Année politique Suisse 1969 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
 
Totalrevision der Bundesverfassung
In dem oben skizzierten politischen Klima ging die Materialsammlung der Arbeitsgruppe Wahlen, die vom Bundesrat 1967 zur Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung eingesetzt worden war, zu Ende [11]. Ein entschiedener Befürworter der Revision stellte enttäuscht fest, dass es der Aktion nicht gelungen sei, eine Grundwelle konstruktiver Reformdiskussionen auszulösen und damit die Bewegung der «ausserparlamentarischen Opposition» aufzufangen, und dass ein guter Teil der politischen und wissenschaftlichen Prominenz passiv geblieben sei [12]. Ein dem « Establishment » ferner stehender Kritiker erklärte den Mangel an Interesse damit, dass der Bürger nicht den Eindruck habe, er könne die wichtigen Entscheidungen wirklich beeinflussen; er machte geltend, dass sich das von Max Imboden 1964 als « Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel » charakterisierte « Malaise », von dem noch die Motionäre Obrecht und Dürrenmatt ausgegangen seien, inzwischen radikalisiert habe, und er warnte davor, die Diskussion auf organisatorisch-funktionelle Fragen zu beschränken und staatliche Zielsetzungen und gesellschaftspolitische Aufgaben auszuklammern [13]. Demgegenüber gab Prof. K. Eichenberger in seiner Rektoratsrede an der Basler Universität zu bedenken, dass der heutige Mensch auf den Leistungsstaat nicht zu verzichten bereit sei und dass Leistungsstaat und Demokratie nur in einem Kompromiss verbunden werden könnten, woraus sich die Unbrauchbarkeit ideologischer Konzepte ergebe [14].
Die bei der Arbeitsgruppe eingegangenen Meinungsäusserungen haben unterschiedlichen Umfang wie auch unterschiedliches inhaltliches und politisches Gewicht. Die Kantone reichten zum Teil Berichte von einberufenen Kommissionen, zum Teil eigentliche Vernehmlassungen der Regierungen ein. Einzelne Gremien stützten sich bei der Formulierung auf Ergebnisse von Umfragen [15], andere urteilten mehr aus Expertensicht. Die Auffassungen über die Notwendigkeit und Wünschbarkeit einer Totalrevision waren geteilt; viele Eingaben bevorzugten den Weg über einzelne Partialrevisionen. In der Presse erschienen zusammenfassende Berichte über die wichtigeren Stellungnahmen, die jedoch selten eine öffentliche Diskussion auslösten [16]. Für 1970 ist die Veröffentlichung aller Antworten auf den Fragenkatalog der Arbeitsgruppe Wahlen vorgesehen. Auf einzelne der vorgebrachten Postulate soll im folgenden bei der Behandlung des betreffenden Sachgebiets hingewiesen werden [17].
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P.G.
 
[11] Vgl. SPJ, 1967, S. 7 ff.; 1968, S. 26 f.
[12] R. Reich in NZZ, 564, 14.9.69. Starkes Misstrauen politisch aktiver Jugendkreise kam an der Jahresversammlung der schweizerischen Jugendparlamente zum Ausdruck (NZZ, 644, 27.10.69). Ablehnend verhielt sich anderseits der Vorort (Stellungnahme des Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins zur Totalrevision der Bundesverfassung, Zürich 1969, S. 29).
[13] K. Kränzle in NZ, 282, 24.6.69; 290, 29.6.69. Vgl. dazu MAX IMBODEN, Helvetisches Malaise, Zürich 1964, S. 5, und SPJ, 1966, S. 8 f.
[14] KURT EICHENBERGER, Leistungsstaat und Demokratie, Basel 1969. Zur kritischen Haltung Eichenbergers gegenüber der Totalrevisionsbewegung vgl. dessen Aufsatz « Richtpunkte einer Verfassungsrevision » in Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F., 87/1968, 1, H. 4, S. 69 ff.
[15] So veranstaltete die Arbeitsgruppe des Kantons Aargau eine Umfrage bei der Jugend (Vat., 136, 16.6.69; BN, 252, 21/22.6.69).
[16] Eine Ausnahme bildete der Vorschlag der Universität Zürich, den Ständerat abzuschaffen (NZZ, 53, 26.1.69; 99, 14.2.69; Lb, 69, 25.3.69; 76, 2.4.69; Tat, 79, 3.4.69).
[17] Bei der Registrierung bestimmter Postulate und Stellungnahmen stützen wir uns zum Teil auf die uns vorliegenden Originaltexte, zum Teil auf Presseberichte, insbes. für die Kantone Luzern (Vat., 171, 26.7.69; 172, 28.7.69), Baselstadt (NZ, 302, 6.7.69), Baselland (NZ, 211,11.5.69; BN, 191, 10./11.5.69), Graubünden (NBüZ, 94, 3.4.69; 96, 8.4.69; 99, 11.4.69-102, 144.69), Aargau (BN, 252, 21./22.6.69), Thurgau (NZZ, 624, 15.10.69), Tessin (NZZ, 456, 28.7.69) und Genf (TdG, 205, 2.9.69; JdG, 205, 3.9.69), für die Schweizerische Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (NBZ, 109, 12.5.69), die Freisinnig-demokratische Partei der Schweiz (NZZ, 630, 19.10.69), die Konservativ-christlichsoziale Volkspartei der Schweiz (Vat., 151, 3.7.69) und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (Tw, 184, 9./10.8.69), für die Universitäten Basel (BN, 100, 8./9.3.69) und Zürich (NZZ, 53, 26.1.69) sowie die Hochschule St.Gallen (NZZ, 437, 20.7.69).