Année politique Suisse 1968 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Krankenversicherung
In der Krankenversicherung spitzte sich die finanzielle Krise weiter zu, trotz steigenden Bundeszuschüssen [59] und anschwellenden Prämien. Die auf einen Vorstoss des CNG hin erfolgte Umfrage des Bundesrates [60] rief einer regen öffentlichen Diskussion mit sehr widersprüchlichen Diagnosen und Rezepten für den «kranken Zweig der Sozialversicherung». Eine Totalrevision wurde ausser vom CNG vor allem vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, vom Krankenkassenkonkordat, von den Sozialdemokraten und vom Landesring als notwendig erachtet [61]. Grundsätzlich abgelehnt wurde sie von keiner Seite, doch teilten die bürgerlichen Parteien die Auffassung der Ärzteschaft, es sollten erst weitere Erfahrungen und Unterlagen auf Grund der eben vollzogenen Teilrevision von 1964 gesammelt werden, bevor an eine grundlegende Neuordnung gedacht werden könne [62]. In der Diskussion über die Ursachen der « Kostenexplosion » wurde einerseits auf die aussergewöhnliche Verteuerung der Spitalpflege hingewiesen [63]: hier machen sich die Wandlungen beim Pflegepersonal, namentlich die ständige Abnahme der Zahl der Diakonissen, sowie die allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Spitaldienst bemerkbar; ungünstig wirkt sich ausserdem der Mangel an geeigneten Heimen für Chronischkranke aus, wodurch diese genötigt sind, teure Spitalbetten zu besetzen [64]. Anderseits wurde die Zunahme des « Konsums » im Zusammenhang mit der allgemein verlängerten Lebenserwartung und dem damit verbundenen Überhandnehmen der Alterskrankheiten hervorgehoben; auch die rapide Zunahme der Fälle von psychosomatisch bedingten Leiden soll eine bedeutende Rolle spielen [65]. Ein weiterer Teuerungsfaktor wurde in der Verbesserung der gesetzlichen Minimalleistungen durch die Teilrevision von 1964 gesehen [66]. Der gegenwärtigen Krankenversicherung wurde zum Vorwurf gemacht, dass sie mit ihren direkten und indirekten Staatsbeihilfen einer breiten Mittelschicht, welche ausreichende Prämien zu zahlen vermöchte, über deren Bedürfnisse hinaus zugute komme, den finanziell schwächsten Teil der Bevölkerung dagegen, der ungenügend oder überhaupt nicht versichert sei, leer ausgehen lasse [67]. Insbesondere wurde beanstandet, dass die Schweiz immer noch am System der Einzelversicherung festhält, da hiedurch die Familien stärker belastet werden [68]. Die Errichtung eines Bundesobligatoriums für die Krankenversicherung wurde vor allem in Gewerkschaftskreisen verlangt, wobei man sich freilich darüber nicht einig war, ob das Obligatorium die gesamte Bevölkerung erfassen oder ob wirtschaftlich sehr gut gestellte Kreise von ihm ausgenommen sein sollten [69]. Das Postulat eines Obligatoriums für die volle Krankenversicherung stiess aber weitherum auf entschiedenen Widerspruch, insbesondere von seiten der Ärzte. Die Gegner verwiesen namentlich auf den grundsätzlichen Unterschied zur AHV mit ihrem objektiv feststellbaren Eintritt des Versicherungsereignisses; bei der Krankenversicherung wiegt das subjektive Ermessen vor, sowohl von seiten des Patienten, wann er sich krank fühlt, als auch von seiten des Arztes, wie weit er mit seinen Anordnungen gehen will. Oft wurde dabei der britische nationale Gesundheitsdienst als abschreckendes Beispiel zitiert [70]. Gegen einen allfälligen Ausschluss der Bestsituierten wurde eingewendet, dass durch einen solchen gerade die höchsten Einkommen von Solidaritätsleistungen entbunden würden und dass ein ungünstiger psychologischer Effekt auf die Zwangsversicherten zu befürchten wäre [71]. Hingegen erntete das vor allem von Ärzteseite vorgeschlagene Teilobligatorium für grosse Risiken (namentlich auch für die Mutterschaft) weitreichende Zustimmung sowohl unter Freunden wie unter Gegnern eines Vollobligatoriums. Dabei sollten sowohl die Abstufung der Prämien als auch die Definition des versicherten Grossrisikos entsprechend den Möglichkeiten des einzelnen Versicherten individuell vorgenommen werden [72]. Als vorläufige Sanierungsmassnahme wurde von Ärzten und von Rechtskreisen die Ausklammerung der Bagatellfälle durch Erhöhung der Franchise gefordert. In beiden Räten wurden jedoch entsprechende Postulate jeweils gleich durch Gegenpostulate für eine Aufhebung der Franchise neutralisiert [73]. Eine Forderung der BGB nach Ausdehnung der Franchise auf die Minderjährigen kollidierte ausserdem mit den erwähnten Forderungen zur Entlastung der Familien [74]. Auch die Krankenkassen widersetzten sich dem Ausbau der Franchise [75].
