Année politique Suisse 1969 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique
Grundrechte
In der allgemeinen Rechtsentwicklung verstärkte sich die Tendenz zur Erweiterung und Sicherung der Individualrechte. Verschiedenartige Impulse wirkten in ähnlicher Richtung: so auf der einen Seite die namentlich aussenpolitisch begründete Absicht des Bundesrates, die Europäische Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen, auf der andern das Drängen oppositioneller Kräfte nach Anerkennung handfesterer Methoden des politischen Kampfes. Dieses zweite Anliegen stimulierte freilich eine Gegentendenz, die darauf ausging, das staatliche Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wirksamer zu gestalten. Neue Probleme wurden durch die Fortschritte der Wissenschaft aufgeworfen: nach der ersten Vornahme einer Herztransplantation in der Schweiz entspann sich eine Diskussion über die Frage, wann ein Mensch tot und unter welchen Voraussetzungen sein Körper für medizinische Zwecke verfügbar sei. Zur Vermeidung einer biologischen Manipulierung des Menschen durch die Wissenschafter wurde die Errichtung einer entsprechenden demokratischen Kontrolle gefordert
[1].
Die Umfrage der Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung hatte auf die Ausgestaltung und Formulierung der
Menschenrechte besonderes Gewicht gelegt. In zahlreichen Antworten wurde die Zusammenstellung dieser Rechte in einem Katalog befürwortet. Verschiedentlich wurde — mindestens für einzelne unter den Freiheitsrechten — die sog. Drittwirkung, d. h. die Geltung nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber Privaten, postuliert. Analog zu internationalen Menschenrechtserklärungen verlangten mehrere Stellungnahmen ausser der Anerkennung von Freiheitsrechten noch eine solche von Sozialrechten (Recht auf Bildung, Wohnung, soziale Sicherheit, Arbeit, Ferien usw.); zum Teil räumten sie allerdings ein, dass es sich dabei eher um Zielsetzungen für die Gesetzgebung als um eigentlich klagbare Rechte handle
[2].
Der Bericht des Bundesrates von Ende 1968, der einen Beitritt der Schweiz zur
Menschenrechtskonvention des Europarates empfahl, in verschiedenen Punkten aber die bestehende schweizerische Rechtsordnung vorbehielt (insbesondere in den Fragen des Frauenstimmrechts, der konfessionellen Ausnahmeartikel und der administrativen Einweisung in Anstalten)
[3], stiess auf eine doppelte Opposition. Auf der einen Seite wandten sich namentlich Frauenorganisationen gegen einen Beitritt unter Vorbehalten. Sie machten geltend, dass der Ausschluss der weiblichen Bevölkerung vom Stimmrecht eine so schwerwiegende Beschränkung darstelle, dass er nicht einfach durch einen Vorbehalt ausgeklammert werden könne; es wurde auch darauf hingewiesen, dass eine Unterzeichnung den moralischen Druck, den die Konvention ausübe, wegfallen liesse
[4]. Auf der andern Seite wurde der Einwand erhoben, mit einem Beitritt zur Konvention werde in verschiedenen Punkten, zu denen der Bundesrat keine Vorbehalte anzubringen gedenke, internationales Recht, ja sogar eine internationale Gerichtsinstanz anerkannt, was einer Revision der Bundesverfassung sowie eidgenössischer und kantonaler Gesetze gleichkomme; in diesem Zusammenhang wurde gewünscht, dass man die Beitrittsfrage dem Referendum unterstelle
[5].
Die Opposition der Frauenkreise gegen einen Beitritt mit Vorbehalten kam nicht nur auf Tagungen und in Eingaben zum Ausdruck, sondern auch in einer Demonstration, die am 1. März auf dem Berner Bundesplatz stattfand. Um tumultuarischen Entwicklungen, wie sie nach Vorfällen an zwei Frauenstimmrechtskundgebungen in Zürich erwartet werden konnten, aus dem Wege zu gehen, verzichteten freilich massgebende Frauenorganisationen auf ihre Beteiligung und begnügten sich mit einer Kundgebung im Berner Kursaal. Die Demonstration vor dem Bundeshaus, an der immerhin einige tausend Personen teilnahmen, verlief ohne ernsthafte Zwischenfälle
[6]. Der Bundesrat ermächtigte Bundespräsident von Moos, bei der Beantwortung der schon im Sommer 1968 eingereichten Motion Tanner (LdU, ZH), die am 5. März im Nationalrat erfolgte, noch für das laufende Jahr eine neue eidgenössische Frauenstimmrechtsvorlage anzukündigen
[7]. Zu einem solchen Schritt wardie Landesregierung bereits auch durch sozialdemokratische Stimmen, die eine Volksinitiative für die politische Gleichberechtigung der Frau erwogen, herausgefordert worden
[8].
