Année politique Suisse 1969 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Parlament
Die Schwierigkeiten, denen die
Verwaltungskontrolle durch das Parlament begegnet, wurden bei der Beratung des Geschäftsberichts einmal mehr hervorgehoben
[21]. Nationalrat Glarner (rad., GL) schlug vor, den beiden Geschäftsprüfungskommissionen über das 1967 eingerichtete Sekretariat hinaus einen vollamtlichen Kontrollapparat beizugeben, wie er für die Finanzkontrolle bereits zur Verfügung steht
[22]. An zwei Beispielen trat für eine breitere Öffentlichkeit das Ungenügen, ja die Fragwürdigkeit der bestehenden Verhältnisse zutage. In der sog. « Florida »-Affäre
[23] entspann sich eine Kontroverse darüber, ob Parlamentarier sich bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion ohne Genehmigung des Bundesrates geheime verwaltungsinteme Unterlagen beschaffen dürften. Nationalrat Hubacher (soz., BS) hatte sich im Juni in der Geschäftsberichtsdebatte über die Vorenthaltung wichtiger Informationen beschwert und dabei von vertraulichen Dokumenten Gebrauch gemacht, die ihm ein Beamter des EMD zugespielt hatte. Besonderes Aufsehen erregte es, als im Oktober der im EJPD tätige Rüstungssachverständige.E. Varrone im Zuge einer militärgerichtlichen Untersuchung, die der Aufdeckung der undichten Stelle im EMD galt, vorübergehend verhaftet wurde, und zwar auf Grund einer Abhörung von Hubachers Telephon
[24]. Als der Nationalrat zu Ende des Jahres der komplexen Angelegenheit eine Debatte widmete, verfocht Hubachers Fraktionskollege Gerwig die Ansicht, dass ein Parlamentarier unter Umständen einen Beamten zur Durchbrechung seiner Schweigepflicht veranlassen dürfe; zur Institutionalisierung einer solchen Praxis regte er an, eine besondere Delegation der Geschäftsprüfungskommission als legitime « Klagemauer » für Beamte einzusetzen. Dabei berührte er sich mit der in der Totalrevisionsdiskussion häufig erhobenen Forderung nach Einsetzung eines Ombudsman nach schwedischem Beispiel
[25]. Auf bürgerlicher Seite wurde das Vorgehen Hubachers zwar missbilligt, doch bezeichneten auch die Sprecher der Geschäftsprüfungskommission die Berichterstattung des Bundesrates über die Schwierigkeiten bei der « Florida »-Beschaffung als ungenügend
[26]. Bundesrat Gnägi rechtfertigte das militärgerichtliche Vorgehen und verwies die parlamentarische Kontrolltätigkeit auf die im Geschäftsverkehrsgesetz seit der Revision von 1966 niedergelegten Möglichkeiten; die Anregung, eine « Klagemauer » zu errichten, erklärte er immerhin für prüfenswert. Die in der Diskussion verschiedentlich aufgeworfene Frage nach dem Umfang der parlamentarischen Immunität überliess er dem Parlament selbst zur Beurteilung
[27]. Gleichfalls um eine rechtzeitige und genügende Information sowie um die Wahrung der parlamentarischen Entscheidungsfreiheit ging es im Streit um den Kauf eines Bürohochhauses am Rande der Berner City, den der Bundesrat unter ungewöhnlichen Bedingungen abgeschlossen hatte, wobei die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte ohne genügende Orientierung zur Zustimmung veranlasst worden war. In beiden Räten stiess das Vorgehen des Bundesrates auf Opposition aus verschiedenen Fraktionen; es gelang aber dem Chef des EFZD, der sich auf die Dringlichkeit des Bedürfnisses nach bundeseigenem Büroraum berief, den Kauf gegen ablehnende Anträge durchzusetzen, nicht ohne eine klarere Kompetenzregelung als wünschbar zu bezeichnen
[28].
Der Vorstoss, den die eidgenössischen Räte 1968 für eine Verselbständigung des
Sekretariates der Bundesversammlung unternommen hatten (Motion Conzett), wurde vom Bundesrat gegen Jahresende mit einem Bericht beantwortet, der einige Reorganisationsmassnahmen zur Diskussion stellte
[29]. Die angeregte Revision von Artikel 105 der Bundesverfassung, nach welchem die Bundeskanzlei zwar gemeinsames Organ von Parlament und Regierung ist, jedoch der Aufsicht des Bundesrates untersteht, wurde als noch nicht spruchreif bezeichnet; dagegen zeigte sich der Bundesrat geneigt, die Wahl des Generalsekretärs der Bundesversammlung und der Leiter der parlamentarischen Hilfsdienste den Räten übertragen zu lassen, ohne die administrative Zugehörigkeit dieser Funktionäre zur Bundeskanzlei zu lösen. Bereits im Februar, als es galt, für den demissionierenden Generalsekretär H. Brühwiler einen Nachfolger zu bestellen, hatte der Bundesrat einem parlamentarischen Wahlvorschlag, demjenigen der Fraktionspräsidenten des Nationalrates, der A. Pfister an erster Stelle genannt hatte, entsprochen. Dieses Entgegenkommen des Bundesrates gegenüber dem Verlangen des Parlaments nach grösserer Unabhängigkeit offenbarte allerdings beträchtliche interne Schwierigkeiten für eine selbständige parlamentarische Meinungsbildung in solchen Personenfragen: in den wochenlangen Konsultationen konnte keine Einigung der beiden Räte auf eine gemeinsame Nomination erreicht werden
[30].
