Erschliessung neuer Finanzquellen, wies jedoch das Sofortprogramm zurück, weil die besitzenden Kreise zu wenig konsequent zu neuen Leistungen herangezogen würden [12].
Aber nun scheint auch ein so weitgehendes soziales Reformprogramm nicht mehr genügend Anziehungskraft auf die breiten Massen der Arbeitnehmer auszustrahlen. Die beiden grössten Spitzenverbände klagten auch 1966 über Mitgliederschwund. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund meldete einen Verlust von ca. 1000 Mitgliedern, der Christlichnationale Gewerkschaftsbund einen solchen von 43 [13]. Nur der dem Freisinn nahestehende Landesverband freier Schweizer Arbeiter verzeichnete eine Zunahme seiner Mitglieder um 1,4 % [14]. In seinem Referat am Gewerkschaftskongress erblickte der Präsident des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes, Nationalrat Wüthrich, die Gründe des Mitgliederschwundes vor allem im Desinteressement der jungen Generation und der ausländischen Gastarbeiter, ferner in einer gewissen Gewerkschaftsfeindlichkeit jüngerer, neoliberal gesinnter Unternehmer. Die Gewerkschaften hatten schon früher, freilich vergeblich, von den Nichtorganisierten gefordert, sie hätten für die ihnen von den Gewerkschaften gebotenen, aber nicht honorierten Vorteile Solidaritätsbeiträge in ihre Kassen zu entrichten. Denn unter dem Regime der Allgemeinverbindlichkeit seien sie Nutzniesser der Gesamtarbeitsverträge, die ohne Gewerkschaften nicht abgeschlossen würden. Anstelle dieser eher abschreckenden Zwangsmassnahme postulierte nun der Schweizerische Gewerkschaftsbund, um die Mitgliedschaft in seinen Reihen anziehender zu machen, es seien den Organisierten Sonderrechte zu gewähren; etwa in Form von materiellen Vorteilen, die ihnen von Unternehmern (Besserstellung innerhalb der Gesamtarbeitsverträge) und vom Staat (z. B. Abzug der Mitgliederbeiträge bei den Steuern) eingeräumt werden müssten [15]. Eine materielle Besserstellung aller Arbeiter strebt der Landesverband freier Schweizer Arbeiter an, wenn er in seinem neuen Sozialprogramm die Beteiligung am Betriebserfolg verlangt [16]. Aber auch gegenüber der Variante der Sonderrechte wurden Einwände nicht nur von Arbeitgeber- [17], sondern auch von gewerkschaftlicher Seite erhoben. Am Luzerner Kongress erklärten Opponenten den Prestigeverlust der Gewerkschaften mit ihrem gouvernemental-bürokratischen Gehaben und forderten eine Anpassung der veralteten gewerkschaftlichen Struktur an die veränderte Zeit, etwa im Sinne grösserer Aktivierung der Mitglieder [18]. Nach der Ansicht von Prof. E. Schweingruber wäre das gesuchte Ziel übrigens auf weniger anfechtbare Weise auch dann zu erreichen, wenn für die Organisierten paritätische, d. h. von beiden Sozialpartnern gemeinsam verwaltete, moderne Wohlfahrtseinrichtungen bereitgestellt würden (Ferienheime, Freizeit- und Bildungszentren, Massnahmen für Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie usw.) [19].
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E.G.
 
[10] Vgl. oben S. 108-115.
[11] Über die Verhandlungen des schweizerischen Gewerkschaftskongresses vom 13./14. Oktober in Luzern vgl. NZZ, 4368, 14.10.66; 4396, 15.10.66; 4418, 17.10.66; NZ, 480, 17.10.66; Gewerkschaftliche Rundschau, 58/1966, Heft 11.
[12] Gewerkschaftliche Rundschau, 58/1966, Heft 11; ferner NZZ, 5583, 25.12.66.
[13] NZZ, 1828, 26.4.66; 1898, 29.4.66.
[14] NZZ, 172, 14.1.66.
[15] Gewerkschaftliche Rundschau, 58/1966, S. 328 f.; Vat., 31, 7.2.66. S. auch oben S. 108.
[16] NZ, 519, 9.11.66; NZZ, 4919, 15.11.66.
[17] NZZ, 2715, 20.6.66, mit dem Hinweis, dass der angespannte Arbeitsmarkt eine materielle Diskriminierung der Aussenseiter nicht zulasse; Zürcher Woche, 15, 15.4.66 (Trumpf Buur).
[18] NZ, 480, 17.10.66.
[19] Ebenda. Über das Referat von Prof. Schweingruber am Kongress des VHTL (Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter) anfang Juni vgl. Bund, 214, 6.6.66.