Année politique Suisse 1967 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
 
Kernenergie
In der Reaktorentwicklung kam es nach längerer Ungewissheit zu einer teilweisen Klärung. Der zu Beginn des Jahres vom Bundesrat als Antwort auf die von den eidgenössischen Räten überwiesene Motion Wartmann veröffentlichte Bericht über die schweizerische Reaktorpolitik war noch auf Abwarten eingestellt, da die beiden führenden Unternehmungen Sulzer und Brown Boveri an verschiedenen Konzeptionen arbeiteten, der Bundesrat aber nur einem einzigen Entwicklungsprojekt umfangreichere finanzielle Unterstützung zu geben bereit war. Im übrigen sagte der Bericht eine Weiterführung des Eidg. Instituts für Reaktorforschung in Würenlingen zu und befürwortete auch die Fortsetzung der schweizerischen Beteiligung an internationalen Gemeinschaftsunternehmen in der Reaktortechnik. Die Gewährung von Beiträgen an den Betrieb des Versuchskraftwerks von Lucens machte er jedoch vom Interesse der Elektrizitätswirtschaft und der Industrie an einer Betriebsaufnahme abhängig [16].
Die Wendung brachte eine Erklärung des Verwaltungsratspräsidenten G. Sulzer an der Generalversammlung der Gebrüder Sulzer AG vom 8. Mai, dass seine Firma mit Brown, Boveri & Cie (BBC) darin einig gehe, dass die Entwicklung eines schweizerischen Reaktortyps aussichtslos sei [17]. Die Reaktion in der Presse war Enttäuschung auf der einen, bittere Genugtuung auf der andern Seite; dazu erging die Aufforderung, das Mögliche zu leisten, sei es durch innerschweizerischen Zusammenschluss mit Bundesunterstützung oder durch Zusammenarbeit mit dem Ausland [18]. Präziser kam die Haltung der an der Reaktorproduktion interessierten Kreise im Verlaufe von Hearings zum Ausdruck, welche die Nationalratskommission, die den Reaktorbericht des Bundesrates vorzuberaten hatte, am 17./18. Mai in Merligen durchführte [19]. Während Sulzer die Absicht bekanntgab, sich auf den Bau von Bestandteilen zu beschränken, kündigte BBC nun doch die Entwicklung eines eigenen Reaktortyps an, wobei allerdings die Bedeutung der Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern nicht verschwiegen wurde; vom Bund wünschte die Firma keine Entwicklungssubvention, sondern eine Ausfallgarantie in der Höhe von etwa 100 Mio Fr. pro Reaktor zur Deckung der Lieferungsrisiken [20].
Das Versuchskraftwerk von Lucens verlor unter diesen Voraussetzungen seine Bedeutung als Versuchsanlage für die Entwicklung des bisher von Sulzer und der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NGA) geplanten Reaktortyps. Aus den Kreisen der in der NGA vertretenen Industrie- und Elektrizitätsunternehmungen wurde zwar die Inbetriebnahme des Versuchsreaktors befürwortet, doch hatte die NGA Mühe, selbst für einen bloss zweijährigen Betrieb ihren Anteil (50 %) an den erforderlichen Mitteln aufzubringen. Der Bundesrat erklärte sich im Juni bereit, nach bisheriger Praxis die andere Hälfte beizusteuern [21].
Auf weitere Sicht trat für eine schweizerische Mitarbeit an der Reaktorentwicklung deutlich die Ausrichtung auf die 3. Reaktorgeneration, die sogenannten schnellen Brutreaktoren, in den Vordergrund, wobei allerdings kaum mehr an einen Alleingang gedacht wurde [22]. Ein vom Eidg. Institut für Reaktorforschung aufgestelltes Tätigkeitsprogramm betonte seinerseits den Vorrang entsprechender Studien. Es wurde auch erwogen, die Anlagen von Lucens nach Möglichkeit dem neuen Forschungsziel dienstbar zu machen.
Die eidgenössischen Räte nahmen den Reaktorbericht des Bundesrates im Herbst zur Kenntnis, wobei namentlich Kritik an der Industrie, weniger an der Elektrizitätswirtschaft und am Bundesrat geübt wurde. Im allgemeinen herrschte die Ansicht, dass die Schweiz die Reaktorforschung fortsetzen sollte; Anträge wurden jedoch keine gestellt [23]. Der Bundesrat unternahm darauf die ersten Schritte zu einer neuen Etappe: im November ergab eine Konferenz mit Vertretern der interessierten Wirtschaftskreise die Befürwortung einer engen Koordination unter den schweizerischen Industriefirmen sowie einer Einordnung der neuen Anstrengungen in einen internationalen Rahmen; für eine solche lagen bereits verschiedene ausländische Angebote vor, die geprüft werden sollten [24]. Das Eidg. Institut für Reaktorforschung vereinbarte im Dezember ein einjähriges gemeinsames Studienprogramm für gasgekühlte Brutreaktoren mit der amerikanischen Firma Gulf General Atomic [25]. In organisatorischer Hinsicht wurde eine Anregung aus dem Nationalrat aufgenommen, die auf eine Reorganisation und Zusammenfassung der zahlreichen Gremien abzielte, welche sich von Bundes wegen mit Atomfragen befassen [26].
