Année politique Suisse 1966 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
 
Kernenergie
Der Bundesrat nahm in seinem Bericht über den Ausbau der Elektrizitätsversorgung auf ein vom Nationalrat 1963 erheblich erklärtes Postulat Bächtold (LdU, BE) Bezug, in welchem um Prüfung des Einsatzes der Atomenergie zur Vermeidung eines Engpasses in der Energieversorgung ersucht worden war [22]. Der Bericht stellte fest, dass das Atomenergiegesetz von 1959 dem Bund keine Kompetenzen zu einer eigentlichen Atomkraftwerkpolitik verleihe. Somit beschränkte er sich auf eine Orientierung über die Lage; er sprach von Fühlungnahmen des VED mit der Elektrizitätswirtschaft, in denen eine verstärkte Koordination angeregt worden war. Es wurde der Elektrizitätswirtschaft empfohlen, angesichts der raschen Entwicklung periodisch die Lage zu überprüfen und eine Orientierung der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Auf einen Antrag zur gesetzlichen Erweiterung seiner Kompetenzen auf dem Gebiet der Atomkraftwerke — wie auch auf demjenigen der Rohrleitungen — verzichtete der Bundesrat mit Rücksicht auf die im Parlament seinerzeit getroffenen Entscheide ausdrücklich. Einzig in der Frage der Konzessionierung von Pumpspeicherwerken wurde auf Grund einer Motion von Ständerat Rohner (rad., SG) aus dem Jahre 1965 [23] eine neue rechtliche Grundlage erwogen. Im Bund wurde diese Zurückhaltung als Distanzierung des neuen Chefs des VED, Bundesrat Gnägis, von der interventionistischen Tendenz seines sozialdemokratischen Vorgängers Spühler interpretiert [24].
In engem Zusammenhang mit dem « Sprung in die Atomenergie » steht die Frage eines schweizerischen Reaktorbaus und seiner Förderung durch den Bund [25]. In dieser Frage konnte noch keine Entscheidung getroffen werden. Wohl hat sich eine Gruppe der bedeutendsten Elektrizitätsunternehmungen des Landes dem Bund gegenüber verpflichtet, einen einheimischen Atomkraftwerktyp anzuschaffen, falls er nicht wesentlich teurer zu stehen komme und im übrigen den ausländischen Produkten entspreche. In der Industrie ist jedoch noch keine Einigung auf einen gemeinsam zu entwickelnden Reaktortyp gelungen, und der Bundesrat will nur für einen einzigen Typ den Einsatz umfangreicherer Bundesmittel in Betracht ziehen. Während der Markt zurzeit von dem in den USA entwickelten Leichtwasserreaktor beherrscht wird — für Beznau wie für Mühleberg ist die Verwendung dieses Typs beschlossen worden [26] — wird.in der Schweiz an der Entwicklung eines Reaktors der «zweiten Generation» (sog. fortgeschrittene Konverter) gearbeitet, wobei es namentlich um eine bessere Ausnützung des Urans als Brennstoff geht. Im Vordergrund stand bisher — im Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung in Würenlingen wie beim Versuchsreaktorbau der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NGA) in Lucens — der schwerwassermoderierte Druckrohrreaktor, der im Unterschied zum Leichtwasserreaktor kein stark « angereichertes » Uran benötigt; angereichertes (d. h. eine stärkere Konzentration des Isotops Uran 235 enthaltendes) Uran, das auch für die Herstellung von Wasserstoffbomben von Bedeutung ist, kann einstweilen nur aus den USA bezogen werden [27]. Im OECD-Gemeinschaftsunternehmen « Dragon » in Winfrith (Grossbritannien) sowie durch die Zusammenarbeit der Firma Brown, Boveri & Cie (BBC) mit Krupp in Deutschland hat die schweizerische Technik jedoch noch einen andern Konvertertyp, den gasgekühlten Hochtemperaturreaktor kennengelernt. BBC will nun diesen Typ entwickeln, während die in der NGA führende Firma Sulzer am Schwerwasserreaktor festhält. Bereits wurden übrigens Zweifel geäussert, ob der fortgeschrittene Konverter wirklich noch mit einer lohnenden Nachfrage werde rechnen können und ob die schweizerische Industrie nicht gleich zur dritten Stufe, zum sog. Brutreaktor, übergehen solle, der mehr Spaltstoff erzeugt, als er verbraucht, und deshalb nach seiner Inbetriebsetzung nur noch gewöhnliches Uran oder Thorium benötigt; da dieser Typ namentlich in den USA gefördert wird, wurde eine Zusammenarbeit mit amerikanischen Firmen empfohlen [28].
