Année politique Suisse 1967 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Krankenversicherung
In der Krankenversicherung verschärfte sich die Problematik, die durch gesteigerte Ansprüche der Versicherten, rapide Zunahme der Behandlungskosten und andauernde Spannungen zwischen Kassen und Ärzteschaft bestimmt wird. Zur Eingabe des Christlichnationalen Gewerkschaftsbundes vom Vorjahr, an die im Juni eine Interpellation Nationalrat Trottmanns (k.-chr., AG) neu erinnerte [24], gesellten sich weitere Forderungen. So wurde in einer vom Konkordat der schweizerischen . Krankenkassen herausgegebenen Schrift ein die ganze Bevölkerung umfassendes Obligatorium, die unbefristete Vergütung auch der Spitalkosten, die Einbeziehung der Zahnpflege und ausserdem ein Verdienstersatz für niedrigere Einkommen postuliert; zur Finanzierung waren Arbeitgeber- und Arbeitnehmerprämien bis zu je 3 % des Lohnes, durch die auch die Familienangehörigen gedeckt werden sollten, vorgesehen, ferner die Übernahme der Kassendefizite und der Prämien Bedürftiger durch die öffentliche Hand sowie ein Ausgleichsfonds [25]. Die Konkordatsleitung, die im November über die ganz unerwartet hohe Kostensteigerung orientierte und auf 1968 massive Prämienerhöhungen der einzelnen Kassen ankündigte, stellte sich nur zum Teil hinter die erwähnten Postulate [26]. Ein weiterer in der Öffentlichkeit diskutierter Vorschlag betraf die Aufhebung der kleinen Kassen [27]. Von Ärzteseite wurde eine fühlbare Erhöhung von Selbstbehalt und Franchise als Voraussetzung für eine finanzielle Gesundung der Kassen bezeichnet [28].
Der Bundesrat wandte sich gegen Jahresende mit einer Umfrage an die Kantone und Interessenverbände, um die Wünschbarkeit einer Totalrevision der Krankenversicherung abzuklären [29]. Bereits im Sommer verfügte er eine Neuregelung der Kostenbeteiligung der Kassenmitglieder: auf Wunsch der Krankenkassen wurde zur Behebung von Rechtsungleichheiten die Franchise für alle Versicherten obligatorisch erklärt, der Minimalbetrag aber herabgesetzt und die Möglichkeit zu Abstufungen gegeben [30].
In den Kantonen Zürich, Obwalden, Nidwalden, Freiburg, Baselstadt, Baselland und Genf herrschte während des ganzen Jahres der vertragslose Zustand [31]. In Baselstadt und Genf verschärfte sich die Lage noch, indem die Mehrzahl der Ärzte sich kassenunabhängig erklärte und den von der Regierung verfügten Rahmentarif nicht mehr anerkannte. Dabei stand in beiden Kantonen die Forderung der Ärzte nach sozial abgestuften Tarifen im Vordergrund. Der Regierungsrat von Baselstadt setzte unverzüglich auf Grund des eidgenössischen Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes den Kreis der Versicherten fest, der weiterhin Anspruch auf Behandlung nach dem kantonalen Tarif hatte; in Genf unterblieb dagegen eine entsprechende Massnahme [32].
 
[24] NZZ, 2823, 28.6.67.
[25]JEANNE FELL-DORIOT, Die schweizerische Krankenversicherung an einem Wendepunkt, Solothurn 1967. Vgl. ähnliche Vorschläge des Mouvement populaire des familles (La sécurité par la solidarité, Maladie, accident, maternité, Genève 1967) und des Präsidenten der Fédération genevoise des caisses de maladie, R. Berthoud, in PS, 288, 13.12.67, u. 289, 14.12.67; Obligatorium und Arbeitgeberbeiträge verlangte auch die Partei der Arbeit (NZZ, 5233, 5.12.67). Eine 1966 von der nach Peking orientierten «Organisation der Kommunisten » lancierte Volksinitiative für eine obligatorische Kranken-, Zahnpflege-, Unfall- und Mutterschaftsversicherung mit öffentlicher Bundeskasse erreichte die erforderliche Unterschriftenzahl nicht (Octobre, 21, 15.7.67; NZ, 409, 5.9.67; vgl. auch SPJ 1965, in SPJW, 6/1966, S. 201, ferner unten, S. 155).
[26] NZZ, 5012, 23.11.67. Vgl. auch NZ, 543, 23.11.67; TdG, 276, 24.11.67; Bund, 314, 28.11.67; NZZ, 5267, 6.12.67.
[27] La Suisse, 298, 25.10.67; 315, 11.11.67; PS, 283, 7.12.67; 292, 18.12.67; 296, 22.12.67.
[28] NZZ, 2, 3.1.68.
[29] NZZ, 100, 14.2.68.
[30] AS, 1967, S. 1029 f. Vgl. dazu NZZ, 1983, 6.5.67; 2958, 7.7.67.
[31] Vr, 6, 9.1.68.
[32] In Baselstadt wurde für etwa 65 % der Steuerpflichtigen der Tarifschutz verfügt. Vgl. zu Baselstadt: NZ, 244, 31.5.67; 295, 30.6.67; 308, 7.7.67; zu Genf: JdG, 156, 7.7.67; 159, 11.7.67; GdL, 164, 17.7.67; 166, 19.7.67; 169, 22./23.7.67.