Die Bemühungen um eine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie, wie sie bereits seit Jahren im Rahmen der OECD stattfindet [27], schienen im Frühjahr eine engere Verbindung mit Schweden zu zeitigen. Nach seiner Rückkehr aus Stockholm stellte Bundesrat Spühler am 3. Februar ein baldiges Abkommen in Aussicht; dessen Vorbereitung dienten weitere Verhandlungen mit einer schwedischen Delegation im März. Sie führten jedoch vor Jahresende noch zu keinem konkreten Ergebnis [28].
 
[16] BBI, 1967, I, S. 205 ff.; vgl. dazu SPJ 1966, S. 74.
[17] NZZ, 2012, 8.5.67.
[18] Bund, 141, 9.5.67; GdL, 106, 9.5.67; 108, 11.5.67; Lb, 106, 10.5.67; Tat, 109, 10.5.67; TdG, 111, 13.5.67; Vat., 111, 16.5.67; NZ, 220, 17.5.67.
[19] Vgl. zum Folgenden die Berichterstattung im NR (Sten. Bull. NR, 1967, S. 400 ff.); über die Hearings ferner NZZ, 2185, 19.5.67.
[20] Vgl. dazu Präsidialadresse M. Schmidheinys an der Generalversammlung der BBC vom 14.7.67 (NZZ, 3046, 14.7.67; BN, 295, 15./16.7.67). Die Entwicklungsarbeiten der BBC gelten wie die bisherigen Studien der Firma Sulzer einem Reaktortyp der 2. Generation (fortgeschrittene Konverter, die den Brennstoff Uran besser ausnützen als die heute gebräuchlichen Leichtwasserreaktoren der 1. Generation); während jedoch Sulzer sich auf den schwerwassermoderierten Druckrohrreaktor verlegt hatte, plant BBC den Bau eines gasgekühlten Hochtemperaturreaktors, der 1970 lieferbar sein soll.
[21] Sten. Bull. NR, 1967, S. 431. Die Energie de l'Ouest Suisse bekundete im Herbst ihr Interesse an einer Übernahme des Betriebs des Versuchskraftwerkes.
[22] Vgl. u.a. Informationstagungen im Mai (Bund, 143, 11.5.67, u. 145, 14.5.67) und im November (NZZ, 5126, 29.11.67).
[23] Debatte des NR vom 26./27.9.67 (Sten. Bull. NR, 1967, S. 400 ff.), des StR vom 4.10.67 (Sten. Bull. StR, 1967. S. 311 ff.).
[24] NZZ, 4751, 8.11.67. Über die ausländischen Angebote vgl. Erklärung Bundesrat Gnägis im NR am 27.9.67 (Sten. Bull. NR, 1967, S. 430). Von besonderer Bedeutung sind die am Jahresende bekanntgewordenen Kontakte zwischen BBC und der North American Rockwell Corp. sowie die Anfang 1968 vereinbarte Zusammenarbeit zwischen BBC und Sulzer (Bund, 18, 23.1.68; NZZ, 107, 18.2.68).
[25] NZZ, 5250, 6.12.67.
[26] Vgl. Äusserungen der Berichterstatter der NR-Kommission vom 26.9.67 (Sten. Bull. NR, 1967, S. 405 u. 409) sowie Tagung der Eidg. Kommission für Atomenergie vom 8.12.67 (NZZ, 5338, 11.12.67).
[27] Am 2.3.67 genehmigte (nach dem StR), auch der NR die Weiterführung der schweizerischen Beteiligung an den OECD-Gemeinschaftsunternehmen Halden (Norwegen) und Dragon (in Winfrith, Grossbritannien), die beide auf Reaktortypen der 2. Generation ausgerichtet sind, sowie die Ermächtigung des Bundesrates zur Vornahme weiterer Verlängerungen auf dem Budgetwege (NZZ, 885, 2.3.67; vgl. dazu SPJ 1966, S. 121, Anm. 32).
[28] NZZ, 466, 3.2.67; 1297, 26.3.67. Vgl. auch oben S. 40. Erst am 14.2.68 kam es zur Unterzeichnung eines Abkommens mit Schweden über die Zusammenarbeit auf. dem Gebiet der friedlichen Verwendung der Atomenergie (BBI, 1968, I, S. 933 ff.).