Im Februar sah sich der Bundesrat infolge einer neuen Kostenschätzung für die Vollendung und Erprobung des Versuchskraftwerks Lucens veranlasst, den eidg. Räten noch einmal zusätzliche Kredite im Gesamtumfang von 19 Mio Fr. zu beantragen [29]. Dabei ging es nicht nur um eine Weiterführung der 50prozentigen Beteiligung des Bundes an den Kosten für den begonnenen Versuchskraftwerkbau, sondern auch um die finanzielle Sicherstellung des Forschungs- und Entwicklungsprogramms der NGA, das die Unterlagen für die Konstruktion eines marktreifen Produkts liefern soll. Die Vorlage trug dem Streit um den Reaktortyp insofern Rechnung, als sie dessen Wahl — ungeachtet der bisherigen Privilegierung des von der NGA bevorzugten Schwerwasserreaktors — offen liess und nicht ausschliesslich für die NGA Bundesbeiträge vorsah; die Botschaft anerkannte auch die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit dem Ausland. Der Kredit wurde von beiden Räten oppositionslos gutgeheissen, wobei freilich verschiedene Votanten betonten, dass dadurch kein Präjudiz für eine künftige Subventionierung der Reaktorentwicklung geschaffen werden dürfe. Im Nationalrat wurde ein Antrag Tschopp (k.-chr., BL), die Entwicklungssubvention allein der NGA vorzubehalten, abgelehnt, nachdem der Bundesrat zugesichert hatte, dass « auf weite Sicht » nicht zwei Reaktorentwicklungen nebeneinander unterstützt werden sollten [30]. Beide Räte überwiesen aber eine Motion von Nationalrat Wartmann (rad., AG), die vom Bundesrat « beförderlich » ein detailliertes Programm für die subventionierten Entwicklungsstudien sowie eine Darlegung seiner Reaktorförderungskonzeption verlangte [31].
Ein am Jahresende verabschiedeter, im Januar 1967 veröffentlichter Bericht des Bundesrates enthielt diese Konzeption noch nicht. Eine Aufforderung des VED an den Vorort und die NGA, Vorschläge zur Reaktorentwicklung zu unterbreiten, hatte nur eine Übergangslösung gezeitigt, nach der zur weiteren Abklärung der Reaktorfrage noch bis Ende 1967 die Studien über beide Typen weitergeführt werden, und zwar im Rahmen der bereits bewilligten Bundeshilfe. Der Bundesrat deutete seine Bereitschaft zu einer Subvention von 100 Mio Fr. an, machte deren Ausrichtung aber von einer Einigung der Industrie über den zu entwickelnden Typ abhängig [32]. Im Hinblick auf die Möglichkeit, dass der Bund sich schliesslich selber zur Wahl des Reaktortyps veranlasst sähe, sind Anregungen zur Bildung eines unabhängigen konsultativen Energiewirtschaftsrates oder einer Ständigen nationalrätlichen Kommission für Atomenergie von Interesse [33].
Angesichts der Schwierigkeiten, von ihren Mitgliedern die zur Vollendung des Versuchskraftwerks Lucens erforderlichen Summen zu erhalten, fasste die NGA eine direkte Unterstützung durch die ostschweizerischen Industriekantone ins Auge und ersuchte den Kanton Zürich um einen Beitrag von 3 Mio Fr. Dieser Beitrag wurde vom Zürcher Regierungsrat befürwortet und vom Kantonsrat bewilligt [34].
 
[22] ASW, 1963, S. 151.
[23] NZZ, 4159, 6.10.65; 5426, 16.12.65.
[24] Bund, 16, 12.1.67. In der NZZ (124, 11.1.67) wurde dagegen ein Bedauern des Bundesrates über seine geringen Kompetenzen aus dem Bericht herausgehört.
[25] Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates in BBI, 1967, I, S. 205 ff.; ferner Bericht über Handel und Industrie der Schweiz im Jahre 1965 sowie Mitteilungen über die im Vereinsjahr 1965/66 vom Vorort behandelten Geschäfte, S. 186 ff.; BN, 77, 19./20.2.66; SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 171 f. S. auch unten S. 120.
[26] GdL, 178, 3.8.65; NZZ, 3668, 2.9.66.
[27] Ein entsprechendes Abkommen mit den USA vom 30.12.1965 wurde von den eidg. Räten im März 1966 ratifiziert (Sten. Bull. NR, 1966, S. 3 u. 279; Sten. Bull. StR, 1966, S. 55 u. 134); Text in BBl, 1966, I, S. 17 ff. Das Abkommen sah im Unterschied zur früheren Regelung eine Übertragung der Verwendungskontrollrechte der USA an die Internationale Atomenergie-Organisation vor.
[28] Bund, 370, 22.9.66.
[29] BBI, 1966, I, S. 189 ff.
[30] Debatte im NR am 17.3., 21.3. und 21.6.1966 (Sten. Bull. NR, 1966, S. 137 ff. u. 360), im StR am 7.6.1966 (NZZ, 2512, 7.6.66). Beschluss in BBI, 1966, I, S. 1208 f.
[31] NZZ, 2736, 21.6.66; 4079, 27.9.66.
[32] BBI, 1967, I, S. 205 ff.
[33] Vgl. zum Energiewirtschaftsrat NZ, 466, 9.10.66, und THEODOR OBRIST, Ziele und Möglichkeiten schweizerischer Energiewirtschaft zu Beginn des Atomzeitalters, Diss. St. Gallen, Winterthur 1966, S. 226 ff.; eine ständige Atomenergiekommission wurde von NR Bürgi (rad., SG) vorgeschlagen, allerdings unter Betonung der Hauptverantwortung der Privatwirtschaft (Sten. Bull. NR, 1966, S. 149).
[34] BBI, 1966, I, S. 195; NZZ, 3154, 20.7.66; 5280, 5.12.66. Die westschweizerischen Industriekantone haben als Mitglieder einer der in der NGA zusammengeschlossenen Gruppen wiederholt direkte Beiträge geleistet, die deutschschweizerischen Industriekantone nur indirekte (über Kraftwerkgesellschaften oder Kantonalbanken) (NZZ, 3154, 20.7.66).