Einen Schritt weiter gedieh die Regelung der parlamentarischen Einzelinitiative; die Anträge, die der Bundesrat gegen Ende 1968 im Rahmen einer neuen
Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes unterbreitet hatte, wurden nun vom Nationalrat durchberaten. Nach der Meinung des Bundesrates sollte die parlamentarische Initiative einen ausgearbeiteten Entwurf zum Gegenstand haben und sich nur an den Rat des Antragstellers richten; erst nach dessen Zustimmung hätte sich auch der andere Rat mit ihr zu befassen. Die Nationalratskommission ging auf Grund von Hearings mit Staatsrechtsexperten über diese Vorschläge hinaus, indem sie namentlich die Behandlung jeder Initiative durch beide Räte verlangte. Nach einer ersten Rückweisung genehmigte der Nationalrat im Oktober einen etwas differenzierteren Antrag der Kommission: danach soll sich die Initiative zwar grundsätzlich an beide Räte richten, vom zweiten Rat aber nur aufgenommen werden, wenn der erste Rat zustimmt oder wenn ein Mitglied des zweiten Rates unmittelbar nach der Ablehnung durch den ersten Rat einen Parallelantrag stellt. Ausserdem wurde auch die Möglichkeit eröffnet, eine Initiative in Form einer allgemeinen Anregung einzureichen und durch eine Ratskommission ausarbeiten zu lassen
[31].
Die Einengung des Parlaments in seiner Gesetzgebungstätigkeit durch vorparlamentarische
Vernehmlassungen wurde in einem neuen Vorstoss zur Sprache gebracht. Nationalrat Schürmann (k.-chr., SO) griff warnende Feststellungen im Richtlinienbericht des Bundesrates von 1968 auf, die auf eine Gewichtsverschiebung von den Exekutiv- und Legislativbehörden zu den Wirtschaftsverbänden aufmerksam gemacht hatten
[32], und ersuchte den Bundesrat in einer Motion um Berichterstattung über Möglichkeiten einer Institutionalisierung des Vernehmlassungsverfahrens sowie einer Stärkung der Parteien. Um die Stellungnahme der einzelnen Interessengruppen für das Parlament klarer erkennbar zu machen und das Parlament vom Verbandseinfluss zu entlasten, regte er die Einrichtung eines konsultativen Wirtschafts- und Sozialrates an, wobei er auf ausländische Beispiele hinwies
[33]. Die Wünschbarkeit einer Institutionalisierung des vorparlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, eventuell in der Form eines Wirtschaftsrates, wurde auch in mehreren Antworten auf den Fragenkatalog zur Totalrevision der Bundesverfassung bejaht, in andern dagegen bestritten
[34]. Das Echo in der Öffentlichkeit war schwach; es bezog sich insbesondere auf Schürmanns wenig populäres Begehren nach einer Aufwertung der Parteien durch gesetzliche Massnahmen
[35]. Bundespräsident von Moos, der die Motion erst ein halbes Jahr nach ihrer Begründung beantwortete, erwähnte Vorarbeiten des EJPD für eine Regelung des Vernehmlassungsverfahrens und veranlasste die Umwandlung der Motion in ein Postulat
[36]. Von Verbandsseite wurde der Kritik an der mangelnden Transparenz der vorparlamentarischen Entscheidungsphase mit einem hauptsächlich aus Gewerbekreisen unterstützten Postulat Fischer (rad., BE) begegnet, das eine möglichst umfassende Publizität befürwortete
[37].
Im Zusammenhang mit der Jurafrage war schon wiederholt die Forderung erhoben worden, dass der jurassische Landesteil des Kantons Bern einen besonderen Nationalratswahlkreis bilden solle. Nachdem in den Wahlen von 1967 die jurassische Vertretung von 5 auf 3 Ratsmitglieder zurückgefallen war
[38], hatte der separatistische Christlichsoziale Wilhelm eine entsprechende Motion eingereicht, die im März 1969 als Postulat überwiesen wurde
[39]. Nachdem sich auch die Kommission der Guten Dienste für einen jurassischen Wahlkreis ausgesprochen hatte, wurde bei den Kantonen eine Umfrage durchgeführt, wobei man nicht nur eine Speziallösung für den Berner Jura, sondern zugleich eine allgemeine Neuregelung in Betracht zog
[40]. Der Gedanke einer Aufteilung grosser Kantone in mehrere Wahlkreise fand in verschiedenen Antworten auf den Fragenkatalog zur Totalrevision der Bundesverfassung Unterstützung
[41]. Eine Änderung des Wahlmodus für die Ständekammer, der Sache der Kantone ist, wurde in Neuenburg und in Freiburg angestrebt: mit Hilfe der Volksinitiative versuchten Parteien, die vom Kantonsparlament bei der Bestellung der Ständeräte bisher nicht berücksichtigt worden waren, die Volkswahl einzuführen
[42].