Es gelang dem Bundesrat nicht, beide eidgenössischen Räte dazu zu bewegen, von sinem Bericht über die Menschenrechtskonvention zustimmend Kenntnis zu nehmen. Der Nationalrat tat dies zwar, wenn auch mit knappem Mehr, nicht aber der Ständerat, der im gleichen Stimmenverhältnis blosse Kenntnisnahme beschloss
[9]. Von den Fraktionen entschieden sich nur die sozialdemokratische und die konservativ-christlichsoziale für Zustimmung. In der Opposition vereinigten sich « Avantgardisten der Menschenrechte» Mit «Kunktatoren », wie sie der Sprecher der Radikaldemokraten bezeichnete
[10]. Beide Räte überwiesen aber eine Motion, die dem Bundesrat den Auftrag zur Unterbreitung von Vorlagen erteilte, die eine Anpassung der schweizerischen Rechtsordnung an die Grundsätze der Konvention ermöglichen würden, insbesondere über die Einführung des Frauenstimmrechts und die Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel
[11]. Dadurch wurde der Regierung in der Frage der Menschenrechte der Weg über innenpolitische Massnahmen gewiesen; ein Vertreter des EPD gab gegen Jahresende zu verstehen, dass der aussenpolitische Schritt erst nach einem neuen parlamentarischen Vorstoss weiterverfolgt werden solle
[12].
[1] Zu den biologischen Problemen vgl. Bund, 86, 15.4.69; Tat, 88, 16.4.69; 91, 19.4.69; Lb, 89, 19.4.69; 96, 28.4.69; NZZ, 244, 23.4.69; 363, 17.6.69; 567, 16.9.69; vgl. unten, S. 127.
[2] Vgl. oben, S. 11, Anm. 17. Für die Aufnahme von Sozialrechten plädierten namentlich die Konservativ-christlichsoziale Volkspartei, der Landesring, die Sozialdemokratische Partei und die Partei der Arbeit.
[3] BBl, 1968, II, S. 1057 ff. Vgl. auch SPJ, 1968, S. 23 f., sowie unten, S. 42 f.
[4] Vgl. NZZ, 376, 21.6.68; 63, 30.1.69; 111, 20.2.69; 326, 2.6.69; Vr, 28, 4.2.69; Bund, 51, 3.3.69.
[5] wf, Dokumentations- und Pressedienst, 11, 17.3.69; Trumpf Buur, 165, März 1969; BN, 111, 15./16.3.69; La Gruyère, 56, 17.5.69; TLM, 164, 13.6.69; JdG, 137, 16.6.69; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 27, 4.7.69. Vgl. auch die Voten von Dürrenmatt (lib., BS) und Jaccottet (lib., VD) im NR (Sten. Bull. NR, 1969, S.326 ff. und 345 f.) sowie von Hefti (rad., GL) im StR (Sten. Bull. StR, 1969, S. 203 ff.).
[6] NZ, 79, 17.2.69; 100, 3.3.69; NZZ, 111, 20.2.69; 134, 3.3.69; Tat, 51, 1.3.69; Tw, 51, 3.3.69; Bund, 51, 3.3.69. Zu den vorausgegangenen Kundgebungen in Zürich vgl. NZZ, 697, 11.11.68; 70, 3.2.69.
[7] NZZ, 144, 6.3.69; Verhandl. B.vers., 1969, I, S. 37. Vgl. auch SPJ, 1968, S. 24.
[9] Zustimmende Kenntnisnahme mit 88: 80 Stimmen im NR am 16.6. (Debatte in Sten. Bull. NR, 1969, S. 320 ff.), blosse Kenntnisnahme mit 22: 20 Stimmen im StR am 7.10. (Debatte in Sten. Bull. StR, 1969, S. 201 ff.).
[10] So der st.gallische NR Hummler (Sten. Bull. NR, 1969, S. 338). Für einen Beitritt unter Vorbehalten plädierten auch freisinnige Stimmen (NZZ, 56, 26.1.69; 126, 26.2.69; 290, 13.5.69).
[11] Die Motion, die laut TdG, 99, 29.4.69, von NR Max Weber (soz., BE) vorgeschlagen worden war, wurde von den Kommissionen beider Räte unterstützt.
[12] Minister E. Diez an der Generalversammlung der Vereinigung für Rechtsstaat und Individualrechte (NZZ, 726, 14.12.69).
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