In der Frage um das Arztrecht und die Tarifgestaltung stand eine Lösung noch nicht in Sicht. Der vertragslose Zustand dauerte in den Kantonen Zürich, Obwalden, Nidwalden, Freiburg, Baselstadt, Baselland und Genf an; vom 1. August an herrschte er auch in der Waadt. Gespräche waren aber im Gang [76]. Ein administrativer Fortschritt wurde erzielt durch die Gründung des « Office pharmaceutique de facturation et d'encaissement» (OFAC) in Genf, das auf einem zwischen Apotheken und Kassen abgeschlossenen Arzneilieferungsvertrag basiert und die Verrechnung erleichtert [77].
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F.K.
 
[59] 1964: 115 Mio Fr.; für 1969 sind 332 Mio Fr. veranschlagt (Bund, 300, 22.12.68). '
[60] Vgl. SPJ, 1967, S. 114.
[61] NZZ, 553, 8.9.68; 605, 1.10.68; 710, 15.11.68; Ostschw., 208, 7.9.68; NZ, 401, 31.8.68; Tat, 169, 20.7.68; Bund, 139, 17.6.68; J. BACHMANN in Gewerkschaftliche Rundschau, 60/1968, S. 240.
[62] NZZ, 2, 3.1.68; 424, 12.7.68; 536, 30.8.68; 570, 16.9.68; 35, 17.1.69; NBZ, 85, 10.4.68; vgl. auch Bund, 300, 22.12.68.
[63] 1950-1966 stieg der allgemeine Index von 100 auf 141,4, der Index des Spitalpflegetages aber von 100 auf 260 (Bund, 2, 4.1.68).
[64] Verhandl. B.vers., 1968, IV, S. 27 f. (Jaggi, soz., BE); Vat., 74, 27.3.68; NZZ, 787, 19.12.68.
[65] Bund, 15, 19.1.68.
[66] NBZ, 85, 10.4.68 (Sozialpolitische Kommission der BGB); NZZ, 633, 14.10.68; vgl. auch JEANNE FELL-DORIOT, Die schweizerische Krankenversicherung an einem Wendepunkt, Solothurn 1967, S. 14 ff.; PIERRE GYGI/PETER TSCHOPP, Sozialmedizinische Sicherung, Bern-Stuttgart 1968, S. 101 f.; ferner NZ, 401, 31.8.68.
[67] Tat, 83, 8.4.68; Bund, 168, 21.7.68; gk, 31, 15.8.68.
[68] Vat., 74, 27.3.68; Ostschw., 209, 9.9.68; NZZ, 605, 1.10.68 (Pro Familia); vgl. ferner J. FELL, a.a.O., S. 32 f.
[69] gk, 31, 15.8.68; J. BACHMANN in Gewerkschaftliche Rundschau, 60/1968, S. 240 ff.; Bund, 128, 4.6.68 (Angestelltenverbände); Tat, 169, 20.7.68 (Landesring); NZZ, 710, 15.11.68 (Pro Familia); NZ, 401, 31.8.68.
[70] HANS BIRKHAUSER, « Kann eine umfassende Sozialversicherung alle ärztlichen Dienstleistungen garantieren?» in Schweizer Monatshefte, 48/1968-69, S. 331 ff.; NBZ, 85, 10.4.68; Tw, 43, 21.2.68 (Pressekonferenz der Berner Krankenkassen und der Arzte); NZZ, 424, 12.7.68; Schweizerische Ärztezeitung, 39, 25.9.68 (über den britischen Gesundheitsdienst).
[71] NZ, 401, 31.8.68; Tat, 169, 20.7.68; NBZ, 85, 10.4.68.
[72] GYGI/TSCHOPP, a.a.O., S. 102 f.; WILD SIEORISr, « Neuordnung der Krankenversicherung », in Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung, 12/1968, S. 257 ff., BN, 539, 20.12.68 (Ärzteverbindung); NZZ, 35, 17.1.69; Bund, 300, 22.11.68; Verhandl. B.vers., 1968, IV, S. 29 (Motion NR Martin, rad., VD, als Postulat überwiesen); JdG, 268, 15.11.68 (Pro Familia); Tat, 83, 8.4.68; 269, 12.11.68 (Vereinigung für Sozialpolitik); NZ,401, 31.8.68; Bund, 300,22.11.68.
[73] BN, 16, 11.1.6$; Tw, 43, 21.2.68; Tat, 83, 8.4.68; NZZ, 2, 3.1.68; 241, 19.4.68; Verhandl. B.vers., 1968, IV, S. 23, 37, 45 (Postulate Fischer, BGB, BE, und Trottmann, k.-chr., AG, im NR sowie Munz, rad., TG, und Lusser, k.-chr., ZG, im StR); vgl. NZZ, 749, 3.12.68.
[74] NBZ, 85, 10.4.68.
[75] Bund, 15, 19.1.68; 139, 17.6.68; Tw, 20.8.68.
[76] Vereinbarungen über die Durchführung des vertragslosen Zustandes wurden in der Waadt und in Genf getroffen (NZZ, 35, 17.1.69); zur Waadt vgl. GdL, 161, 12.7.68; 197, 23.8.68; 201, 28.8.68; 224, 25.9.68. Vgl. auch SPJ, 1967, S. 114 f.
[77] Die Kantone Tessin, Wallis, Neuenburg und Genf machen noch nicht mit (Tat, 258, 2.11.68; 269, 15.11.68).