[21] Votum von StR Bächtold (rad., SH) (BN, 224, 4.6.69).
[22] NZZ, 496, 14.8.69; vgl. auch Bund, 165, 18.7.69; ferner SPJ, 1967, S. 12.
[24] Bund, 245, 20.10.69; Tw, 245, 20.10.69; 246, 21.10.69; NZ, 481, 20.10.69; 488, 24.10.69; Tat, 247, 21.10.69; Lb, 245, 21.10.69; Vat., 245, 22.10.69.
[25] Interpellation Gerwig (soz., BS) im NR (Sten. Bull. NR, 1969, S. 1022 ff.). Vgl. dazu auch Lb, 254, 31.10.69; Bund, 262, 9.11.69; speziell zur Frage einer « Klagemauer » oder eines Ombudsman: NZZ, 654, 2.11.69; Ostschw., 254. 3.11.69; Tw, 259, 5.11.69; Schweizerische Beamten-Zeitung, 21, 13.11.69; vgl. auch oben, S. 11, Anm. 17.
[26] Sten. Bull. NR, 1969, S. 1013 ff. Zur Kritik an Hubachers Vorgehen vgl. auch JdG, 247, 23.10.69; Lib., 20, 23.10.69; NZ, 502, 1.11.69; GdL, 255, 1./2.11.69; NZZ, 654, 2.11.69; 659, 5.11.69; 678, 16.11.69; Lb, 261, 8.11.69.
[27] Voten Bundesrat Gnägis in Sten. Bull. NR, 1969, S. 1028 ff. u. 1040 f. Zur Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes vgl. SPJ, 1966, S. 11 f. Zur Frage der Immunität vgl. Interpellation Weisskopf (rad., BE) (Sten. Bull. NR, 1969, S. 1026 ff.).
[28] BBI, 1969, II, S. 685 ff.; Verhandlungen des StR am 23.9. (NZZ, 584, 23.9.69), des NR am 11. und 15.12. (Bund, 291, 12.12.69; 294, 16.12.69; NZZ, 724, 12.12.69; 730, 16.12.69). Vgl. ferner Bund, 228, 30.9.69; 295, 17.12.69; Lb, 224, 26.9.69; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 42, 17.10.69; NZZ, 640, 24.10.69; NZ, 573, 12.12.69; 579, 16.12.69.
[29] BBI, 1969, II, S. 1305 ff. Zur Motion Conzett vgl. SPJ, 1968, S. 12.
[30] Die Fraktionspräsidenten des NR schlugen zwei Kandidaten vor, das Büro des StR fügte diesen noch einen dritten bei, und die Rangfolge in den beiden Vorschlägen war unterschiedlich. Dem Konservativ-Christlichsozialen A. Pfister standen zwei Freisinnige gegenüber. Vgl. Bund, 30, 6.2.69; ferner NZN, 11, 15.1.69; 26, 1.2.69; NZZ, 37, 19.1.69; 65, 30.1.69; 79, 6.2.69; Tw, 32, 8./9.2.69. Zum Rücktritt H. Brühwilers vgl. BN, 466, 5.11.68.
[31] Verhandlungen des NR am 5.6. und 9.10 (Sten. Bull. NR, 1969, S. 250 ff. u. 748 ff.). Zu den Kommissionsberatungen vgl. NZZ, 74, 4.2.69; 253, 27.4.69; 539, 3.9.69; Tat, 30, 5.2.69; zur Botschaft des Bundesrates SPJ, 1968, S. 12.
[32] Vgl. SPJ, 1968, S. 10. Bei der Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes im Jahre 1966 war auf Verlangen des Bundesrates von einer Regelung des vorparlamentarischen Verfahrens abgesehen worden (vgl. SPJ. 1966, S. 11).
[33] Verhandl. B.vers., 1969, III, S. 36. Zur Begründung der Motion vgl. Vat., 68, 22.3.69; Ostschw., 69, 22.3.69; NZZ, 177, 20.3.69.
[34] Vgl. oben, S. 11, Anm. 17.
[35] Vgl. dazu unten, S. 166 f.
[36] Überweisung durch den NR am 24.9. (NZZ, 589, 25.9.69).
[37] Eingereicht am 4.6. (Verhandl. B.vers., 1969, II, S. 29).
[38] Vgl. SPJ, 1967, S. 16. Proportional zur Bevölkerungszahl des Berner Juras wäre eine 5er-Vertretung; vgl. Bund, 253, 29.10.69.
[39] Verhandl. B.vers., 1969, I, S. 41; GdL, 54, 6.3.69; NZZ, 144, 6.3.69.
[40] NZZ, 519, 25.8.69; TLM, 238, 26.8.69. Vgl. auch unten, S. 30.
[41] Vgl. oben, S. 11, Anm. 17.
[42] Einreichung einer radikalen Initiative in Freiburg: TLM, 70, 11.3.69; Lancierung einer sozialistischen Initiative in Neuenburg: PS, 111, 20.5.69.
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